Ole Engelhardt

Der Mann, der einmal einen Wal gewann


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kam ihr vor wie Kunst, die jeder anderen überlegen war, denn sie wird nicht lediglich fotografiert oder über den Kamin gehängt, sondern viel besser, unmittelbar konsumiert und damit bewusst genutzt und gespürt. Hier wurde Kunst zum Anfassen geschaffen. Sie wünschte sich, dass in ihr drin auch mehr Supermarkt wäre. Dass es einen geben würde, der mal kräftig aufräumen würde. Die wichtigen Sachen nach vorne schieben würde und die Sachen, die keiner haben will, abgelaufene Milch oder so, ganz nach hinten. Alles war so klar, so simpel und so gut. Sie zündete sich eine Zigarette an, obwohl sie genau wusste, dass sie dafür eigentlich in der falschen Reihe stand, viel zu weit weg von der Kasse. Dann flog sie raus. Und irrte weiter herum. Am dritten Kiosk an dem die beiden zufällig zeitgleich Halt machten, entdeckte sie ihn dann. Und das klopsbegleitende Bier brachte es aus ihr heraus. „Hey ich kenn dich“. Der Kanzler kannte sie auch. Sie arbeiteten noch nicht lange in derselben Firma, doch wenn Gleich und Ungleich die Welt entstehen lässt, dann ermöglicht Gleich und Gleich doch wenigstens ein Notiznehmen unter 63 Kollegen. „Was machst du hier?“, fragte der Kanzler Sandra, obwohl er sich damit auch genauso gut sich selbst hätte meinen können. Sandra überlegte kurz, aber nicht gründlich und entschied dann ehrlich zu antworten. „ Ich habe mich verlaufen.“

      „ Wo willst du hin?“

      „ Keine Ahnung. Wie gesagt, ich habe mich verlaufen, schon vor einer Ewigkeit, um genau zu sein. Das Ziel, wenn es das denn überhaupt gibt, ist soweit weg, dass ich es gar nicht mehr so richtig erkenne. Da ist vielleicht so ein Straßenschild in der Ferne, aber es regnet so stark, dass man rein gar nichts mehr davon erkennen mag.“

      „ Willst du was essen?“

      „ Ich kann nicht mehr essen.“

      „ Du auch nicht?“

      Sie machten sich auf den Weg, der ihnen weniger als klar war und doch vorgezeichnet schien. Wenn alles dunkel ist, ist eigentlich alles gleich, doch trotzdem sind alle Menschen irgendwie immer nur an diesen bestimmten Orten. Sie waren auch dort. Bestimmte Menschen an bestimmten Orten. Weg von Altona, vorbei an der Schanze, bloß weg vom Kiez, hin zum Wasser. Dem Element, in dem keiner kann, aber jeder will. Sie setzten sich auf die fiktive Parkbank und schauten auf das Wasser. Es war rein gar nichts still in dieser Zeit, sie hatten über alles möglich geredet. Momentan steckten sie in einer Diskussion über Kinder.

      „ Warum ich keine Kinder will?“, fragte er. „Ich könnte einfach sagen, weil ich Kanzler war und das einen so schweren Druck auf die Schultern befördert, dass mein Kind nur kleinwüchsig werden kann. Doch eigentlich ist es eher, weil ich glaube, ich wäre ein unglaublich schlechter Vater. Und das nur, weil ich befürchte, dass ich mein Kind irgendwann dann rumlaufen sehe und für einen Moment vergesse, dass es mein Kind ist und deshalb anstatt stolz auf es zu sein einfach nur denke, was für ein scheiß Kind das wohl ist.“

      Sie wurden betrunkener und die Themen dümmer.

      „ Hattest du damals beim Sex eigentlich son bestimmten Kanzler-Dirty-Talk? Sowas wie `gleich kommt die Kanzlermehrheit, sie ist gewaltig`“. Der Kanzler musste lachen und sagte einfach nur „ja“, die ideale Antwort, um Schlimmeres zu verhindern.

      „Personenschutz? Ja, haben sie mir angeboten. Aber ich wollte nicht. Ich glaube, meine Kanzlerschaft war zu unbedeutend, dass mich irgendwer umbringen wollte. Und jetzt… jetzt ist das schlimmste, das ich mache vielleicht einseitig bedrucktes Papier wegzuschmeißen. Nein, ich fühle mich sicher.“

      Es war mittlerweile sehr spät. Reden tötet am effizientesten und am schönsten. Sie torkelten in eine Kneipe, in der sie Mettbrötchen aßen und Kaffee tranken. Ein Frühstück am Abend.

      Über ihrer Lippe klebte ein Stück Mett.

      „Und geht es dir nun schon besser?“

      „ Wer sagt, dass es mir nicht gut ging? Ich glaube mir geht es sogar sehr gut, nur kommt das nicht an den richtigen Stellen an. Und wenn schon, nehmen mir mal an, mir ´geht es nicht gut`, du bist ja drauf, denkst du ein Mettbrötchen und schon sieht die Welt ganz anders aus? Es dauert lange ein Leben zu ändern, mehr als eine Nacht schöner Worte.“

      Der Kanzler runzelte die Stirn und überlegte einen Moment.

