Justine la Mour

Selfie


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umstoßen. Ihre Stiefel und das weitschweifende Kleid passen nicht zum Gesichtsausdruck, in den Augen steht rund und groß ein fragendes Ich, das den Glauben an sich verloren hat. Sie streunt umher durch Schuhläden, Designerkaufhäuser, Drogeriemärkte, Lederwarengeschäfte. Die Rollen in ihrem Leben sind aufgebraucht, haben eine Hülle zurückgelassen, die papierdünn hin und her weht. Jetzt etwas kaufen, jetzt eine Reise buchen, jetzt Mails schreiben, jetzt Freundinnen treffen, jetzt den Job wechseln, die Wohnung, die Stadt, das Land, es ist einerlei, das Alter holt sie ein, der Tod wartet schon. Im Spiegel erschrickt sie über ein graues Gespenst, das nichts mehr mit ihr zu tun hat, ein lebendig verwesender Körper aus fahler Haut, brüchigen Knochen und stumpfem Haar. Könnte sie doch in ihren Vorstellungswelten leben, sich nicht an der Wirklichkeit stören, nicht an dem Alltag, der sie in eiserne Rüstungen zwingt. Ihre Welt, in hellen Bildern entwerfen, Pinsel ausschwingen und malen statt zu jammern, Jahrzehnte auf großen Reißblättern planen wie Architekten ihre Gebäude. Am besten wäre es, den Umsturz gar nicht zu bedenken, die Möglichkeit des Scheiterns nicht in Betracht ziehen. Surfen im Leben wie im Internet, sich treiben lassen, die Fähnchen nach dem Wind richten. Könnte sie es, könnte sie es, sie kann es nicht, sie muss es können.

      Blutstropfen rinnen über Justines Stirn, teilen und verästeln sich, versickern in einem Papiertaschentuch auf ihrem Schoß. Ein Hämatom oder zwei oder drei verschwinden in ein paar Tagen. Diese Nadelstiche beim Botox sind unvermeidlich. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken. Sie schweigt, hält den Atem an, ausatmen oder husten beim Einstich der Nadel mildert den Schmerz. Warum tut sie sich das an? In drei Monaten spätestens wird die Stirn wieder mit Falten übersät sein wie zuvor, die Haut wie mit einem Stempel in der Mitte ihrer Stirn plattgedrückt, an die Seiten gedrängt wölben sich Hautreste auf und bilden weitere Unebenheiten. Faltenneubildung nicht ausgeschlossen, beschränkte Haftung. Täler und Hügel, ihr Gesicht eine Landschaft aus Tälern und Hügeln, ab und zu gepflügt mit Spritzen und Cremes.

      Soll sie aufhören, der Natur ihren Lauf lassen bis die Falten zu Kerben werden, die ihr Gesicht zerschneiden, es aufteilen in Facetten wie ein Gitternetz? Das Brennen breitet sich aus und ein greller Schmerz lodert auf, orangerot züngelnd wie Feuer, sie beißt sich auf die Lippen. Wir sind gleich fertig. Die Stimme der Ärztin beruhigt sie, ein paar Tage und sie wird glatt sein, die Stirn, die Folgen ihres Denkens vernichtet, kaltgestellt, gelähmt, das Alter zurückgefahren in seine Grenzen. Schwarze Tränen rinnen über ihre blasse Haut, die Wimperntusche verwischt zu dunklen Rinnsalen. Sie legt den Handspiegel zur Seite, schließt ihre Augen, hält die Luft an. Der Föhnsturm hinter der Stirn wird erst in ein paar Tagen ausbrechen, zuverlässiger als manche Wettervorhersage, Ausnahmezustand bis sich das Nervengift festsetzt und seine Wirkung eintritt, die Falten auseinanderzieht. Zuschauen kann sie wie es geschieht, Verjüngung wie in Filmen, in denen Figuren in frühere Zeitepochen zurückversetzt werden. Pokerface im Job, in der Welt, draußen vor der Tür, überall, der Schutz vor zu viel Einblick in ihre Seele, niemand soll wissen, was sich hinter dieser Stirn verbirgt, wie viel Trauer hinter ihrem Gesicht, ihrem Leben verborgen liegt. Sie hält den Handspiegel hoch, kleine blaurot angelaufene Punkte, Erhöhungen an einigen Stellen, hochschießend, wuchernd im Moment des Betrachtens. Am nächsten Tag ist alles anders, die Stirn glatt und mit ihr die Welt. Marineblau das Kostüm an einem Tag, dunkelgrau am anderen, immer im Wechsel. Sie schaut hinunter auf ihre Mitarbeiter, auch auf die Männer, ihre Körpergröße hat geholfen, schon immer, bei Bewerbungsgesprächen traut man ihr mehr zu als den anderen, ihr breites Kreuz belastbar, das dunkle widerborstige Lockenhaar zum Pferdeschwanz gebunden, die großen Zähne weiß und strahlend, dünner die Sauerstoffzufuhr in luftigen Höhen, aber auch reiner und frischer. Ein kaum künstliches Lächeln zieht sich über ihr Gesicht, ihre Augen bleiben stumpf, ihr Lächeln taut auf und ab, friert ein und taut auf. Ihre Mundwinkel müssten Muskelkater bekommen, aber da ist nichts, zwei dünne Linien mit Hyaluronsäure gut aufgepolstert einziger Hinweis auf eine Mimik.

