Ole Engelhardt

Der Mann, der einmal einen Wal gewann


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nickst wieder dein kaum wahrnehmbares Nicken. Dann sagst du, wollen wir gehen?

      Ich nicke. Du setzt mich in ein Taxi und streichst mir mit deiner warmen Hand über meinen Oberschenkel, oder ist es nur die Spucke, die aus meinem Mund tropft? Du drückst dem Mann einen viel zu groß erscheinenden Geldbündel in die Hand. Dann bist du weg. Ich liege im Bett und starre aus dem Fenster. In völliger Stille schlafe ich ein. Nur das Zwitschern der Vögel, die den langsam beginnenden Tag einläuten. Doch das ist sehr schön.

      R一

      „PAPIERKRIEG STATT NAHOSTKRIEG“

      „DRUCKERSTAU STATT REFORMSTAU“

      Ja, ich glaube, das waren wirklich meine beiden Highlights. Zugegeben ist meine Wertung sicherlich nicht allumfassend, denn, obwohl ich selbst in dieser Branche arbeite, versuche ich so weit es möglich ist, dem regelmäßigen Studium an Tageszeiten zu entgehen. Ich bin sicher, mir sind einige Hochkaräter entgangen. Immerhin bin ich informiert darüber, dass der Kanzler unglaublicherweise seinen Kaffee selbst kocht oder dass er an seinem zweiten Tag einen Streuselkuchen ausgegeben hat - den er aber wiederum nicht selbst gebacken hat, die Recherche läuft hier noch, Mutter Kanzlerin ist momentan die wahrscheinlichste Bäckerin dieses „unglaublich leckeren Streuselkuchens“. Schlagzeilen wie diese haben mir genügt, um mir selbst zu versprechen, dass meine Berichterstattung über dieses Ereignis, was es durchaus war, ich meine, ein Kanzler fängt nicht alle Tage einen normalsterblichen Job an, dass meine Berichterstattung aber komplett seriös laufen würde. Und ich weigere mich auch immer noch zuzugeben, dass ich das mit Absicht initiiert habe. Dass ich dafür verantwortlich bin, dass der Kanzler nun Jesus ist oder Moses oder was er auch immer sein soll. Ich denke, dass im Grunde alles so läuft wie es immer läuft. Das Jetzt ist schlecht und das Früher ist besser. Den Vorgänger hochleben lassen ist nichts weiter als eine Art über das Aktuelle zu meckern. Und ja, irgendwie passte meine bescheuerte, total belanglose Story da halt rein. Im Grunde nicht mal meine Story, sondern halt nur dieser eine Satz. Es war nun einmal nichts los, die Geschichte schien stillzustehen, Fußball war auch nicht. Und irgendwas muss man ja nun mal schreiben. Wir werden ja nicht nach leeren Seiten bezahlt sondern gefüllten Zeilen. „Irgendwas über den Kanzler“ sollte es sein. Das würde die Menschen zur Zeit noch am meisten interessieren. Der anfängliche Hype war zwar auch schon langsam abgeebbt, die Menschen hatten wohl verstanden, dass auch ein Kanzler im Büro nichts anderes macht, als im Stuhl zu sitzen, aufzustehen, zu drucken, Kaffee zu trinken und ab und an etwas zu sagen, das meistens komplett bescheuert ist, aber irgendwie muss die Zeit ja rumgehen. Aber ein gewisses Restinteresse, so meinte mein Chef es erkannt zu haben, sei immer noch ganz bestimmt vorhanden.

