Kristian Winter

Die Lohensteinhexe


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bildete er sich das aber auch nur ein, wie er überhaupt in letzter Zeit seinen Sinnen nur noch wenig vertraute.

      Er stocherte mit dem Fuß im Stroh herum. Endlich spürte er einen Widerstand. Es war - ein Bein.

      Als er das darüber liegende Stroh entfernte, erkannte er eine Gestalt. Sie lag apathisch auf dem Rücken mit ausgestreckten Gliedmaßen und weit aufgerissenen, starren Augen. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihr Kopf etwas zur Seite geneigt.

      Doch sie zeigte keine Regung. Selbst als er die Laterne über ihr schwenkte, bewegte sie sich nicht.

      Ein riesiger Schrecken durchfuhr ihn. Sofort legte er den Finger an ihren Hals, stellte aber erleichtert fest, dass sie noch lebte. Ihr Gesicht war blass und eingefallen, ihr Leib ausgemergelt und voller Schmutz. Sie war bleich und wirkte völlig dehydriert. Man hatte ihr nicht mal ein Kleid gegeben. Noch immer war sie nackt und lediglich mit diesem Schafspelz bedeckt. Dieser Anblick zerriss ihm das Herz.

      Er kniete vor ihr nieder, stellte die Laterne ab und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Dann holte er die Flasche hervor und benetzte ihre Lippen mit Wasser. Sie begann sich zu regen, griff danach und trank begierig. Er begann indes, ihre geschwollenen Gelenke mit der Salbe zu behandeln und wickelte sorgsam die Leinenbinden darum.

      Dann lagerte er ihre Beine hoch, damit ihr Blut besser zirkulierte, verabreichte ihr etwas Baldrian und überstreckte den Kopf für eine bessere Atemzufuhr. Darin hatte er Erfahrung. In seinem weltlichen Leben diente er lange Jahre als Kürassier im Heer des Burggrafen und hatte dabei so manche Verletzung behandelt. Dieses kam ihm später oft zugute und brachte ihm große Achtung ein.

      Zaghaft zog er ihr Augenlid hoch. Ihre Pupillen waren geweitet, verengten sich aber im Schein der Laterne. Zweifellos war sie wach, doch nicht bei Verstand. Vielmehr befand sie sich in einer Art Delirium, redete wirr und lachte zwischendurch hysterisch. Offenbar war ihr Geist bereits verloren. Das schmerzte ihn, weil er das ahnte und nicht verhindern konnte.

      Wie lange er jetzt neben ihr saß und das ‚Ave Maria’ betete, wusste er nicht. Er tat es einfach mit dem brennenden Wunsch nach ihrer Erlösung und im festen Glauben daran.

      Und was ging ihm nicht alles durch den Kopf, entwirrte und verwirrte sich erneut, ohne dass er es fassen konnte. So muss man sich fühlen, wenn man den Verstand verliert, dachte er und betrachtete das bedauernswerte Weib zu seinen Füßen, deren ganze Schwäche darin bestand, Stärke zu zeigen, wo Schwäche verlangt war.

      Wieso konnte sie nicht gestehen, um wenigstens den Vorwurf einer hartnäckigen Boshaftigkeit zu entkräften – dem schlimmsten Indiz einer Hexe? Ihr Defensor hätte dann zweifellos Milderung für sie erwirken können.

      Fast wurde er darüber wütend. Doch plötzlich bemerkte er, wie der Irrsinn aus ihren Augen schwand und sie ihn fragend anschaute.

      Als sie ihn aber erkannte, wich sie erschrocken zurück und verkroch sich unter dem Pelz. Er versuchte, sie zu beruhigen. Doch sie begann sofort zu schlagen, zu treten und wie wild zu schreien. Selbst als er sie umfasste und mit Macht zur Besinnung bringen wollte, biss sie ihm in die Hand. Erst unter seinem starken Klammergriff, womit er sie überwältigte, kam sie allmählich zur Ruhe.

      „Dem Herrn sei es gedankt! Du bist noch nicht verloren“, stieß er aus und drückte sie erleichtert an sich.

      „Seid Ihr es, mein Fürst?“, fragte sie indes, am ganzen Leib zitternd.

