Markus Vieten

Doktor Robert


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Sterbehilfe auseinandersetzen. Unter seinen Kollegen wurde es gerne gemieden. Jeder kochte da sein eigenes Süppchen. Doch jetzt, wo er es einmal getan hatte, war es, als stünde es mit Großbuchstaben auf seiner Stirn.

      Krott hatte es einfach gefordert, als hätte er ein Recht darauf. Lucas war stinksauer. Er knallte die Tür seines Wagens zu und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

      Er hasste es, herumkommandiert zu werden. Er war der Arzt. Der Patient hatte sich nach ihm zu richten und nicht umgekehrt. Außerdem hatte er keinen Bock, sich strafbar zu machen. Mit der Rahn war das etwas Anderes gewesen. Das war spontan, von einem Moment auf den anderen. Aber das hier wäre eine geplante Geschichte mit richtiger Vorbereitung. Vorsatz, kein Affekt, wenn es so etwas bei Sterbehilfe überhaupt gab.

      Sein Vorgänger hatte es schließlich auch nicht gemacht. Ihm gegenüber war Krott sicher nicht so frech geworden. Wahrscheinlich hielt er ihn für einen Grünschnabel, der vor ihm kuschen würde. Aus Krotts greiser Perspektive mochte das ja so sein, aber so ließ Lucas nicht mit sich umspringen. Er lamentierte eine Weile gegen das Autoradio an. Dann beruhigte er sich etwas. Was sollte er tun?

      Am ersten Stopplicht überlegte er, dass sich die Frage in ein paar Wochen sowieso erledigt hatte. Man konnte Geld darauf setzen, dass Krott den nächsten Jahreswechsel nicht mehr erleben würde, aber keiner der bei Verstand war, würde dagegen halten.

      Doch bereits an der zweiten roten Ampel zog der Hai wieder durch seinen Verstand. Daa-damm, daa-damm, da-damm, da-damm, dadamm-dadamm…! Doch Lucas wollte mehr. Er gab dem Hai,der sein Maul weit aufgerissen hatte, um ihn zu verschlingen einen Hieb auf die Nase (das hatte er mal in einem Survival-Buch gelesen), und er drehte ab. Lucas wollte der Herr über seine Gedanken und Fantasien sein, nicht ihr Spielball. Und der Gedanke, den autoritären Greis mit Gewalt ins Jenseits zu befördern, war keine üble Fantasie. Ein wenig Demut stünde ihm sicher ganz gut zu Gesicht, bevor er seinem Schöpfer gegenübertrat. Allerdings eignete sich ein erfüllter Wunsch nur schlecht als Denkzettel, so bizarr er auch war.

      Als Lucas schließlich endgültig im Feierabendstau feststeckte und es weder vor- noch zurückging, gab er sich den Gedankenspielen hin. So etwas wie bei der alten Rahn ginge nicht. Sie war allein und schwach gewesen. Krott hingegen war zwar todkrank, aber im Vergleich viel stärker. Er würde in der Agonie reflexartig um sich schlagen, wenn man ihm ein Kissen aufs Gesicht drückte. Außerdem wäre seine Frau zumindest in der Nähe, was diesen Plan undurchführbar machte. Man würde also auf einen tödlichen Medikamentencocktail zurückgreifen, wie es bei der Sterbehilfe in anderen Ländern gemacht wird. Ein Barbiturat oder Insulin in entsprechender Dosierung wäre wohl geeignet.

      4

      Als er zuhause ankam, war das Haus dunkel und verlassen. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel für ihn. „Bin beim Yoga, der Salat steht im Kühlschrank. – Kuss“. Lena hatte darunter ergänzt: „Schieb dir lieber gleich `ne Pizza rein. Ich bin im Kino und um 11 zurück“.

      Lena blieb immer öfter abends länger weg, normal in ihrem Alter. Dadurch würde er zwangsläufig häufiger mit Pia allein sein. Das hieß auch, er brauchte dringend weitere Hobbys. Das wöchentliche Bowling war schön und gut, aber einfach zu wenig.

      Lucas haute sich rasch ein paar Stücke Putenbrust in die Pfanne und öffnete seine Post. Dann schenkte er sich ein Glas Rotwein ein, legte die Putenstücke zu dem Salat und klickte sich während des Essens durch eine Nachrichtenseite. Der Salat war gar nicht so schlecht, wie Lenas Kommentar hatte vermuten lassen, doch Pia konnte ihr derzeit gar nichts recht machen.

      Nach dem Essen trieb es ihn hinab in den Keller in sein Arbeitszimmer. Früher hatte er einmal ein hübsches Zimmer unter dem Dach mit schöner Aussicht gehabt. Aber als Lena größer wurde, hatte er es ihr abgetreten. Sie brauchte in dem Alter einfach mehr Platz für sich. Er war ohnehin den ganzen Tag außer Haus und in ein paar Jährchen, würde sein altes Dachzimmer wohl auch wieder frei werden. Jetzt standen ein kleiner Schreibtisch, seine Fachliteratur und der PC in einem kleinen Kellerraum, den sie eigentlich als Gästezimmer hatten umbauen lassen.

