Markus Vieten

Doktor Robert


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und führte ihn ins Sprechzimmer. Der Mann war ihm seit Jahren bekannt. Lucas sah mit einem Blick, dass sich sein Zustand seit dem letzten Kontrollbesuch nicht verändert hatte. Er führte ein paar Routineuntersuchungen durch und stellte ein paar Fragen. In Gedanken war er aber bereits bei Dina, die nicht sehr glücklich ausgesehen hatte. „Ich schreibe Ihnen ein neues Rezept, und behalten Sie die Dosierung bitte so bei, damit es weiter gut läuft“, sagte Lucas und reichte dem kleinen Mann die Hand, um ihn danach wieder zur Tür hinaus zu begleiten.

      Dann bat er Dina herein und gab ihr, nachdem die Türe verschlossen war, einen freundschaftlichen Kuss. Sie war gewissermaßen seine älteste Patientin. Gegen Ende des Studiums hatte er die ersten Patienten im Krankenhaus unter Aufsicht selbst behandelt, darunter auch die attraktive Dina. Ihr fehlte damals nichts Ernstes. Es mussten nur einige Schilddrüsentests durchgeführt werden. Dina hatte gerade ihr Architekturstudium abgeschlossen. Lucas und sie fanden schnell heraus, dass sie einen gemeinsamen Freund hatten und lösten rasch mit dem „Du“ das übliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient auf. Schon bald nach Dinas Klinikaufenthalt hatten sie sich privat getroffen und Lucas wäre gerne bei ihr gelandet. Ihr gefiel sein Charme, das merkte Lucas schnell, doch irgendetwas hatte sie immer zurückgehalten. Mit der Zeit wurde das Verhältnis kameradschaftlich. Lucas hatte sie sich abgeschminkt, und in den letzten Jahren sah er sie fast nur noch in ihrer Eigenschaft als Patientin, auch wen sie ihn immer noch interessierte.

      „Hallo, Dina“, sagte Lucas, „Setz Dich doch.“

      Sie setzte sich an die andere Seite des Tisches, so wie jeder Patient.

      „Wie geht es Pia und Lena?“ fragte sie.

      „Danke, ganz gut, zumindest gestern Abend noch. – Und wie steht´s mit dir? Was kann ich für dich tun?“

      „Ach, es ist immer das gleiche“, sagte sie und ließ den Kopf hängen. Das deprimierte Gesicht ließ ihre Attraktivität beinahe völlig verschwinden.

      „Wieder Frank?“

      „Ja, auch, ich bekomme ihn einfach nicht in den Griff. Er tanzt mir auf der Nase herum. Ich wünschte, er würde endlich eine Ausbildung anfangen oder so ein Freiwilligenjahr. Robert war in dem Alter viel einfacher. Ich glaube, er nimmt auch Drogen.“

      „Und Ewald?“ Sie und ihr Mann Ewald hatten schon einige Krisen überwunden, aber immer auf Dinas Kosten, so sah es zumindest für Lucas aus. „Ist er ruhiger geworden?“

      „Pah! Er betrügt mich nach Strich und Faden! Er glaubt, ich würde es nicht spitzkriegen. Offenbar hält er mich für minderbemittelt.“ Ihre Hände krallten sich in die Jacke auf ihrem Schoß.

      Lucas schüttelte den Kopf. „Dina, Dina, wie soll das nur weitergehen!?“

      Er schaute zum Fenster hinaus. Er mochte es nicht, wenn sie litt.. Sie wirkte dann so hilfsbedürftig, aber ihre Ehe konnte er nicht behandeln. Eine Weile schwiegen sie.

      „Hast Du schon mal über Scheidung nachgedacht? Jetzt, wo die Jungs beinahe aus dem Haus sind?“

      Dina begann zu schluchzen. Mehrmals versuchte sie etwas zu sagen, aber es klappte nicht. Lucas ging zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter, worauf sie nur noch heftiger schluchzte.

      „Dina...“

      Schließlich gelang es ihr, sich etwas zu fangen.

      „Vor zwei Wochen habe ich versucht, mit ihm zu reden. Ich hab ihm gesagt, dass ich die Scheidung will. Und dann....“ Sie riss sich einen Moment zusammen, um einen möglichst beiläufigen Ton hinzubekommen, „Er hat mich geschlagen, zweimal - ins Gesicht.“

      „Warum verlässt du ihn nicht? Soll er doch sehen, wie er zurechtkommt.“

      „Beruflich hätte ich keine Chance, finanziell sieht es sowieso schlecht aus, Ewald ist praktisch pleite, seit einiger Zeit leben wir vom Geld meines Schwiegervaters. Sein Vermögen ist unsere Versicherung.“

      „Und wenn du dich direkt an Deinen Schwiegervater wendest?“ meinte Lucas.

