Justine la Mour

Selfie


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erlaubt sich auch in seinem Leben Einzug zu halten, sie drängt sich auf und schiebt sich zwischen seine Manuskriptseiten. Leben, brüllt sie ihn an, Leben bitte sehr, jetzt leb` doch endlich mal!

      Er muss sie besänftigen, auf sie eingehen, die Realität wird sonst böse, fährt ihre Krallen aus und schlägt ihm ins Gesicht, zerkratzt seine Haut. Soweit darf es nicht kommen, immer ein bisschen Realität beachten, das muss sein, ein bisschen Realität kann nicht schaden. Er lässt sie zu, die Telefonate mit Freunden, die defekten Heizplatten, die Zahnschmerzen, die liebenden Frauen. Tief in seinem Innern schlummert eine Erkenntnis, tief in ihm liegt eine andere Wahrheit begraben, seine Tapetentür zu einer anderen Welt: Wer es schafft in seiner Fantasie zu leben, lebt nicht freiwillig in der Realität.

      Das Wohnviertel, in dem er seit Jahren allein in einem winzigen Apartment lebt, weicht zurück. Im Rückspiegel von Justines Firmenwagen werden die Dinge kleiner und kleiner, dunkle Ecken, blassblaue prall gefüllte Müllsäcke am Straßenrand und streunende Hunde mit verklebten Augen, die blind in etwas hinein starren. Konturen lösen sich auf, rissige Farbflecken bleiben, flackern unruhig hin und her bis sie schließlich ganz verschwinden: Er lässt sich fallen und schmiegt sich in die beigen Lederbezüge während sie ihre Hand auf seinem Oberschenkel platziert. Erinnerungsbilder an seine ersten Jahre in der Stadt wirbeln auf, wie letzte blitzartige Einsprengsel aus der Vergangenheit kurz vor einem plötzlichen Tod. Er selbst als junger Mann, fest entschlossen, sich durch nichts abschrecken zu lassen, Künstler zu werden, Lebenskünstler und Schriftsteller, Liebeskünstler und Lebemann. Sein Ziel, die Eroberung der Stadt mithilfe eines noch nicht geschriebenen Bestsellers. Pappkartons, Plastiktüten und Reiserucksäcke lagern in einem Schließfach am Bahnhof, er schlendert mit stone washed Jeans und schwarzem T-Shirt zu seinem ersten Wohnungsbesichtigungstermin bei einer Genossenschaft.

      Wie Käfige ziehen sich die zum Teil vergitterten Fenster der winzigen Apartments an der schmutziggrauen Fassade entlang. Auf dem Klingelschild verschwimmen die Buchstaben, er muss Reihe für Reihe durchgehen, mit dem Finger entlanglaufen, sich konzentrieren, hunderte von Namen, zum Teil handschriftlich, überfallen ihn bis er den des Vormieters findet. Das Tor öffnet sich, er schleicht hindurch, in einer dunklen Ecke sitzt ein Hund und räkelt sich, sein schwarzes struppiges Fell ist an einigen Stellen verätzt und die blutrote Haut schimmert durch, auf seiner grünlich schimmernden Iris schwarze Punkte. Als Leonardo weiterläuft springt er hoch, jault laut auf und beschnüffelt seine Beine. Riesige hellblaue Müllsäcke versperren die Eingänge, Aufgänge und Zugänge zu den Behausungen, prall gefüllt drohen sie jederzeit aufzuplatzen, an einigen Stellen Risse oder Löcher. Er überquert den ersten Hof und gelangt in einem weiteren, wo sich ein Meer von Hochhäusern auftut. Sonnenschirme auf Balkonen, orange, gelb, rot, weiß leuchten ihm entgegen. Das Hellgrau der Betonmauer blendet im grellen Sonnenlicht, die Farbe schmerzt obwohl sie an vielen Stellen längst abgeplatzt ist, Risse überall. Der Hintereingang steht offen, das Dunkel schlägt ihm entgegen, eine steile Treppe führt in den ersten Stock, kein Aufzug zu sehen, er hält sich am Geländer fest und fühlt sich schwach, ein Geruch von angebratenem Chili liegt in der schwülen Luft. Nie mehr arm sein. Wo hat er diesen Ausspruch schon einmal gehört? Nie mehr arm sein, nie mehr anstellen, nie mehr bitten müssen. Der Satz setzt sich fest in seinem Kopf, frisst sich ein, Säure, die Spuren hinterlässt, eine Schrift unübersehbar, eine Stimme, unüberhörbar. Er bezieht ein Apartment im ersten Stock, das von den Fassaden der umliegenden Häuser verdunkelt wird. Durch einen schmalen Gang mit Kochnische gelangt man in den winzigen quadratischen Raum, links davon ein Duschbad, in dem er sich einmal um sich selbst drehen kann. Mehr ein Tasten als ein Gehen, das ihn voranbringt. Ein eingebauter winziger Schreibtisch am Fenster, eine Matratze gegenüber. Er schließt die Augen.

