Markus Vieten

Doktor Robert


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muss noch arbeiten und gleich kommt meine Ex.“ Das klang ungewollt klagend.

      „Sie Ärmster“, sagte Heike im Gehen wie zu einem kleinen Kind, das quengelte. Ganz schön frech, aber auch süß dabei. Die Mischung hatte ihm bei der Einstellung gefallen. Trotzdem wollte er auch mal über seinen Führungsstil nachdenken.

      Die Beiden waren noch nicht ganz zur Tür hinaus, als Ann und Tim eintrafen. Tim war jetzt vierzehn. Er ging voran, streckte die Hand aus und sagte „Hi, Dad“. Schlecht synchronisiert, dachte Lucas. Wieso sagt der Junge „Hi, Dad“?

      „Wieso sagst du „Hi, Dad“?“ fragte er gereizt.

      „Nur so´n Film“, sagte Tim und zuckte mit den Schultern.

      Lucas versuchte nicht zu sagen, dass er wohl wieder ein Stück gewachsen war, auch wenn es unverkennbar war. Tim wandte sich ab. Pia, die hinter Tim stand, zuckte mit den Schultern und umarmte Lucas. Tim schlenderte mit beiden Händen in den Hosentaschen durch das offene Wartezimmer. Er verhielt sich wie ein verwöhnter Teenager. Lucas wurde für ihn immer mehr zu einem netten Onkel.

      „Du siehst gut aus“, sagte sie. Lucas war überrascht. Wenn hier jemand gut aussah, dann war sie es. Lucas konnte kaum den Blick von ihr lassen. Er hatte sie einst wirklich geliebt, das wusste er jedes Mal, wenn er sie sah. Sie war die Lebenslust in Person, der Typ Frau, der in einem offenen Cabrio mit Haartuch und Sonnenbrille an der Cote d‘Azur von einer Cocktailbar zur nächsten unterwegs war. Jetzt trug sie einen leichten Mantel, der ein paar Tropfen abbekommen hatte, ihr braunes Haar legte sich prächtig um ihre Schultern. Sie war vielleicht manchmal etwas überdreht, und in 20 Jahren würde er sie wahrscheinlich eine alte, hysterische Kuh schimpfen, aber jetzt musste er schlucken.

      „Du siehst auch gut aus“, sagte er. Aber das war zu hölzern geraten. „Ich meine, wow, du siehst toll aus!“ Er schaukelte ein wenig einladend mit den Armen. Ann überging das.

      „Wir sind heute Abend auf dem 60. meines Onkels. Eigentlich wollte ich nicht kommen, hab´ mich dann aber kurzfristig umentschieden.“

      „Komisch“, sagte Lucas, während er seinen Kittel auszog, „ist doch sonst nicht Deine Art.“

      Ann verstand die kleine Spitze, aber sie kokettierte auch gerne mit ihrer Sprunghaftigkeit.

      Er sah die ganze Bagage vor sich: ihren feisten Onkel, der sich beklagte, wenn seine Aktien plötzlich hunderttausend Euro an Wert verloren, ihren Bruder Alex, ein Tagedieb wie aus einem alten Film, der nichts zu Wege brachte und auf Papas Erbe wartete, und nicht zu vergessen der schwuchtelige und waaahnsinnig begabte Neffe von Ann, der sicherlich wieder einen Auszug aus seinem neuesten Bühnenstück vortragen durfte. Lucas hatte immer das Gefühl gehabt, für diese Familie nicht gut genug zu sein. Ann gegenüber hatte er sich gerne über sie lustig gemacht, aber gegen die kühle, aristokratische Arroganz, die sie verströmten, konnte er sich nur schwer zur Wehr setzen. Eigentlich war es ganz praktisch, dass er sich dem ewigen „Na, wie läuft´s?“ nicht mehr aussetzen musste. Er war sich mit seiner Feld-, Wald- und Wiesenpraxis immer wie ein Eisverkäufer im Fußballstadion vorgekommen.

      Sie ließ den Blick durch die Praxis schweifen.

      „Immer noch eine hübsche kleine Praxis. Aber ein frischer Anstrich täte auch mal ganz gut, oder?“ Das war schon die Retourkutsche. Lucas zuckte mit den Schultern. Wann tat ein neuer Anstrich nicht gut!? Alles eine Frage des richtigen Zeitpunkts.

      „Dass du immer noch im weißen Kittel in der Praxis herumläufst...“ Sie schmunzelte, oder verkniff sie sich bloß ein Lachen? „Ich kenne überhaupt keinen Arzt mehr, der einen Kittel trägt.“

      „Dann darfst du eben nicht nur zum Psychiater gehen. Ich schlage vor, du gibst diesen Kittel mal in die Mikrobiologie zur Untersuchung. Dann kennen die Ärzte ohne Kittel dich bald auch nicht mehr. Diese Dinge haben einen Sinn!“ Wieder musste er sich ihr gegenüber aufplustern wie ein Gockel, er konnte nicht anders.

