Markus Vieten

Doktor Robert


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schaute verdutzt, doch Lucas passte bereits einen günstigen Moment ab, um den Wagen auf der Straße zu wenden. Lucas nannte Ann eine Taxinummer, die er auswendig wusste und verfrachtete den Motorradfahrer auf den Beifahrersitz. Als er sich quer über ihn beugte, um ihn anzuschnallen, roch er Alkohol.

      „Vielleicht sehen wir uns ja morgen noch“, sagte er und gab Ann und Tim einen eiligen Kuss, bevor er so schnell, wie es die Verhältnisse zuließen, in Richtung Klinik fuhr. Sein Passagier verhielt sich weiterhin ruhig. Ab und an stieß er einen leisen Stöhnlaut aus. Seine Augen blinzelten nur sehr selten. Als er in der Notaufnahme der Klinik ankam, fuhr er so weit wie möglich an die breite Schleuse zum Notaufnahmebereich heran. Eine Schwester und ein junger Arzt liefen herbei.

      „Bringen Sie eine Trage mit“, rief Lucas ihnen entgegen. Die Schwester machte auf dem Absatz kehrt, während der junge Arzt seinen Schritt verlangsamte. Wahrscheinlich wollte er sich nicht von jemandem herumkommandieren lassen, der kein Arzt war.

      „Fassen Sie bitte mal mit an“, bat Lucas ihn, „Ich habe ihn am Straßenrand stehend gefunden. Er ist kaum ansprechbar, vielleicht ein bisschen eingetrübt. Wahrscheinlich ein Motorradunfall, keine sichtbaren äußeren Verletzungen. – Ich bin übrigens Arzt, Doktor Robert.“ Die Miene des jungen Arztes hellte sich sogleich auf. Glück für ihn, die Verantwortung lastete jetzt nicht mehr allein auf seinen Schultern. Außerdem konnte er Lucas’ Angaben ernst nehmen, was die Sache für ihn ebenfalls erleichterte.

      „Ich bin Doktor Steinmann. Angenehm“, sagte er lächelnd, während sie den Motorradfahrer auf die Trage hievten, welche die Schwester herbeigeschafft hatte. Lucas begleitete sie ein Stück in die Ambulanz hinein. Der Abend war für ihn sowieso gelaufen. Sie fuhren in einen freien Untersuchungsraum. Steinmann durchsuchte die Taschen des Mannes nach Ausweisen und eventuellen Informationen, die für die Behandlung wichtig sein konnten.

      „Der Mann heißt Ludwig Breck, 25 Jahre alt.“ rief er der Schwester zu, die am PC hantierte. „Schauen Sie doch mal, ob der Mann bei uns bekannt ist.“

      Gleichzeitig sprach er immer wieder den Patienten an und versuchte, Antworten oder wenigstens eine Reaktion zu bekommen. Aber da war so gut wie nichts, und er ließ alles scheinbar unbeteiligt über sich ergehen.

      „Scheint ganz schön unter Schock zu stehen, was? Vielleicht hat auch das Gehirn was abbekommen“, sagte Lucas, aber Steinmann war zu sehr beschäftigt, um sich auf ein Gespräch einzulassen.

      In der Tür erschien ein kleiner Mann im weißen Kittel.

      „Hallo Lucas! Du hier?“

      Lucas erkannte Dirk Hauser sofort, obwohl die lang einwirkende Schwerkraft an seinem Körper offenbar ganze Arbeit geleistet hatte. Die Haare waren vom Kopf ans Kinn gerutscht, die muskulöse Brust in den Bauch und es kam Lucas vor, als wäre Hauser noch weiter geschrumpft.

      Er schilderte Hauser kurz die Situation. „Und wie geht es Dir?“

      „Ich bin Oberarzt in der Chirurgie und schaue Grünschnäbeln wie Steinmann auf die Finger“, sagte Hauser, nicht ohne Steinmann dabei zuzuzwinkern. Der scherte sich nicht darum, sondern ging weiter seiner Arbeit an dem Motorradfahrer nach. Offenbar verfügte er über das erforderliche dicke Fell für eine chirurgische Karriere.

      „Prima“, sagte Lucas anerkennend, „und was ist aus Kai geworden?“

      Eine Zeit lang waren Dirk, Kai und Lucas die Schrecken der Professoren gewesen, weil sie sich immer noch wie in der Schule aufgeführt hatten.

      „Kai ist ziemlich heruntergekommen.“

      Lucas wartete einen Moment, weil er spürte, dass eine Pointe in der Luft lag.

      „Er ist zwei Etagen weiter unten im Keller – als Pathologe.“

      Dirk konnte die Begeisterung für seinen Scherz kaum verbergen.

