Markus Vieten

Doktor Robert


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Kino, ich glaub´ mit Julia.“

      „Wann kommt sie zurück?“

      „Um 11 oder so.“ Das Geschreie durch’s ganze Haus ging ihm mächtig auf die Nerven. Die Hälfte von dem, was Pia dann sagte, verstand er nicht. Hauptsache, sie ging duschen. Eigentlich war 11 Uhr ganz schön spät für eine 15-Jährige, dachte Lucas, aber Lena sah wie viele ihrer Freundinnen eher älter aus, sodass sie abends meist problemlos ins Kino kamen, und dann gingen die Filme eben so lange. Auch wenn Lena nur auf ihrem Zimmer blieb, war im ganzen Haus mehr Leben. Ohne sie war nur die Stille mit Pia laut.

      Das Anfangsglück ihrer Ehe war nach gut zehn Jahren längst verflogen. Sein familiäres Leben war bis ins Kleinste von einer vorstädtischen Vorhersagbarkeit durchwirkt. Nicht dass ihm dieser Umstand an sich größeres Kopfzerbrechen bereitete. Der größte Teil der Menschheit hätte wohl liebend gern mit ihm getauscht. Aber er war ohne Leidenschaft und vom Leben betrogen.

      Manchmal hatte er das Gefühl, sich gerade erst die Zähne geputzt zu haben, und schon saß er wieder mit Pia vor den Tagesthemen. Er wusste bereits während eines Themas, welchen Kommentar Pia anschließend abgab. Nach dem Wetterbericht bewegte er sich wie ferngesteuert ins Bad. Pia war dann irgendwo vor, neben oder hinter ihm. Auch die nächsten Minuten, die vor ihm lagen, lagen schon tausendfach hinter ihm. Er würde als Erster ins Bad gehen, weil er nicht so lange brauchte, würde die Türe hinter sich schließen, sich fertigmachen und stumm über die Zahnseide fluchen, die in seine Finger schnitt. Die Zahncreme war immerhin angenehm minzig.

      Von Jahr zu Jahr wurde es langweiliger an Pias Seite. Die ehemals strahlende Antlitz der Tage, der ewige Frühling, hatte sich zu einer hässlichen Fratze entwickelt. Nach dem Ausziehen streckte die Hose über dem Stuhl ihm die Zunge heraus, seine Socken verströmten reine Schadenfreude und sein Nachthemd überzog ihn mit Häme.

      Doch an diesem Abend war etwas anders.

      Nachdem er eine Weile in seinem mäßig spannenden Krimi gelesen hatte, legte er das Buch zur Seite und schaltete das Licht aus. Nicht weil er, wie üblich eingenickt war, sondern weil er viel lieber darüber nachdenken wollte, wie er vorzugehen hatte, um Krott eine professionelle Sterbehilfe zu geben, die ihn ohne Schmerzen und zusätzliches Leid genau dieses in seinen letzten Wochen ersparen sollte. Er widmete sich eine ganze Weile diesen Gedanken, während er mit offenen Augen ins Dunkle starrte.

      5

      Lucas war am nächsten Tag schon nervös aufgewacht. Die Zeit in der Praxis hatte er irgendwie und nicht sehr konzentriert hinter sich gebracht. Wenn das Telefon klingelte und seine Helferin sich meldete, lauschte er mitunter gebannt, ob es wohl Krott war, der einen Rückzieher machte und es vorzog, im Laufe der nächsten Wochen selbst zu sterben.

      In den freien Minuten und auch nach Praxisschluss befasste er sich mit dem Sterbehilfethema im Internet. in einigen Ländern hatte man es da schon leichter. Lucas malte sich aus, wie es wohl sein musste, die Top-Praxis für Sterbehilfe zu sein. Für jeden Patienten den besten, individuell abgestimmten Cocktail zusammenzumixen, aber dafür hätte er schon auswandern müssen.

      Dem Abend sah Lucas schon etwas gelassener entgegen. Er traf die Jungs zum Bowling – der einzig nennenswerte Sozialkontakt, den er noch pflegte. Fünf Freunde, nicht von Enid Blytons Gnaden, sondern übrig geblieben aus gemeinsamen Studententagen. Außerhalb des wöchentlichen Bowlings beschränkte sich ihr Kontakt auf Geburtstagsfeiern und ähnliche Anlässe. Alle waren viel beschäftigt, hatten Familien und Verpflichtungen, in der Tiefe ihrer Gespräche konnte man gut stehen. Da waren Karl, der Kahle, Stefan, der Stete, Philipp, der sich nichts nachsagen ließ, und Carsten, Pias Ex. Das Spiel war wie immer spannend und ein paar Bier taten ein Übriges, um Lucas für einige Stunden auf andere Gedanken zu bringen. Trotzdem musste er in den Pinkelpausen immer wieder an den kommenden Tag denken. Ein Gedanke, der ihn wieder wacher werden ließ, aber auch ablenkte. Entsprechend waren auch seine Ergebnisse auf der Bahn. Philipp, der sich nichts nachsagen ließ, hätte an diesem Abend auch blind werfen könne. Er traf einfach alles. Lucas wurde nur deshalb nicht Letzter, weil Carsten wieder seinen mangelnden Ehrgeiz zelebrierte, wofür Lucas ihm ab und an gerne einmal mit der Bowlingkugel den Schädel eingeschlagen hätte.

