Elle West

Die Glocke


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zu verdanken hatte oder er einfach gute Gene hatte, wusste er nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Tatsache war jedoch, dass er noch immer schlank, sein dunkelbraunes Haar noch voll war und er, obwohl er auf die 50 zuging, noch immer attraktiv auf Frauen jedes Alters wirkte. Rory war allerdings nicht nur gut aussehend, sondern ebenfalls intelligent. In jungen Jahren hatte er als Schriftsteller für ein kleines Lokalblatt angefangen und hatte sich kontinuierlich hoch gearbeitet. Mittlerweile schrieb er kaum noch eine Zeile selbst, ihm gehörten allerdings zehn Zeitungen. Rory war also ebenfalls reich. Und er hatte drei Kinder. Keine Söhne, also nicht unbedingt den Erben, den er sich gewünscht hatte, als Maisie vor 26 Jahren das erste Mal schwanger geworden war. Doch heute, als erfolgreicher Unternehmer und stolzer Vater von drei wunderschönen Mädchen, hatte er aufgehört, sich um seine Nachfolge Sorgen zu machen. Entweder er würde einen seiner Redakteure für die Nachfolge bestimmen oder eine seiner Töchter würde sich dazu bereit erklären. Im Grunde hoffte er, diese Arbeit selbst noch eine Weile ausführen zu können. Er ging gerne jeden Tag ins Büro und er kontrollierte gerne selbst eine Ausgabe, ehe sie in den fertigen Druck ging. Er hatte selbst gerne die Kontrolle über sein Eigentum, nur dann konnte er sicher sein, dass es ebenso funktionierte, wie er es sich vorstellte. Doch vielleicht, in ein paar Jahren, könnte seine mittlere Tochter, Hollie, diese Aufgaben übernehmen. Vielleicht in sieben Jahren. Dann wäre sie 30 und hätte vermutlich genug Erfahrungen mit dem Leben gesammelt, um ins Geschäft einzusteigen. Und er selbst würde dann auf die 60 zugehen und hätte genug Erfahrungen gesammelt, um sich zur Ruhe zu setzen.

      Neben Hollie, hatten Maisie und er noch Chloe, ihre älteste Tochter mit 25 Jahren, und Scarlett, die Jüngste mit ihren zarten 18 Jahren. Alle drei Mädchen lebten noch im Hause ihrer Eltern. Maisie würde sie erst ziehen lassen, wenn sie heirateten und ihr eigenes Leben führten. Rory selbst war eher der Meinung, dass sie ihr eigenes Leben erst dann führen könnten, wenn man sie in die Freiheit entließ, aber seine Frau war für derartige Gedanken unzugänglich. Maisie war ohnehin stur. Es war schwer, ihr etwas recht zu machen, weil sie eine selbstbewusste und ehrgeizige Frau war. Sie hatte Rory immer unterstützt und hatte auch zu ihm gehalten, als er mit seinen Zeitungsartikeln noch unbedeutend wenig Geld verdient hatte. Obwohl Maisie, eine geborene Benett, in einem schicken Herrenhaus mit unzähligen Dienstboten aufgewachsen war und in ihrer gesamten Jugend keinen Handschlag hatte selbst tun müssen, hatte sie sich nicht beschwert, als sie die Ehe mit Rory zur Selbstständigkeit gezwungen hatte. Dafür hatte er sie geliebt. Sie hatte ihn gefragt, ob er es wirklich wollte, die Schriftstellerei. Als er es bejaht hatte, hatte sie genickt und sich am nächsten Tag eine Arbeit als Schneiderin gesucht. Es war ihr nicht wichtig gewesen, ob die Leute über sie schlecht redeten, ob es unter ihrer Würde wäre, selbst zu arbeiten, weil der eigene Ehemann nicht genug verdiente. Diese Einstellung, so sagte sie stets war den adligen Briten vorbehalten, die ihrer Meinung nach noch immer glaubten, in ihren Adern fließe tatsächlich blaues Blut, was sie somit auch von reichen amerikanischen Emporkömmlingen unterschied. Maisie jedoch war reich geboren worden und hatte statt Hochmut, Durchhaltevermögen und Ehrgeiz mit in die Wiege gelegt bekommen. Sie hatte nur von ihm verlangt, dass Beste zu geben, zu tun, was in seiner Macht stand, um voran zu kommen. Vermutlich hätte sie nichts in seinem Sinne unternommen, hätte sie nicht an ihn und sein Talent geglaubt, hätte sie nicht erwartet, dass er Ehrgeiz besaß und zu mehr berufen war. Und er hatte angefangen, sein Bestes zu geben, über sich hinauszuwachsen. Nicht nur um seinetwillen, sondern auch für seine starrköpfige, tapfere Ehefrau, die er vergötterte, wie sie es verdiente.

      Am heutigen Abend trug seine Frau, die trotz der Geburt von drei Kindern, noch immer schlank und wohlgeformt war, ein knielanges Fransenkleid, wie es gerade Mode war. Sie hatte ihre langen, blonden Haare auf Kinnlänge schneiden und in Wellen legen lassen. Zusätzlich trug sie ein robinrotes Stirnband mit einer Feder, die bei ihren Bewegungen wippte. Ihr Kleid war ebenfalls rot und schmeichelte ihren grünen Augen. Obwohl Maisie Coleman bereits 44 Jahre alt war, war sie eine Augenweide und zog die Aufmerksamkeit der meisten Männer auf sich. Ihre Töchter hätten unterschiedlicher nicht sein können. Chloe hatte die Haarfarbe ihrer Mutter, trug ihre Haare aber unabhängig von der Mode immer schulterlang und glatt. Sie hatte blaue, strahlende Augen und eine üppige Figur, war ein bisschen zu füllig für die engen Kleider, die sie am liebsten trug. Dennoch hatte sie ein hübsches, freundliches Gesicht und war nicht aufgrund ihres Äußeren noch unverheiratet, sondern weil sie eine Feministin als Busenfreundin hatte, die in ihren Ansichten allzu sehr auf sie abfärbte. Chloe wollte nicht heiraten. Sie sagte sogar, sie wolle niemals heiraten, weil sie auch ohne Mann ein vollwertiger Mensch sei.