      Die Assistentinnen im Job sehen sie an als wünschten sie, in diesem Alter nicht mehr arbeiten zu müssen. Das Letzte, was Justine braucht, ist Mitleid von Untergebenen, sie hält ihren Kopf aufrecht, stolziert durch die Gänge, Kopf hoch, Brust raus, jetzt erst recht, sie lächelt. Ihre Körpergröße und das hochgesteckte dunkle Haar geben ihr eine Überlegenheit, immer auf Augenhöhe, meist darüber verhandelt sie. Und doch ist ihr alles zu viel, seit Jahren schon, viel zu viel. Nach Meetings schießen Tränen in die Augen, nicht zu gebrauchen, zurückdrängen, auf der Toilette vergießen, sich nichts anmerken lassen, den anderen die Stimmung nicht vermiesen. Sie wischt um die Augenlider, die wasserfeste Wimperntusche schmiert immer wieder, Ströme von schwarzem Wasser laufen hinunter. Warten bis die Kolleginnen den Waschraum verlassen haben, die Stimmen verklungen sind. Sie wird etwas erzählen über Probleme mit neuen Kontaktlinsen, über mangelnde Tränenflüssigkeit und Benetzungslösungen. Selten fragt jemand, sie muss auf alles gefasst sein, Antworten parat haben, reagieren, klarstellen. Sie hört Spülungen rauschen und Kolleginnen vor dem Spiegel Gespräche führen, wie frei sie reden, als fürchteten sie sich vor nichts.

      Sekretärinnen, Teamassistentinnen, sie können es sich leisten, eine eigene Meinung zu haben, verlieren sie den Job lassen sie sich fallen in ihre Töchterrollen, Mutterrollen, Ehefrauenrollen. Was hat sie? Nichts, ein Leben im freien Fall wenn sie nicht ihrer Karrierefrauenrolle entspricht, sie anzieht, ihre zweite Haut, sie sich einverleibt, um von ihr gefressen zu werden. Die Vorstellung sich selbst aufzuessen, diese Gedanken kommen und gehen, kommen wieder, gehen wieder, kommen wieder. Zuerst nur ein Knabbern an den Nägeln, den Fingerspitzen, sich die Haare raufen, ausreißen, später die Faust im Mund, am Ende nichts mehr da von ihr, ein offener Schlund, der sich selbst ausgelöscht hat. Sie denkt an die Selbstmorde in Japan, an überarbeitete Menschen, die irgendwo hinunterspringen, sich irgendein Eisen in den Leib rammen, irgendeine Substanz essen oder trinken, sie denkt an Auslöschung und Ruhe. Als sie nichts mehr hört und auch die Schritte auf den Fluren verhallen, die Stimmen abschwellen, die Spülungen ruhen, Lufttrockner schweigen wischt sie ein letztes Mal mit dem doppellagigen Papier über das Gesicht, tupft die Augenwinkel trocken und drückt sehr vorsichtig und langsam die Türklinke. Schon lange möchte sie sich diese Szenen ersparen, nicht mehr heimlich weinen müssen, wie eine Übelkeit drängt der Tränenfluss nach oben, sprüht durch die Luft. Eines Tages, eines Tages lässt sie es einfach laufen, Tränen, Schweiß, alle Flüssigkeiten, die aus ihr heraus laufen, sollen gesehen werden.

      Als sie an diesem Tag in den Spiegel schaut ist die Wimperntusche nicht so verschmiert wie sonst, die Augen nur mäßig gerötet, eher blankgeputzt wie staubige Straßen nach einem schweren Sommergewitter. Sie schnäuzt sich, pudert die Haut, tuscht die Wimpern nach, tupft rosé farbenen Gloss auf die bebenden Lippen. Reste schwarzer Farbe unter den Augen lassen sich mit Wasser und Seife leicht entfernen, reißfeste Kosmetiktücher liegen bereit zum Trockentupfen, an alles ist gedacht. Wie faltenfrei ihre Stirn noch ist, wie nachhaltig die Wirkung der letzten Botoxinjektion. Sie kann jetzt beruhigt gehen.

      Justine? Hier bist du. Wir haben uns Sorgen gemacht. Alles gut? Sie lächelt, dreht sich um und verleiht ihrer Stimme einen heiteren Klang. Alles gut. Danke. Fragt sie jemand nach ihren Wünschen? Das Leben ist kein Zuckerschlecken, Karriere kein Kinderspiel, Beziehung kein Ponyhof. Sie mag weder Ponyhöfe noch Kinderspiele noch Zuckerschlecken. Und doch wagt sie sich manchmal etwas anderes vorzustellen. Wie es wäre zu schweben in weißblauen Lüften ohne Angst, ohne Reue, ohne Konsequenzen? Große Gefühlsarien auf einer Guckkastenbühne, Vorhang auf, Liebessakte, Eskapaden, operettenhaft schwülstig, schwerer weinroter Samt mit verschlungenen goldenen Kordeln. Am Ende Applaus. Sehnsucht nach dem anderen Leben, ohne zu wissen was das sein sollte jenseits der Sehnsucht. Wach` auf. Reiß dich zusammen. In Klischees zu schwelgen hat noch niemandem geholfen, Sehnsuchtsbilder wie Fleißkärtchen mit kleinen Putten und Engeln in Pastellfarben mit goldenem und silbernem Rahmen. Selbst ist die Frau. Was sie nicht umbringt macht sie nur härter. Jeden Morgen das Haar aufstecken, ihre Naturlocken sind störrisch, schwer zu bändigen, jeden Morgen in den engen dunkelblauen Rock, jeden Morgen in die Seidenstrümpfe, im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß.

      In den überhitzten regenreichen Sommermonaten nutzt sie die morgendliche Kühle, bricht früh auf und fährt mit dem Aufzug aus der Dachterrassenwohnung in die Tiefgarage, steigt in ihren klimatisierten Wagen und bringt Charlotte in ihre private Kita. Sie könnten auch zu Fuß laufen, es ist nicht allzu weit, aber alle Kinder werden