Ingo M Schaefer

Die Tote am Steinkamp


Скачать книгу

Bremen Nord, die in meiner Jugend ein Kreis war. An der Abfahrt zur Rotdornallee schnitt sie plötzlich die rechte Spur, rammte die Leitplanke, überschlug sich und zerknitterte den Kotflügel eines Unbeteiligten.

      Auf den ersten Blick konnte man schlussfolgern, dass sie zu spät die Ausfahrt nehmen wollte. Mit einem scharfen Rechtsschwenk hätte ich gegen diese Vermutung nie etwas gesagt. Das implizierte eine aktive Handlung. Laut Zeugen begann die Rechtsfahrt geradewegs in die Leitplanke lange vor der Brücke am Heidbergstift. Für mich gab es keine vernünftige Erklärung, warum sie so etwas willentlich tat. Vorübergehende Achtlosigkeit kam nicht in Frage. Spätestens auf der rechten Spur hätte sie etwas gemerkt. Der Wagen schien führerlos zu fahren. Ein ins Lenkrad greifender Beifahrer war vorstellbar, aber zahlreiche Zeugen, die anhielten, sahen keinen Beifahrer fliehen. Ein lähmendes Gift erklärte den Unfall und wie er geschah. Irene Lewinski konnte durch das Gift der Mönchskappe nicht mehr lenken.

      Frederike und Rita erstellten ein Täterprofil. Die beiden wollten das gerne machen, weil sie Fortbildungsseminare dazu besucht hatten. Demnach war die Täterin eine dreißig bis vierzigjährige Frau, alleinstehend, frustriert und sie ließ ihren Hass an erfolgreichen Frauen aus. Beide wurden mit Blauen Eisenhut unschädlich gemacht, danach starben sie.

      „Etwa weil Gift das Vorrecht der Frau ist?“, fragte ich. „Emanzipation ist keine Einbahnstraße. Wir schließen nichts aus. Ist Marker mit der Exhumierung schon weiter? Hört endlich auf in Kategorien zu denken! Ihr seid lange genug bei mir, um zu verstehen, dass wir dann nie jemanden verhaften.“

      „Ja, Chef. Aber beiden Taten fehlt der männliche Gewaltaspekt.“

      „Achso, wenn wir unsere Jagdwaffen hängen lassen, sind Frauen die Täter. Meint Ihr die Idee der vergifteten Pfeile, der rostigen Klingen oder Aas in Brunnen zu werfen, kommt von Frauen?“

      „Nein, Chef!“

      „Giftheil, Fischerkappe, Sturmhut, Würgling und wie es sonst noch heißt, verdammt!“, rief ich. „Blauer Eisenhut ist die beliebteste Mordwaffe in Europa. Römer, Päpste, Henker. Beide Geschlechter haben es benutzt. Wenn kein Notarzt kommt, ist das der grausamste Tod, den man sich vorstellen kann. Diese Pflanze ist tödlich. Zwei Gramm reichen. Die Morde spiegeln weder Hass noch Frust. Wir brauchen mehr Informationen. Wann kommt endlich der Kollege aus dem Wirtschaftsdezernat? Der muss etwas erklären. Die Opfer verbindet, dass sie Unternehmerinnen waren und die Firmen ihrer erfolglosen Ehemänner übernahmen.“

      „Wenn die Spurensicherung an Lewinskis Fahrzeug Spuren blauen Eisenhuts findet“, meinte Chico, „haben wir eine weitere Verbindung.“

      Das Telefon klingelte. Rita nahm ab.

      „Ah, hallo! Ja, danke. Ich gebe es weiter.“

      Wir sahen sie an.

      „Dr. Marker hat die Leiche Lewinskis geborgen. Sie ist auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Der Witwer war komisch gewesen, eher abwesend und resigniert.“

      Warum erwähnte die Leiterin der Gerichtsmedizin das?

      „Wir gehen essen!“, befahl ich. „Chico, leite das Telefon auf die Zentrale um und sage denen, wir sitzen in der Kantine.“ Dort waren Arbeitsthemen verboten und unsere Gehirne konnten entspannen. Das vermied Gehirnknäuel und brachte uns auf neue Ideen.

      Zurück im Büro wartete auf uns Oberkommissar Hanneke aus dem Dezernat für Wirtschaftskriminalität. Er saß nach kurzer Begrüßung und Erklärung auf einem freien Platz am Rundtisch.