      Scarlett hingegen war das genaue Gegenteil von ihrer ältesten Schwester. Sie hatte mittelblondes Haar, das sie nun, wie ihre Mutter trug und sie hatte auch die grünen Katzenaugen ihrer Mutter. Sie war von großer, schlanker Statur aber für ihre 18, beinahe 19 Jahre noch sehr naiv und unschuldig. Rory fand, dass sie Maisie zu sehr am Rockzipfel hing, weil sie auf diese Weise in einer schnelllebigen Metropole wie New York City niemals etwas aus sich machen könnte. Allerdings war Scarlett ohnehin nicht ambitioniert ihrem Vater nachzueifern. Sie interessierte sich vielmehr für Mode, den neusten Klatsch und ließ sich eher vom Radio, als von einer Zeitung unterhalten. Außerdem überprüfte sie jeden Mann, der ihr begegnete, auf seine Eignung als ihr Ehemann. Rory und Maisie stimmten darin überein, dass Scarlett mit Sicherheit die erste ihrer Töchter sein würde, die heiraten würde. Sie wirkte so unschuldig wie ein Engel und galt deshalb als Everbody’s Darling.

      Und dann war da noch Hollie. Sie hatte, entgegen der Mode, lange dunkelbraune, beinahe schwarze Locken, die sie mal natürlich wild gelockt, mal geglättet trug. Ihre Augen waren so braun wie die ihres Vaters, aber ihre Form war anders. Sie hatte Mandelaugen und so lange Wimpern, dass ein Augenaufschlag von ihr einen Fremden zum Verstummen bringen konnte. Sie war schlank und klein, wohlproportioniert und immer elegant, aber niemals übertrieben gekleidet. Heute trug auch sie ein Kleid, allerdings im schlichten Schwarz. Ihre Schuhe, ihre Handschuhe und ihr Hut allerdings, waren in einem auffallenden Rot. Sie war eine Schönheit, aber ihr fehlte das Talent ihrer Schwestern, sich mit Fremden zu befreunden. Sie war distanziert und mochte ihre Mitmenschen meistens nicht sonderlich. Also schwieg sie lieber, wenn sie nicht ausfallend werden wollte und ging, ehe jemand versuchte, ihr zu nahe zu kommen. Obgleich Rory es nicht zugegeben hätte, so liebte er seine mittlere Tochter doch ein wenig mehr als die beiden anderen. Vielleicht, weil sie sich ebenso wie er für Literatur, Theater und Musik begeistern konnte. Sie las nicht nur jede relevante Tageszeitung von den mindestens 15, die jeden Tag veröffentlicht wurden, sondern sie schrieb auch selbst. Er sah sie immerzu schreiben, seit sie 13 war schrieb sie jeden Tag in ihre Notizbücher. Aber bisher hatte sie ihn noch nicht darum gebeten, ihre Werke zu lesen. Sie hatte ihn noch nicht gebeten, seine Beziehungen spielen zu lassen und sie zu veröffentlichen. Und obwohl sie beide wussten, dass dies nicht nur in seiner Macht stünde, sondern auch in seinem eigenen Interesse wäre, sprachen Vater und Tochter es niemals an. Er war jedoch stolz darauf, dass sie zu viel Stolz besaß, um ihn um einen Gefallen zu bitten und er war noch stolzer über ihren Ehrgeiz, der sie dazu veranlasste, es alleine versuchen zu wollen.

      Heute waren sie auf einem Bankett eingeladen, dass der Journalist Harold Ross anlässlich der ersten Ausgabe seiner morgen erscheinenden Zeitung The New Yorker ausrichtete. Rory, der selbst Eigentümer einiger Zeitungen war, war sowohl aus beruflichen Gründen, als auch aus privatem Interesse hierzu erschienen. Er schätzte Ross, weil er ein guter Journalist war und er glaubte daran, dass seine Zeitung erfolgreich sein würde.

      Rory Coleman saß mit seiner Familie an dem Tisch von Ross’ Ehefrau Jane Grant, die, wie er, ebenfalls eine gefragte Journalistin war. Wie ihr Ehemann, besaß auch sie ein herausragendes schriftstellerisches Talent, sodass sie bereits mit 16 für die New York Times geschrieben hatte. Ross selbst hatte bereits mit zarten 13 Jahren eigene Texte veröffentlicht. Jane Grant war Anfang 30, hatte kurzgeschnittenes, braunes Haar, eine hohe Stirn und eine gerade, große Nase. Rory wusste, dass sie eine Feministin war und ebenso wie die Kolumnistin Mia Rubinstein, die neben dem Redakteur Blake Simmons zwischen Jane und Hollie saß, nicht mit ihren Ansichten hinter dem Berg hielt. Allerdings hatte er immer gehofft, derartige Einflüsse von seinen Töchtern fern zu halten. Nicht, weil er den Frauen nicht ähnliche Rechte gönnte, wie Männer sie hatten, sondern viel mehr, weil er überzeugt davon war, dass Fanatismus immer ins Verderben führte und er diese Zukunft für keines seiner Kinder wollte. Diese Frauen jedoch waren nicht