      Ich gebe zu, ein wenig betrunken war ich auch. Und ich bin nun einmal einer dieser Melancholik – Trinker. Bei einem bestimmten Level an Alkohol, und wenn dann noch der Wind richtig weht und es gerade so dunkel ist, dass man noch die Rahmen und Schatten erkennen kann, aber nicht viel mehr, und wenn dann noch von irgendwoher schwermütiges Gitarrengesäusel herweht, dann werde ich einfach dieser klischeehafte dahinsehnende Kettcar hörende Träumer einer besseren Welt, die er versucht mit Bildern aus der Vergangenheit aufleben zu lassen. Als ich bei der zweiten Flasche Wein war und noch nicht mehr geschrieben hatte als „Text von Markus Feldenkirchen“, da sah ich dann dieses Zitat. Ich weiß nicht mal mehr aus welcher Zeitung es stammte. Irgendeine Redaktion hatte den Kanzler einige Stunden bei einem „typischen Tag“ begleitet, ihm kess „über die Schulter geschaut“ und diesen Tag dann in einen von Zitaten gespickten Artikel gepresst. Gegen Ende des Artikels las ich es. Beschrieben wurde gerade eine sogenannte Stresssituation. Der Kanzler telefonierte mit einem Kunden, angeblich dem größten der Firma, und hatte die Aufgabe ihm etwas zu verkaufen. In diese Situation hinein fragte der Reporter den Kanzler, was er denn in diesem Büro eigentlich am meisten vermisse. Der Kanzler hätte dann kurz angebunden geantwortet, dass es ihm an Bleistiften fehle. Das war eigentlich alles. Und wenn ich mir das jetzt, so ganz nüchtern, abgesehen von ein wenig Restalkohol von gestern, vorstelle, dann ist es auch nicht mehr. Und das hätte doch eigentlich auch jeder halbwegs nüchterne Leser meines Artikels sehen müssen. Dass ich, vollgepumpt mit Rotwein und Melancholie, ein Märchen gestrickt hatte, basierend auf einem dem Zusammenhang entzogenen Zitat. Der Kanzler war im Stress, wollte eine Notiz machen und brauchte dafür einen Bleistift, den er nicht fand. Das war alles. Doch mein besoffenes Hirn machte mehr daraus. Ich meinte ihn in dieser Nacht verstanden zu haben. Ich meinte verstanden zu haben, dass in diesem simplen Satz eine Botschaft an uns alle mitschwamm. Ich bildete Codes, IVEB, die ich dann selbst knackte, Ich vermisse einen Bleistift. Und aus all dem schrieb ich dann diesen Artikel. „Des Kanzlers Appell: Nieder mit der Gnadenlos-Gesellschaft“. Laut diesem Artikel appellierte der Kanzler mit dieser Aussage für eine Gesellschaft, die zweite Chancen kennen sollte. Die nicht auf dem Prinzip, „do it, or leave it“ basierte. Er hätte, schrieb ich da, ja auch nach einem Füller oder einem Edding oder so verlangen können. Aber nein, semantisch scharf doktorte ich heraus, dass er ganz bewusst, die aktuelle mediale Aufmerksamkeit wohl einkalkulierend, nach einem Bleistift verlangte. Das musste etwas zu bedeuten haben. Für mich war der Kanzler ein Held. Einer, der das Menschliche betonte, der schon nach beachtlich kurzer Zeit, die er nun in der normalen Welt verbracht hatte, das Kernproblem unserer Zeit nicht nur erkannte, nein, auch ausgesprochen hatte. Der Bleistift, schrieb ich, stehe für etwas Größeres, er wäre nur eine Allegorie. Ein Bild dafür, dass wir das BIP auch mal BIP sein lassen sollten und uns beim Einkauf in der Kasse die Zeit nehmen und geben sollten, einen netten Klönschnack zu halten. Dass der Mensch wieder über der Zahl stehen sollte. Und in allem was ich schrieb, schwang so ein „so wie früher“ – Feeling mit. Als sei all das, was ich in bunten Worten beschrieb früher auch genauso gewesen. Ich endete den Artikel in dieser Stimmung mit, „der Kanzler bewies, dass er etwas ist, das das amtierende Oberhaupt nie werden kann, er ist unser Kanzler.“ Als ich den Artikel am nächsten Morgen an meinen Chef überreichte, überflog er schnell den Text, dann sah er hoch, tief in meine Augen und schüttelte den Kopf. Er sagte nichts. Er schaute nur auf die Uhr und wusste genau wie ich, dass die Zeit nicht mehr reichen würde aus dieser Grütze auch noch etwas halbwegs Brauchbares zu machen. Der Artikel musste jetzt so in den Druck gehen. Und das tat er dann auch. Und als die Tinte noch kaum getrocknet war und meine Worte mit den ersten Kaffeeklecksen am Frühstückstisch beschmutzt waren, war etwas entstanden, das so fernab von der Realität war, wie nur irgend möglich. Eine Sympathiewelle für den ehemaligen Kanzler, der noch vor kurzer Zeit mit einem Rekordtief abgewählt wurde. Nun sei genau dieser Kanzler der Retter der Nation. Andere Magazine griffen meine Worte auf und strickten daraus weitere Fabeln. Ich war nun auf einmal der Kanzlerexperte, ein enger Vertrauter des Kanzlers, ein möglicher Biograf. Und ständig muss ich Kommentare abgeben zu dieser Scheiße, auch jetzt noch. Mittlerweile gibt es sogar schon Sekunden, in denen ich wirklich glaube, dass ich den alten Kanzler zurückhaben möchte. Als Führer dieser Rückholbewegung kommt mir das irgendwie nur anständig vor, wenn ich wenigstens einige Sekunden auch wirklich an das glaube, für das ich stehe. Aber in Wirklichkeit will ich das nicht. Und vielmehr, glaube ich, will er es selbst auch nicht. „Wie hältst du es mit dem Bleistift“ steht auf Seite 1. Hinterlegt mit dieser Blackpowerfaust, die zu einem Bleistift ummodelliert wurde. Ich habe genug davon. Mein Frankenstein, ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich blättere weiter durch die Zeitung. Es wird einfach nicht besser. Ein paar Seiten weiter wird in bunten, großen Lettern von gequälten Stars berichtet, die unmenschlich lange auf dem „Wetten Dass“ – Sofa gefesselt waren. Eine wahre Zumutung sei das. Unten rechts unter dem Artikel erzählt ein kurzer Bericht unter der Überschrift „Wieder Pampelmusa auf Lampedusa“ über einen Flüchtlingssturm aus Afrika. Ich klappe die Zeitung zu. Ich merke, die fünfte Gewalt ist heute wieder in Topform.

      A 一

      „Ich kann nicht mehr essen“, sagte sie und rührte diesem Satz widersprechend genussvoll in ihrer „Gemüsesuppe à la Carte“, in der sich für eine Gemüsesuppe ungewöhnlich viele Fleischklopse tummelten. A la Carte, das hatte sie schon längst gelernt, ist französisch und heißt nicht viel mehr als ich mach meinen eigenen Scheiß. „Wissen Sie, oder ich glaub, wir sind mittlerweile eigentlich schon beim Du oder? Ich bin Sandra. Angenehm. Also Essen ist