      An Ewalds Vater, Merkel senior, hatte er gar nicht mehr gedacht. Der Mann hielt sich selbst für einen Pflegefall und ließ Dina für alle möglichen Dienstleistungen antanzen, aber Lucas sah das etwas anders. Er hatte ihn einige Male erlebt. Er ließ sich bedienen, spielte den Familienfürsten. Die meiste Zeit über lag er auf dem Sofa herum und benötigte diese und jene Medikamente, aber er konnte geradeso gut aufstehen und sich selbst versorgen. Doch er zog es vor, sich von Dina den Hintern nachtragen zu lassen. Lucas wusste das alles nicht nur von Dina, sondern hatte es bei Besuchen selbst erlebt. Wahrscheinlich hatte sich die Lage eher verschlimmert. Merkel konnte sich das erlauben. Er war reich und es gab einiges bei ihm zu erben, wenn er eines Tages den Löffel abgab. Wann dieser Tag kommen würde, stand aber in den Sternen.

      „Ewald steckt mit seinem Vater unter einer Decke. Ich habe vor einiger Zeit versucht, mit dem Alten darüber zu reden. Aber davon wollte er nichts wissen. Dann bist du enterbt, sagte er nur, und ich solle es mir gut überlegen.“

      Verzwickt. Lucas hatte keinen Rat für sie. Das war frustrierend, aber zuhören half ja den meisten Menschen. Er konzentrierte sich dann lieber auf ihre körperlichen Beschwerden, da hatte er mehr Erfolgsaussichten.

      „Wie schläfst du denn? Kommst du überhaupt zur Ruhe?“

      „Nicht gut. Ab und zu nehme ich eine von deinen Tabletten, aber nur wenn`s gar nicht anders geht. Ich will ja nicht abhängig werden.“

      Er reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher.

      „Aber nein, davon wirst du nicht abhängig. Es ist ein pflanzliches Präparat. Stärkere Sachen würde ich dir nicht einfach so aufschreiben. Du weißt ja selbst, dass das nur Krücken sind. Du musst deine privaten Probleme lösen, sonst wirst Du irgendwann noch richtig krank. Ich stelle dir ein neues Rezept aus. Nimm sie mal eine Zeit lang regelmäßig und dann komm in zwei Wochen wieder. Darüber hinaus kannst du mich immer anrufen, wenn es Probleme gibt, das weißt du, auch zu Hause und auch abends.“

      „Ja, ich danke dir. Du bist der einzige, mit dem ich darüber reden kann.“

      Lucas gönnte ihr eine kurze Atempause und brachte sie dann zur Tür. Hoffentlich erholte sie sich. Sie gefiel ihm einfach besser, wenn es ihr gut ging.

      Danach setzte er sich in die kleine Küche der Praxis, um zwischendurch ein paar Schluck von dem immer viel zu schwarzen Kaffee zu nehmen.

      Schon nach wenigen Momenten klingelte das Telefon in der Küche. Evelyn hatte durchgestellt.

      „Ja“, sagte Lucas leicht genervt.

      „Ein Anruf für Sie, Doktor, Ihre Ex-Frau. Soll ich sagen, Sie rufen zurück?“ Evelyn hatte gemerkt, dass Lucas etwas Ruhe wollte.

      „Nein, nein, stellen Sie durch.“

      Es klickte in der Leitung.

      „Hallo Ann, wie geht`s?“, sagte er so freundlich wie möglich.

      „Oh, gut, danke. Und selbst?“

      „Alles bestens.“

      „Du, pass auf...“

      Wenn sie einen Satz so begann, verhieß das nichts Gutes.

      „Ich bin in der Nähe. Ich wollte gleich in der Praxis vorbeikommen. Du machst doch gleich Schluss, oder? Tim ist auch dabei. Vielleicht gehen wir noch einen trinken. Geht das?“ Sie telefonierte scheinbar aus dem Zug heraus.

      Sie war sich sicher, dass es ging, und, nun ja, es ging.

      „Ja, ist in Ordnung. Äh... wirst du denn...?“

      „Also dann um sechs. Cia-ao!“

      Er knallte das Telefon auf den Tisch. Es brachte ihn zur Weißglut, wenn andere über ihn bestimmten.

      Drei Stunden später verließ der letzte Patient die Praxis. Evelyn und die Azubi Heike hatten schon alles für den nächsten Tag bereitet.

      „Tschüss, wir sind weg, Doktor“, rief Heike mit den