      „Weißt du, als Kanzler ist man verantwortlich dafür das Leben von 80 Millionen Menschen zu verbessern. 80.000.000 in 4 Jahren. Weißt du wie lange man da Zeit hat für ein Leben? Ich auch nicht.“ Er holte sein Smartphone heraus, tippte aus Versehen auf Musikplayer, der „don’t sop believing“ spielte, „sorry“, „nein schon okay“, dann rechnete er aus. „4 durch 80 Mio, das macht 0,00000005 Jahre, das sind 0,00001825 tage, das sind 0,000438 Stunden, das sind 0,02628 Minuten, das sind 1,5768 Sekunden pro Person. Also, wird’s bald?“

      Sie prustete los. Das Mettbällchen über ihrer Lippe bewegte sich entlang des Pochens ihrer Haut. Dann flog es auf den Tisch. Sie nahm es auf und steckte es sich in den Mund. Und der Kanzler blieb sitzen.

      „ Eigentlich hättest du schon froh sein müssen, als du anfingst diesem Mann von Burma zu erzählen.“

      „ Hast du mich verfolgt?“

      „ Kanzler ist wie Schiedsrichter, wir sind am besten, wenn man uns gar nicht bemerkt.“

      „ Klingt gut. Nur, du vergisst etwas, du bist kein Kanzler mehr. Du bist jetzt einer von uns. Du kannst wieder raus in die Sonne und Knoblauch essen und son Kram. Herzlich Willkommen!“

      Sie standen auf. Er bezahlte alles.

      „Bist du reich?“

      „Nein, ich bin arm. Aber ich hab Geld.“

      Es wurde schummrig, Unzeit, weder Nacht, noch Morgen, eine Zeit, die keinen Namen zu verdienen scheint. Und doch die schönste Zeit eines Tages. Sie standen auf einer Brücke und wussten, dass es Zeit zu gehen war. Sandra hatte sich in den Kopf gesetzt an das Geländer ein Schloss zu befestigen, „so wie in Paris“. Ihr Fahrrad hatte kein Schloss, ohne zu fragen, beugte sie sich vor das Rad des Kanzlers, entfernte sein Schloss und schloss es ans Geländer. „Wer klaut denn schon das Fahrrad des Kanzlers?“

      „Wusstest du, dass diese Marotte, diese Schlösser an den Brücken, nicht aus Paris kommt, sondern aus Köln. Weißt du was, wir sollten mal nach Köln fahren.“

      „Versprichst du das?“

      „ Versprochen.“

      „ Ich hoffe, das ist jetzt nicht eines euer lausigen Wahlversprechen. Ich glaub an dich. Warum lügt ihr eigentlich immer? Haltet ihr uns wirklich für so doof?“

      „Man muss lügen, die Demokratie braucht Lügen. Stell dir doch mal vor in unseren dunkelsten Zeiten. Angenommen Adolf hätte es nicht geschafft die komplette Parteienlandschaft zu eliminieren und stattdessen hätte es noch Wahlen gegeben und all die netten Demokraten hätten die Wahrheit erzählt. Hyperinflation und so. Was wäre in diesen Wahlen wohl passiert? Wer hätte sie gewonnen? Vor allem wie?

      Keiner hätte gewonnen mit der Wahrheit. Arbeitslosigkeit wird hochgehen, Ferienhaus im Osten fällt flach und sowas.

      Auch wenn die Wahrheit notwendig, wichtig und auf lange Sicht so viel besser ist, ist die Wahrheit nur die Wahrheit und nichts von dem man träumt. Die Menschen brauchen Träume und deshalb müssen wir lügen, und basierend auf diesen Träumen entstehen Realitäten.“

      Die Tür einer Kneipe öffnete sich. Ihr entwichen ein paar Sekunden schöner Musik. Sie war so ruhig und so entspannend, dass sie hofften, die Tür würde für immer offen bleiben. „ Ich habe mich immer gefragt, ob es nicht eigentlich total widersinnig ist“, sagte Sandra auf einmal, „seine möchtegern Baldfreundin oder Baldfreund in eine möglichst romantsiche Gegend zu entführen. Nehmen wir dieses Beispiel, schöne Musik, aufgehende Sonne, wunderbarer Blick auf das Ufer. Der perfekte Ort für ein Date. Aber was ist daran Besonders? Hier und jetzt wäre es doch immer schön, egal mit wem. Sollte man nicht lieber in die niedersten Sümpfe gehen, in denen eigentlich nichts schön sein kann und genau damit beweisen, dass allein die Anwesenheit dieser zwei Liebenden genug Anlass ist trotzdem etwas Schönes entstehen zu lassen? Findest du nicht?“

      Der Kanzler