Justine la Mour

Selfie


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rosarotem Lackleder. Der Park, der das Gebäude umgibt, lockt wie ein Märchenwald, hinter dem ein verborgenes Schloss auf Besucher wartet. Ein gusseisernes Gitter trennt sie von der Straße, in der Luft flattert die Leichtigkeit des frühen Morgens, die Stille vor der ersten Unterrichtsstunde, nur von Vogelzwitschern unterbrochen.

      Justine wendet, tritt aufs Gaspedal, startet in ihren Tag. Mit dem gläsernen Lift schießt sie in die oberste Etage des Firmengebäudes, das in einem Industriegebiet vor der Stadt liegt. Unter ihr verschwindet der Stau aus hupenden Autos, Fahrrädern, Fußgängern, die in großer Eile in ihre Bürotürme laufen, verschwinden die kupferroten Dächer der Häuser. Sie fliegt dem luftigen Blau des Himmels entgegen. Diese Leichtigkeit, die Füße vom Boden hochgehoben, die Schwerelosigkeit, sie sieht zu wie sie sich immer weiter entfernt von allem, die Welt versinkt wie eine Miniaturstadt unter ihren Füßen. In diesen Momenten noch vom Schlaf erholt, denkt sie an die vielen Dinge, die sie tun würde, wäre sie nicht hier. Beim Aussteigen empfängt sie ein kühler Luftzug. Wie liebt sie die Ruhe der Frühe, die kaum hörbaren Schritte der Kollegen auf dem Teppichboden, das entfernte Rascheln der Tageszeitungen hinter den Türen der Vorstände. Ihre Assistentin serviert duftenden schwarzen Espresso, sie trägt Slingpumps, das wäre nicht nötig, sie trägt sie freiwillig, meint, es wäre nötig. Pressespiegel? Ja bitte. Die neue Espressomaschine ist gut, besser als der Filterkaffee, viel besser, sie freut sich, schaut aus dem Fenster und lächelt. Das Gefühl, es geschafft zu haben breitet sich aus und erreicht seinen morgendlichen Höhepunkt. Noch schrillt kein Telefon, kein Handy, die Mails noch nicht aufgerufen, hunderte jeden Tag, sie beantwortet sie alle. Head of Marketing, sie ist Kopf des Marketing, Marketingkopf. Dieser Espresso, schwarzbraun bitter, ist es wert, die Schule für Charlotte, die Dachterrassenwohnung im Szeneviertel ist es wert. Dafür hält sie ihren Kopf hin, ihren Marketingkopf.

      Sie lehnt sich zurück und betrachtet den Stau unten auf der Straße wie aus einer anderen Welt, die Panoramascheiben mit Doppelfenstern lassen keinen Laut durchdringen. Ist es eine Mausefalle, in der ihr Körper feststeckt, die Beine zappeln, die Arme rudern? Je mehr Bewegung umso fester zieht sich die Schlinge zu. Rudern, weiter rudern und der Horizont wird sich auftun, die Weite, das Meer, der Sandstrand. Dieses positive Denken, das Träumen gelingt nicht, es muss dem Alltagswahn weichen, der sich aufdrängt, er versperrt die Türen zu den Träumen, stellt schwere Sandsäcke davor wie zur Verdrängung von Wasserfluten. Das Modell ihres Lebens, es muss gelingen. Muss, muss, muss, morgens erwacht sie mit der Gewissheit des Müssens, abends schläft sie damit ein, muss, muss, muss wie ein lästiges Ohrgeräusch.

      Spielen mit Charlotte, sieben, Förmchen mit lockerem goldenen Sand füllen, wie lange ist das her? Sonntagnachmittage in schwüler Hitze, Windeln gewechselt, Trinkflaschen aufgeschüttelt, Nase gewischt, schattenspendende Bäume gesucht. Feiner Sand, der auf feuchte Kuchen gestreut wird, versinken können, die Ruhe vor der nächsten Woche, wie viele Stunden noch? Samstags lenkt sie das Einkaufen ab, Klavierunterricht für Charlotte, sonntags Anstürme von Tränen beim Erwachen. Sie sieht den nächsten Arbeitstag vor sich, die nächste Arbeitswoche, Berge von Arbeit durch die sie hindurch muss, sie türmen sich auf und vermehren sich über Nacht. Es ist zu viel, alles zu viel, viel zu viel. Sie hat Mann, Job, Kind, Kind, Job, Mann. Was will sie mehr? Sie weint, presst ihre Faust auf die Augen und versucht sich zu beruhigen. Du hast doch alles, was willst du noch? Sie weiß es selbst nicht.

      Wie ist sie in all das hineingeraten? Mit Anfang Dreißig heiraten alle um sie herum. Seid ihr alle da? Ja. Wie beim Kasperletheater antworten sie einstimmig mit Ja wie gewünscht. Auf einmal erscheinen auf der Bühne des Lebens Traummänner und Traumfrauen, eine ganze Invasion von Paaren, Hochzeitskarten, Babyfotos überschwemmt sie, das erste, das zweite, das dritte Kind. Wie vom Himmel gefallen, aus den Wolken herab geregnet bevölkern junge Familien die Erde. Rosarot und himmelblau strampeln winzige Füßchen in die Luft, Blubberbläschen auf rosigen Lippen, Babyflaum auf den Köpfen, rundherum wohliges Gebrumme. Niemand stellt sein Handeln infrage, als sei das Aufziehen einer weiteren Generation eine Verpflichtung über die man nicht reden müsse. Erst später taucht sie auf, eine Frage, nur eine einzige, die alles entscheidende Frage. Sie naht wie ein Wirbelsturm, bläht sich auf von allen Seiten, knickt Lebensentwürfe um, bricht langjährige Planungen entzwei, stellt sich allem in den Weg was an Erkenntnissen, Weisheiten, Einsichten angehäuft daliegt: Ist das alles? Sie heiratet spät, aber sie heiratet, sie bekommt ihr Kind spät, aber sie bekommt es. Fast vierzig Jahre ihres Lebens sind schon um als sie beginnt an die Familie zu glauben. Jetzt ist sie da, die Frage, jetzt ist sie auch bei ihr angekommen.