      „Nein. Aber ich bin gekommen, dir Licht in deiner Dunkelheit zu geben.“

      Er überwand seinen Widerwillen, den man für gewöhnlich in Gegenwart solcher von Gott gestraften Geschöpfe empfand, und malte ihr das Kreuz auf die Stirn. „Nimm diesen Segen, meine Tochter, denn ich vergebe dir.“

      „Und ich dachte schon, Ihr habt mich vergessen.“

      „Wie könnte ich das, wo du doch so tapfer warst.“

      Sie sah ihn verwundert an. „Tapfer?“

      „Ja, wie eine Königin.“

      „Ihr treibt Euren Spott mit mir!“

      „Durchaus nicht.“

      Doch plötzlich prägte sich ein vollkommenes Entsetzen in ihre Züge. Ein krampfhaftes Zucken lief über ihr Gesicht. Beschwörend hob sie die Hände und brach in ein Weinen aus. „Warum sagt Ihr mir das? Wieso kommt Ihr her, wenn Ihr mich hasst?“

      „Ich hasse dich nicht!“ Er umklammerte ihre Hände und versuchte, sie zu beruhigen. „Ich habe dich nie gehasst, und für mich bist du auch keine Hexe. Aber wenn alle Welt gegen dich ist, bin selbst ich machtlos. Das Tribunal will dich brennen sehen und ich werde es nicht verhindern können. Aber ich verspreche dir, du wirst nicht leiden.“

      „Nicht leiden?“ Verwunderung weitete ihre Augen. „Wie meint Ihr das?“

      „Ich tue, was ich für richtig halte, und jetzt frage nicht weiter. Es wird schnell gehen. Ich verspreche es!“

      Seine Worte zeigten Wirkung. Das Entsetzen wich aus ihrer Miene, obwohl sie ihn noch immer ängstlich ansah, sichtlich bemüht, ihn zu verstehen.

      Dann aber streckte sie ihm zaghaft die Hand entgegen, als wolle sie sich von seiner Tatsächlichkeit überzeugen, und endlich umspielte auch ein erstes schüchternes Lächeln ihre Lippen.

      Stumm sah sie ihn an, immer wieder mit dem selben quälenden Zweifel und den gleichen schweren Gedanken. Bald schlug sie die Augen nieder, bald erfasste sie ihn mit einem schnellen, durchdringenden Blick. Erneut streckte sie die Hand nach ihm aus und berührte ihn. „Wirklich, mein Fürst, Ihr seid es.“

      Der Magister war irritiert.

      „Warum nennst du mich dauernd Fürst?“

      „Seid ihr denn keiner?“

      „Nein. Wie kommst du darauf?“

      Und wieder verhärteten sich ihre Züge.

      Da verlor er die Beherrschung, packte sie an den Schultern und rüttelte sie. „Marie Schneidewind, Tochter des Joseph und dessen Frau Magda Gräber! Was redest du für einen Unsinn? Ich bin es, der Magister Daniel Titius, hiesiger Camerarius und dein Ankläger! Ich bin gekommen, dir zu vergeben!“

      Sie sah ihn verständnislos an. Dann aber schien sie den Sinn dieser Worte zu erfassen. „Vergeben? Ihr meint, dann werde ich nicht im Fegefeuer schmoren?“

      „Nein.“

      „Wieso seid Ihr Euch so sicher?“

      „Weil ich für dich beten werde.“

      „Das würdet Ihr tun?“

      „Ja, für dich werde ich es tun, und ich bin gewiss, dass mich Gott erhören wird.“

      Da fiel sie ihm um den Hals und begann zu schluchzen. Dabei redete sie allerlei Unverständliches. Aber es war mehr ein Lachen und Weinen zusammen, durchbrochen von zusammenhanglosen Worten und Erklärungen. Jetzt verlor sie auch alle Scheu, wurde unerwartet vertraulich und zwirbelte während des Redens sogar die Spitze seines Bartes um ihren Finger. Dabei schmollte sie wie ein Kind, das sich für eine Dummheit schämt.

      Er war verwundert. Es behagte ihm nicht, dass sie ihn plötzlich duzte und ‚ihren Erlöser‘ nannte, auch nicht, dass sie ihm dabei so schamlos nahe kam.

      Was hat sie vor?, dachte er. Sie treibt Narren mit mir, will mich einlullen und für ihre Zwecke missbrauchen.

      Doch im selben Moment lachte er darüber, denn wie sollte sie dazu in der Lage sein. Sie war nicht mehr bei Verstand und sah in ihm etwas, was er gar nicht war, womöglich den Leibhaftigen selbst. Absurde Vorstellung.

      „Küss‘ mich“, forderte sie ihn plötzlich auf und riss ihn aus seinen Gedanken. „Das willst du doch die ganze Zeit.“

      „Du bist von Sinnen“, antwortete er und wich erschrocken zurück.

      „Ja, aber küss‘ mich trotzdem.“

      Der Magister schwieg eine Weile, als