      „Es ist ganz einfach. Der Mann gründet eine Firma mit persönlicher Haftung, kann aber mit Geld nicht umgehen, verschuldet sich. Dann überträgt er das Geschäft seiner Frau. Jetzt hat weder die Firma noch die Frau Schulden. Sondern nur der Mann, der in der Firma einen Vierhunderfünfzig-Euro-Job hat. Jeder Gerichtsvollzieher geht mit leeren Händen zurück. Der Mann verdient zu wenig für eine Verfolgung. Der Schuldner sitzt auf seinem Vollstreckungsbescheid und bekommt nichts. Die Frau ist Inhaberin und der Mann könnte sie weiterführen. Der Lohn ist unter der Pfändungsgrenze, und die Frau erhält die Gewinne. Die Gläubiger gehen leer aus und erhalten nie ihr Geld.“

      „Das ist legal?“

      „Ja, das Gesetz kümmert sich nicht um Schuldeneintreibung. Dafür gibt es das Insolvenzverfahren. Da bekommen die Gläubiger auch selten Geld zurück. Das Entscheidende aber ist, dass mit der Übertragung auf die Frau auch die Firma plötzlich schuldenfrei ist und damit an Wert gewonnen hat. Es sind ja die Schulden des Mannes als Gewinn in die Firma geflossen. Obwohl ohne Vermögen leben die Männer im Wohlstand.“

      „Was geschieht, wenn die Frau stirbt?“, fragten alle gleichzeitig.

      „Das hängt vom Testament ab, würde ich sagen. Da die meisten Frauen um die dreißig bis vierzig Jahre alt sind, wenn sie die Firma übernehmen und da das statistische Sterbealter der Frauen bald über 85 Jahre liegt, haben wir keine Statistiken darüber. Ein Anstieg dieser Form der Schuldenumgehung ist erst zehn bis fünfzehn Jahre alt.“

      „Wie kann eine Firma plötzlich in Insolvenz gehen, wie der Partyservice der Lewinskis mit mehreren Standorten und festem Kundenstamm, also ein gesundes Unternehmen?“, fragte ich.

      Er hob eine dünne Akte.

      „Ich habe das nachgeprüft. Das war ja eine Ihrer Fragen, Hauptkommissar. Laut Steuerunterlagen hat der Lewinski Partyservice mit drei Küchen einen Gewinn vor Steuern über jährlich Zweihundertfünfzigtausend. Keine Unregelmäßigkeiten. Letzte Prüfung vor zwei Jahren. Frau Lewinski starb am sechsten Mai. Zwei Tage später trat der Ehemann das Erbe an. Das Firmenvermögen, Fonds und Konto, belief sich auf zweihundertsiebenundfünfzigtausend Euro. Am folgenden Tag buchte er einen Flug nach Brasilien.

      Am selben Tag wurde das Vermögen eingezogen. Den Flug konnte er nicht mehr bezahlen. Einer der seltenen Fälle, wo der Gerichtsvollzieher voll zugeschlagen hat.“

      „Der Gerichtsvollzieher?“, fragte Chico.

      Das Telefon klingelte. Rita ging ran, sah sich um, starrte mich an und notierte sich etwas.

      „Man hat eine tote Frau über 50 Jahre alt gefunden. Eine Petra Müller in Lesum.“

      „Markus und Rita. Ihr fahrt dahin und gebt die Daten durch. Frederike und Chico. Wir drei bleiben hier und hören noch zu.“

      Nachdem die beiden aufgebrochen waren, ließ ich den Kollegen weiter reden und aufnehmen.

      „Ja, der Gerichtsvollzieher. Gegen Herrn Lewinski bestanden zwei Vollstreckungsbescheide. Das war der Grund für die Übertragung der Firma an seine Frau. Die Bescheide gingen gegen ihn, nicht gegen die Firma oder gegen die Frau.“

      „Wie hoch war die Gesamtsumme?“

      „Insgesamt zweihundertfünfzigtausend Euro. Laut den Unterlagen des Gerichtsvollziehers konnten zwei Vollstreckungen erfolgen. Da Fluchtgefahr bestand, hat der Gerichtsvollzieher sofort beschlagnahmt.“

      „Wie läuft das mit einem Vollstreckungsbescheid? Gibt es da keine Verjährung?“, fragte Rita.

      „Die sind dreißig Jahre gültig“, erklärte Hanneke. „Es gibt Firmen, die sich darauf spezialisieren Vollstreckungsbescheide zu übernehmen. Die Firmen legen Dateien an und lassen bots, automatische Kleinprogramme, das Internet durchsuchen, ob sich Lebensumstände ändern. Die Dateien enthalten Namen und Zugehörigkeiten. Taucht irgendein Name aus dieser Datei in Todesanzeigen auf, blinkt es und der Gerichtsvollzieher wird gerufen.“

      „Nicht wenige töten für viel weniger Geld, sehr viel weniger“, fluchte ich.

      „War bei Lewinski eine Firma beteiligt?“

      „Das muss man beim Gerichtsvollzieher nachfragen“.

      11

      Ich stand mit Chico vor einem Mehrfamilienhaus in der Halmstraße. Diese Straße wellte Pflastersteine, seit ich denken konnte. Ich beglückwünschte unsere umsichtigen Ämter bei jeder Durchfahrt, dass hier niemals der Versuch unternommen worden war, das Pflaster durch raserfreundliches Asphalt zu ersetzen. Die Zeit