      „Auch nicht schlecht“, sagte Lucas anerkennend, „Macht Ihr noch viel zusammen?“

      „Oh, ja, er ist der Pate meines Ältesten.“

      „Dann habt Ihr es ja gut getroffen. Freut mich!“

      „Na ja, ich möchte trotzdem nicht mit Kai tauschen. Kannst Du Dich an Klaus Töller erinnern?“

      „Klaus, die Klette?“

      Dirk nickte.

      „Oh Gott, ja!“ Lucas machte ein entsetztes Gesicht.

      Dirk schob Lucas aus dem Behandlungsraum und zog die Türe etwas zu, damit Steinmann und die Schwester sie nicht hören konnten. Die beiden waren eifrig damit beschäftigt, den jungen Mann gründlich auf den Kopf zu stellen.

      „Irgendwie hat er es geschafft, in die Pathologie zu kommen. Er ist da schon seit Jahren, länger als Kai, arbeitet aber immer noch als Kais Assistent. Kai hat den Job trotzdem angenommen, aber er stöhnt nicht schlecht über ihn. Die Hälfte der Arbeit muss Kai miterledigen. Klaus’ Vater war irgend ein hohes Tier. So verlaufen die Beschwerden im Sande, und so lange er keine echten Katastrophen anrichtet, ist da wenig zu machen.“

      „Niederträchtig“, sagte Lucas, „die Toten können sich doch gar nicht wehren.“

      Dirk lachte kurz. „Aber sieh es mal so: Hätte man ihn auf die Lebenden losgelassen, wäre er ein echtes Risiko für die Menschheit!“

      Die Tür des Behandlungsraums wurde von innen geöffnet. Steinmann und die Schwester schoben den Patienten wieder hinaus.

      „Und?“, fragte Hauser knapp.

      „Wir machen ein CT. Tippe auf Schädel-Hirn-Trauma, müssen Blutungen ausschließen. Dann sollen sich ihn die Neurochirurgen ansehen.“

      „So machen wir das, oder?“, sagte Dirk und schaute Lucas fragend an, der gar nicht mit einer Frage gerechnet hatte.

      „Was? Ich? Ja, gut. Passt zu den Symptomen. Ich habe ihn nicht untersucht. Er musste aufgrund der Situation auf jeden Fall ins Krankenhaus.“

      Hauser nickte ab, und Steinmann schob den Mann über den Flur zu den Aufzügen, die zur Röntgenabteilung führten.

      „Wir sollten uns noch mal treffen. Du hast eine Hausarztpraxis, richtig? Was meinst du? Kai hätte bestimmt auch Lust.“

      „Gerne“, sagte Lucas, „aber ohne die Klette.“

      Dirk lachte und klopfte Lucas im Hinausgehen noch einmal jovial auf die Schulter.

      7

      Am nächsten Tag traf Lucas Ann und Tim in einem Bistro im Stadtzentrum, um etwas zu essen. Es war Ann anzusehen, dass der gestrige Abend länger gewesen war und dass sie nur wenig Schlaf bekommen hatte. Aber Lucas fand immer schon, dass ihr das leicht Verbrauchte gut stand.

      Lucas bestellte Kalamares in Knoblauchsoße. Es gefiel ihm, Anns Erwartungen zu erfüllen. Früher, als sie verheiratet gewesen waren, war es sein Leibgericht gewesen, das er und Ann unzählige Male zubereitet hatten. Inzwischen hatte er genug davon. Außerdem war es gegenüber den Patienten manchmal kritisch, wenngleich Reanimationen größere Chancen hatten. Ann bestellte nur eine Suppe, Tim ein Schnitzel mit Fritten.

      „Es war ein tolles Fest“, erzählte Ann, „ich bin froh, dass ich doch noch hingegangen bin. Die Gelegenheiten, meine Familie beieinander zu sehen – mal abgesehen von Mutter natürlich – werden einfach immer seltener, und ich dachte, dass es auch für Tim gut wäre, wenn er sich später mal an seine Verwandtschaft erinnern kann. Oder, Tim?“

      „Klar, Mam“, sagte er nur und knibbelte gedankenverloren an einer Lackschicht, die sich vom Tisch ablöste. Klar, dass er sich langweilt, dachte Lucas, aber er war selbst immer weniger in der Lage, einen echten Kontakt zu ihm herzustellen. Ann hatte ja seit ein paar Jahren einen Neuen – Heinz oder Hans. Lucas konnte es sich einfach nicht merken.

      „Und was war nun mit dem Kerl unter der Brücke?“

      „Der hatte wirklich einen Unfall gehabt.