      Er nahm das Glas und die angebrochene Flasche mit und holte ein paar dicke Fachbücher hervor. Darunter auch ein altes Buch von seinem Vater, ein richtiges Schätzchen der Rechtsmedizin mit wirklich gruseligen Bildern. Sein Vater hatte ihm irgendwann nach der Auflösung seiner Chirurgiepraxis alle Bücher vermacht, und ein paar hatte Lucas tatsächlich aufgehoben. Er las über Erstickungstod und Gifte, Letaldosen und Totenzeichen, Agonie und Leichenschau. Die meisten Themen konnte er nur anreißen, doch mit jeder Seite wuchs seine Faszination. Aus diesem Blickwinkel hatte Lucas die Medizin noch nie richtig betrachtet.

      Eine Entscheidung nahm Formen an. Er würde Krott helfen. Warum sollte er ihn unnötig leiden lassen? Der Mann hatte keine Chance mehr und keine Aussicht auf Besserung. Seine letzten Tage oder Wochen – das war abzusehen – würden eine einzige Qual. Und was Krotts Pöbeleien anging, würde er einfach darüber stehen. Er betrachtete diese Aufgabe von nun an als medizinische Herausforderung. Einen derart aufregenden Ablauf wie bei Frau Rahn hatte er nicht zu erwarten. Bei Insulin oder einem Barbiturat in einer Infusion würde Krott friedlich wegdämmern und nie mehr aufwachen.

      Lucas konzentrierte sich jetzt auf die Barbiturate für Herrn Krott. Diese waren stärker als einfache Schlafmittel. Krott würde keine Schmerzen spüren, sondern einfach nur einschlafen. Der Blutdruck würde dann in den Keller gehen und es käme zum Sauerstoffmangel mit Atem- und Herzstillstand. Im Internet fand Lucas für das Barbiturat seiner Wahl die Angaben für die erforderliche tödliche Dosis. Eigentlich war es ganz einfach. Er konnte die Aktion bereits beim nächsten Besuch durchführen.

      Nach einem weiteren Glas Wein sah Lucas kurz entschlossen in Krotts Akte nach der Telefonnummer und rief ihn an. Seine Frau nahm ab. Im Hintergrund hörte er den Fernseher.

      „Hier ist Doktor Robert, guten Abend Frau Krott. Könnte ich noch einmal ihren Mann sprechen, bitte?“

      „Ja, einen Moment. ich sehe mal nach, ob er schläft.“

      Lucas hörte Türen, leises Gemurmel. Sie reichte ihrem Mann das Telefon.

      „Ja“, meldete sich Krott schläfrig und schlecht gelaunt.

      „Hier ist Doktor Robert. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich mich um Ihren Wunsch gekümmert habe. Wir können es übermorgen machen, wenn Sie bereit sind. Vielleicht möchten Sie ja erst noch das Eine oder Andere regeln.“

      Einen Moment lang hörte Lucas nur Krotts angestrengtes Atmen. Wahrscheinlich bedeutete er seiner Frau, den Raum zu verlassen. Dann hörte Lucas durch das Telefon das Schließen einer Tür.

      „Nein, nein, da gibt es nichts zu regeln. Ich bin bereit. Aber wehe, Sie kneifen!“

      „Gut, ich werde eine Infusion mitbringen. Das ist am sichersten. Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich keine Zeugen dabei haben möchte.“

      „Ich schicke meine Frau weg. Wann werden Sie da sein?“

      „Ich bin um Viertel nach Sechs bei Ihnen.“

      „Und nehmen Sie was, das nicht wehtut. Man hat mich lange genug unter Schmerzen gelassen!“

      „Nein, nein. Sie werden einschlafen, träumen und nicht mehr aufwachen“, sagte Lucas ruhig.

      „Hoffentlich träume ich nicht von meiner Frau“, sagte Krott und legte auf.

      Lucas nahm noch einen Schluck und lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück. Das mit dem Träumen hatte er sich ausgedacht. Aber wer wusste das schon so genau.

      In zwei Tagen sollte es also passieren. Er hätte sich selbst belügen müssen, um sich die Aufregung darüber nicht einzugestehen. Es würde weniger spektakulär verlaufen als bei Frau Rahn, aber die Vorstellung ließ ihn von diesem Moment an nicht mehr los.

      Wenig später hörte er Pia an der Haustür. Das vernehmliche Plumpsen der Sporttasche verriet ihre Erschöpfung. Irgendwann hatte Lucas begriffen, dass Yoga auch anstrengend sein konnte.

      „Ich bin hier unten!“, rief er und war sich sicher, dass sie nicht