      Später im Bett hatten ihn die Gedanken an den nächsten Tag wieder. Er ging den Ablauf immer wieder durch. Die Zeit würde knapp sein, wenn er seine Frau zum Einkaufen schickte. Er würde gleich nach der Begrüßung loslegen müssen. Die Infusion an sich war keine große Sache. Er hatte zur Sicherheit die Dosierung erneut recherchiert und dann noch mal dreißig Prozent draufgeschlagen.

      Am nächsten Morgen war er früh wach, hellwach. Er lag im Bett und wartete darauf, dass der Wecker klingelte und Pia aufstand. Danach würde auch er aufstehen, wie immer. Er fühlte sich an diesem Tag vom ersten Moment an quicklebendig und voller Energie. Ein wenig schämte er sich dafür, dass der anstehende Tod eines Menschen ihm einen solchen Schwung gab.

      Gegen Nachmittag entspannte er sich langsam. Die Nervosität wich einer kühlen sachlichen Ruhe, doch er spürte immer noch den hohen Puls. Es hatte etwas von einer Prüfung. Schon im Studium war er im Gegensatz zu seinen Kommilitonen oft in der Lage, bei großer Nervosität große Ruhe einkehren zu lassen. Damit war er wie geschaffen für einen Chirurgen-Job. Hatte er wohl von seinem Vater geerbt, doch die Vorstellung, auch diesen Weg einzuschlagen und sich auch weiterhin anhören zu müssen, was er alles nicht konnte und wie großartig Robert senior doch als Chirurg gewesen war, machten alle chirurgischen Fächer für Lucas zu einer No-go-Area.

      Er beendete seine Sprechstunde pünktlich und entließ die Mitarbeiter nach Hause. Dann kontrollierte er in Ruhe seine Arzttasche. Infusionsbesteck und Totenschein waren da und auch eine Packung mit Barbiturat-Ampullen. Er war gespannt, ob Krott immer noch bereit war und ob es mit seiner Frau keine Probleme geben würde. Er spürte, wie sich sein Herzschlag langsam beschleunigte und sein Blutdruck stieg. Er wurde jetzt richtig heiß auf den Kick. So fühlte sich vielleicht jemand, dem sein erster Bungee-Sprung bevorstand. Die Adrenalindepots waren prall gefüllt, und es fehlte nur noch der letzte Anstoß, um den ganzen Körper damit zu fluten. Sein Stammhirn hatte die Herrschaft übernommen. Lucas bewegte sich wie von selbst. Er hatte gar nicht mehr das Gefühl, anders handeln zu können. Warum sollte er auch? Solange er seine Sterbehilfe gegenüber sich selbst und anderen rechtfertigen konnte, spielte es doch keine Rolle, ob er Vergnügen daran hatte oder nicht. Schließlich konnte er in seinem Kopf machen, was er wollte. Und dass ein baldiger schmerzloser und friedlicher Tod für Krott ein Segen war, stand außer Frage.

      Als Lucas den Laubengang des Hauses betrat, sah er sie bereits in der Tür stehen. Sie trug einen Mantel und hielt eine Einkaufstasche in der Hand.

      „Endlich sind Sie da.“ Sie trat aus der Tür und hielt sie für Lucas fest, bis er übernehmen konnte. „Ich muss rasch noch etwas besorgen. Er will heute Abend unbedingt Spargelcremesuppe“, sagte sie etwas gereizt und verdrehte dabei leicht die Augen.

      „Ist gut, vielen Dank. Lassen Sie sich nur Zeit, ich bin ja jetzt da.“

      Als Lucas die Tür hinter sich schloss, blieb er einen Moment stehen und horchte in die Wohnung hinein. Es war schon jetzt totenstill. Erst als er beinahe in Krotts Zimmer stand, hörte er dessen flache Atmung. Viel war nicht mehr los mit ihm. Er tat ein gutes Werk.

      Krotts Augen waren halb geschlossen. Offenbar döste er. Als Lucas seine Tasche leise abstellte, schlug Krott die Augen auf und blickte ihn an. Lucas spürte die Erregung in sich aufsteigen.

      „Da sind Sie ja“, sagte Krott und versuchte, sich aufzurichten.

      „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Lucas trat an das Bett, fasste Krott unter den Armen und zog ihn ein Stück herauf. Dann erhöhte er das Kopfteil des Bettes so, dass Krott eine halbsitzende Position einnahm.

      „Aufgeregt, was?“

      „Wieso?“

      „Kalte Hände haben Sie, ganz kalt! Und feucht sind sie auch. Pah! Dabei müsste wohl ich es sein, der aufgeregt ist.“

      Lucas hatte sich seiner Tasche zugewandt.

      „Ich