      Die Toilettenspülung der Nachbarwohnung dröhnt, ein abgestandener Geruch zieht durch den Raum, der mittelbraune Teppichboden kratzt unter seinen nackten Füßen. Flucht, Flucht nach innen, die Erfindung wird ihn aus dieser Gegenwart befreien. Die Geschichten in ihm, die Figuren, sie werden die Enge überleben, ihn ablenken, in andere Orte und Zeiten entführen. Wie lange wohnt er dort? Später trügt ihn die Erinnerung, weigert sich die gelebten Zeiten korrekt zu speichern, bleibt unzuverlässig in der Entfernung. Sind es drei Jahre oder vier oder drei Jahre und vier Monate? An den Geruch angebratener Speisen erinnert er sich, an das dunkle Treppenhaus mit dem wackligen Geländer, ausgetretene Holztritte, den beißenden Zitronenduft der Putzmittel, laute Stimmen in der Nacht und heulende Hunde und daran wie er schreibt und schreibt und schreibt. Leonardo verschickt Mails und Bitten und Briefe und Telefonate in alle möglichen Literaturwelten, Agenturen, Wettbewerbe, Stipendien. Seine Kurzgeschichten werden prämiert, einen Kriminalroman soll er schreiben und kann es nicht, die Geduld fehlt. Wie soll er Entwicklungen zeigen, Figuren bauen, Geschichten über Jahre hin entwickeln, über Jahrzehnte, Generationen? In seinem Leben nur Brüche, Bruchstücke, Splitter, liegengelassene Entwürfe von Liebe, Beruf, Leben. Morgens sitzt er im Café nebenan und denkt an die Figuren in seinen Texten, die liegen gelassen auf Papierfetzen und in kurzen Skizzen hinterlegt auf seiner Festplatte warten. Nur seine Aufmerksamkeit schenkt ihnen Leben, der Odem des Lebens verlöscht ohne ihn. Schon seit längerem ist ihm aufgefallen, Trennungen quälen ihn nicht mehr, Bindungen lösen sich und neue entstehen ohne ihn zu beschäftigen. Ein Fließen der Zeit, angenehm und passend hat sich eingefunden, fast könnte er sich als zufriedenen Menschen bezeichnen.

      Er soll einen Kriminalroman schreiben, das einzige, was sich zur Zeit verkaufen lässt. Es müsste ihm doch gelingen, einen Mord, irgendeinen Mord als letzten Akt nach langen Kämpfen zu beschreiben. Aber nein, es geht nicht, kein Mord passiert, er will sich einfach nicht einstellen in seinen Texten. Gut und Böse, die Weltordnung, die Gerechtigkeit findet er nicht, kein Held, nicht einmal ein Kommissar kann ihm helfen seine Texte mit einem roten Faden zu versehen. Leonardo legt das Papier mit den Notizen zur Seite und kaut weiter auf seinem Bleistift. Der Geschmack nach Holz, nussig, trocken, er schluckt die winzigen Splitter, die abgeblätterte Farbe und lehnt sich zurück.

      Sein Alleinsein, mit spontanen Abenteuern versüßt, lässt ihn treiben, er mäandert von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und vergisst die Jahreszeiten. Weiße Blüten an Apfelbäumen, Schneefelder im Park, vergilbte Blätter auf Gehsteigen, staubige Hitze in flirrender Luft. Etwas geschieht ohne sein Zutun, er verlässt sein Apartment und draußen herrscht eine Welt aus Farben, Geräuschen, Gerüchen, weit entfernt von seiner Welt, in der das Ringen um passende Worte die Stunden zu einem einzigen Moment schrumpfen lässt.

      Die Frauengeschichten in seinem Leben sind keine Geschichten, dafür sind sie zu kurz, Episoden oder Momentaufnahmen wie mit einer Digitalkamera zufällig geschossene Bilder, manche in seinem Gedächtnis gespeichert, andere gelöscht. Ein ausgestreckter Zeh mit hellrotem Nagellack, eine Locke, im Ansatz dunkel, in der Mitte rötlich, in den Spitzen blondgefärbt, eine rasierte Scham, rosa schimmernd, ein Lächeln mit hochgeschwungenen Lippen, ein Augenblick aus schwarzer Iris. Die Namen der Frauen, gleich wieder vergessen, nur noch die Bilder ihrer Körperteile vermischen sich in seiner Erinnerung zu einer, der idealen Frau, die er noch finden wird, eines Tages vielleicht. Wenn er sie nicht mehr sucht, findet er sie, so lange er noch sucht, kann er es nicht, diese Erkenntnis schlummert in ihm, er trägt sie mit sich und wartet darauf, wie sie sich in Wirklichkeit einlöst.

      An manchen Tagen flaniert er umher, begibt sich in fremdschöne Stadtteile, in denen zu wohnen er sich nicht leisten kann. Jugendstilgebäude strahlen Pracht und Reichtum aus, ihre Fassaden glänzen golden in der Nachmittagssonne, er flaniert durch die Straßen und sitzt in Cafés. Ein Luxus von Endloszeit, durch die Finger rinnend, lässt ihn lächeln. Die Endloszeit bleibt nicht endlos, sie dehnt sich nur, er will sie halten, Augenblicke sammeln, nichts weiter, weiter nichts, redet er sich ein. Sein lockiges Haar ist dunkel, noch keine grauen Stellen an den Schläfen, sein Gesicht fast faltenfrei, nur auf der Stirn und an den Mundwinkeln erste Anzeichen trockener Haut. Niemand würde ihn für einen Schriftsteller halten. Der Milchschaum auf seinem Cappucino in Herzform, fast reut es ihn, den Löffel darin zu rühren, es zu zerstören, er schöpft den knisternden Schaum ab, führt den Löffel zum Mund und seufzt. In diesem Moment blickt Justine, von der er noch nicht weiß, es ist Justine, ihn an. Noch ist sie irgendeine Frau, nicht mehr ganz jung, noch nicht alt, in den besten Jahren, nichts weiter. Eine wie jede andere es sein könnte. Ihre dunklen Locken glänzen, in ihren Augen leuchtet etwas auf, zugleich trübt ein Tränenfilm die Iris. Ist es Liebe auf den ersten