      „Sei doch nicht gleich eingeschnappt“, sagte sie, „War doch nicht bös´ gemeint. – Lass uns über etwas anderes reden. Wir wollten doch einen trinken gehen... Zur Einstimmung! Wie wär´s mit dem Stich“, sagte sie unternehmungslustig. Sie freute sich auf den Abend, Lucas gab es sozusagen als Vorspiel, aber er stimmte zu. Um diese Zeit war das Café Stich noch gähnend leer. Der Name klang nach einem Ort, wo ältere Damen Strickmuster tauschten. Tatsächlich war es ein Szene-Treff, besonders spät abends, wenn der Diskothekenbetrieb begann. Ann war hier Stammgast und tanzte auch heute noch gerne die ganze Nacht. Sie hatte dort immer mehr hingehört als er.

      Weil Ann und Tim mit dem Taxi gekommen waren, übernahm Lucas die Fahrt, die in die Stadt hinein eine knappe Viertelstunde dauern würde. Als er die Praxis hinter sich abschloss und sich in den Wagen setzte goss es wie aus Kübeln. Die Scheibenwischer hatten selbst auf höchster Stufe ihre liebe Müh und Not, und das herabströmende Wasser erlaubte kaum klare Sicht durch die Frontscheibe. Wenn gerade kein Wagen vor ihm war, konzentrierte Lucas sich auf den Mittelstreifen im Scheinwerferlicht, um die Spur zu halten.

      Als er durch eine überspülte Unterführung fuhr, glaubte er plötzlich, am Straßenrand ein Gesicht gesehen zu haben, das ihn angeblickt hatte, nur für den Bruchteil einer Sekunde, wie ein Gespenst. Hatte da jemand gestanden?

      „Hast du den gesehen!?“

      „Alter! Da liegt ne dicke Maschine voll im Graben“, sagte Tim.

      Es gab an dieser Stelle in unmittelbarer Nähe der Autobahnauffahrt keinen Bürgersteig und auch keinen Fußweg. Hatte sich jemand untergestellt? Aber irgend etwas war seltsam gewesen. Lucas setzte den Blinker und fuhr rechts heran. Es gab nur einen spärlichen Seitenstreifen, weil die Straße in ein Waldstück mündete.

      „Sah unheimlich aus“, sagte Ann.

      „Ich werd mal nachsehen“, sagte Lucas, hielt sich notdürftig die Jacke zu, während er aussteig.

      Er lief durch den Regen das kurze Stück entlang der Straße zurück zu der Unterführung. Ein paar Autos kamen ihm entgegen. Im Scheinwerferlicht wurde Lucas bewusst, wie nass er in jeder weiteren Sekunde wurde. Seine Schuhe hatten sich längst den Wassermassen gebeugt.

      Schemenhaft erkannte er in der Unterführung eine Gestalt und verlangsamte seinen Schritt. Lucas fragte sich, ob es gefährlich sein könnte, aber vielleicht brauchte die Person Hilfe. Es war ein Mann. er trug Motorradkleidung und blieb völlig regungslos stehen. Er stand einfach dort am Straßenrand. Die Lederjacke zierten allerlei martialische Symbole, in der Rückenmitte prangte ein Totenkopf. Lucas war unmittelbar vor ihm. Wäre alles in Ordnung gewesen, hätte er eine Regung gezeigt.

      „Hallo!“, rief Lucas ihn durch den Regen an, doch der Mann bewegte sich nicht. Vielleicht stand er unter Drogen, das war nunmehr noch die günstigste Annahme. Wahrscheinlicher war ein Schock nach einem Unfall. Tim hatte ja eine Maschine im Straßengraben gesehen. Lucas blickte sich um. Ein Helm war weit und breit nicht zu sehen.

      „Hallo“, rief Lucas erneut. Er streckte den Arm aus und berührte den Mann, doch der starrte nur weiter geradeaus. Er konnte durchaus schwere innere Verletzungen haben, auch wenn er hier so scheinbar ruhig stand. Lucas stellte sich in sein Blickfeld und versuchte, seinen Blick auf sich zu ziehen.

      „Können Sie mich hören? Sind Sie verletzt?“ Lucas sah sich etwas ratlos um. Der Mann, vielleicht Mitte 20, so weit in dem Sauwetter erkennbar leicht ungepflegt, kurzes, mittelblondes Haar, bärtiges Gesicht, bewegte ein wenig den Kopf und begann, Unverständliches zu stammeln.

      „Ich hole den Wagen und fahre Sie ins Krankenhaus“, sagte Lucas, „Bleiben Sie hier stehen. Oder, noch besser, gehen Sie ein Stück von der Straße weg. Ich bin sofort zurück.“

      Er schob ihn vorsichtig ein Stück zurück, was er sich gefallen ließ. Immerhin konnte er sich auf den Beinen halten.

      Lucas lief zurück zum Fahrzeug und setzte sich triefend vor Nässe hinters Lenkrad.

      „Tut mir leid“, sagte er zu Ann und Tim, „der muss ins Krankenhaus. Er hatte wohl einen Motorradunfall. Wahrscheinlich nur ein Schock, aber ich kann ihn hier unmöglich