      Niemand soll es hören, niemand sehen, sie weint, es weint aus ihr heraus, laut und lästig schluchzt sie wie ein kleines Mädchen. Draußen Schneeflockengestöber vor dem Fenster, wirbelnd, zu rasch, ihr wird schwindlig wenn sie zusieht. Zusammenreißen, sich zusammenreißen, nicht aufgeben. Think pink, positiv denken. Sie muss wieder zurück an ihren Schreibtisch. Am späten Nachmittag gönnt sie sich Aperol Spritz, sie schüttet Campari ins Glas, Soda dazu, nicht der Geschmack ist es, der sie lockt, auch nicht die Wirkung, die Farbe stimmt sie froh, das Orangerot, es leuchtet ihr entgegen. Aura Soma, ihre Regenbogenfarben, Farben der Seele. Während sie die Flüssigkeit in winzigen Schlucken am Gaumen entlang gleiten lässt bricht und bröckelt es an allen Stellen, ihr pudriges Makeup hinterlässt ebenso Spuren am Glas wie der dezent rote Lippenstift. Abends vor dem Spiegel sieht sie wie die Haut sich löst, fahle Schuppen abfallen wie Putz oder Mörtel. Eine Maske löst sich aus Make up Resten und Fetzen abgestorbener Haut. Sie betrachtet das weiße Wattepad mit den bräunlichen Spuren, legt es zur Seite, setzt sich auf den Toilettendeckel und schlägt die Hände vors Gesicht. Ihr Kopf vornübergebeugt, das Haar struppig und vom Färben hart, steht zu beiden Seiten des Kopfes ab, in sich zusammengesunken ihr Körper, federleicht, als zerfalle er zu Staub. Und es wird etwas geschehen, was sie nicht vermutet, etwas, was die Dinge wendet und dreht und wieder dreht und wendet.

      Er steigt wie ein Phönix aus der Asche ihres Lebens. Ein jugendlicher Liebhaber mit dunklem Locken, er sieht aus wie er aussehen soll, er tut, was sie will. Glutrote Hoffnung, himmelblaue Augen, die besten Absichten, ein Künstler. Und noch ehe sie begreift was geschieht ist schon alles geschehen, noch ehe sie nachdenkt ist ihr Leben ein undenkbares. Und auf einmal kann sie handeln, der Stillstand gerät aus den Fugen, Aufruhr und Bewegung herrschen, fast hatte sie vergessen wie das aussieht. Buntes Leben, helle Tage, hüpfende Herzen.

      Leonardo

      Zukunftsmusikalische Einblendung würde Leonardo seinen Einzug bei Justine später nennen, eine Zukunft, die im Alltag zerrinnt, eine umgedrehte Sanduhr, deren Zeitspanne abläuft. Justine, seine Rettung. Komm´ zu uns, das ist einfacher. Ich wünsche mir wieder eine Familie. Das Flehen in ihrer Stimme, das Bitten, wie einsam sie sein musste. Warum nicht, es ändert nichts, es macht nichts. Wenn er den Standort und die Wohnung wechselt wird er wieder am selben Schreibtisch sitzen, denselben Bildschirm anstarren, verzweifelt auf Mails warten, im Internet surfen, den Roman im Nacken wie eine böse Drohung, sein Damoklesschwert. Es wird das immergleiche Leben sein und bleiben, ein ewiges Leben, sein Schriftstellerleben. Niemand darf gezwungen werden, einen Roman zu schreiben, niemand darf zu künstlerischem Ausdruck gezwungen werden, niemand darf gezwungen werden, sich über den Alltag hinaus darzustellen. Er muss sich selbst zwingen, zwingt sich, ohne es zu wollen. Morgens sitzt er vor seinen Figuren, vor einer Geschichte, er sucht einen Anker, den Gefühlsanker, den er auswerfen kann und an den er sich einige Stunden klammert. Ein Halten und Hangeln beginnt, er stürzt ab, er fängt sich wieder, er hält Sätze fest, kleine Abschnitte gelingen, das Ganze ist schwer, das Ganze festzuhalten dazu fehlt der Anker. Sein größter Wunsch wäre ein roter Faden, ein leuchtend roter Faden, ein samtiger flauschiger Geduldsfaden, der seinen Text davontrüge wie ein fliegender Teppich.

      Realität interessiert ihn nicht, Alltägliches ist ihm fremd, eine Bedürfniserzeugungsmaschinerie ohne Sinn. Essen, trinken, schlafen, lieben, reden, reisen und wieder reisen, reden, lieben, schlafen, trinken, essen. Am Ende lauert der Tod, lauert allen auf, umschlingt sie, frisst sie auf, ihre Lebensentwürfe, ihre Pläne, ihre Wünsche, am Ende lauert ein Verfall, nichts weiter, am Ende lauert die Auslöschung. Wer schreibt, der bleibt. Eines Tages wird man ihn entdecken, eines Tages wird er reich und berühmt werden, post mortem, eines Tages, vielleicht. Und wie andere von ihren Kindern und Enkeln bewundert werden, werden seine Leser seine Romane und