Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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um ihn aus der Depression zu holen? Glauben sie, dass er jemals wieder sprechen kann?“

      „Er bekommt Trizyklika gegen die Depression. Wie gesagt, man kann jetzt noch keine langfristige Prognose abgeben. Er besteht die Hoffnung das er die Sprache zurück erlangen kann, aber wann und in welcher Form weiß nur Gott.“

      Er blickte etwas ratlos drein. Ob es diese distanzierte, extrem versachlichte Sprache war, die die Barriere zwischen ihm und den Menschen, die er behandelte, aufbaute, um sich selbst zu schützen ging es mir durch den Kopf. Als wir gegangen waren, dachte ich über die Art der Formulierungen nach. Alles sehr präzise, viele Fremdwörter, ohne jegliche Emotion. Ist es der Weg wie sie ihren Beruf auf Dauer ausführen können? Mit dem sie die Distanz zwischen sich und dem Elend, das sie umgibt, wahren?

      Wirklich weitergeholfen hatte uns das Gespräch nicht. Das Warten brachte uns noch um den Verstand.

      Es fiel so schwer Verständnis aufbringen, stark zu sein, nicht aufzugeben. Oft glaubte ich mich am Rande dessen, was ich noch geben konnte. Ich spürte Wut, wollte ihn manchmal schütteln, ihm entgegenschreien, dass er ein kleinwenig mithelfen muss. Michael litt unter seiner Unbeweglichkeit, in allen Aspekten seines Lebens. Konnte man seinen Zustand noch Leben nennen?

      Der Arzt versicherte ihm immer wieder, dass er eine gute Chance hätte sowohl wieder Laufen als auch Sprechen zu lernen, aber er müsse auch selber wollen. Die Röntgenbilder sahen vielversprechend aus und das EEG war unauffällig. Die Brüche und die anderen Verletzungen heilten zwar langsam aber man konnte deutliche Fortschritte erkennen.

      Er brauche Geduld. Ihm und uns halfen diese Aussagen nicht, es schien als würde er daran zerbrechen. Michael war ganz tief in seiner Depression gefangen, es fehlte ihm jeglicher Antrieb weiterzukämpfen. Er sehnte sich den Tod herbei, am liebsten wäre er über die unsichtbare Grenze gegangen. Er war willenlos, nur noch eine Hülle.

      In der Bewegungstherapie verhielt er sich wie eine Puppe, er ließ es einfach mit sich geschehen. Es schien, als könnte er die Situation nur noch ertragen indem er seine Seele von seinem Körper trennte. Die Schwestern setzten ihn für einige Stunden am Tag in den Rollstuhl. Er ließ es mit sich geschehen. Wenn ich kam saß er teilnahmslos, in sich zusammengesunken am Tisch oder vor dem Fenster und starrte Löcher in die Luft. Sein Blick wirkte stets abwesend, leer.

      Inzwischen war es Spätsommer, am Morgen lag dichter Nebel über dem Land, die Tage wurden bereits wieder deutlich kürzer. An guten Tagen schob ich ihn nachmittags im Klinikgarten, ich suchte dann einen schönen Platz für uns aus. Stellte ihn so, dass die Sonne nicht blendete, passte auf, dass ihm nicht kalt wurde. Ich las aus unseren Lieblingsbüchern vor, da ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte. Hielt seine Hand.

      Es war zum Heulen den Frust und die Wut und Verzweiflung mit anzusehen und den stillen, allgegenwärtigen Kampf den er mit sich selbst führte. Die Mühe, die es ihn kostete auch nur einfache Silben zu formen. Ich wünschte mir so sehr, dass er nicht aufgab und wusste nicht wie ich ihm helfen sollte. Wenn, dann haben wir auf Papier kommuniziert, der linke Arm war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben und es stellte sich als Glück heraus das er Linkshänder war. Somit konnte er zumindest schreiben.

      Ich konnte nur erahnen was in ihm vorging. Das Schreckliche, das er durchlebt hatte, immer noch durchlebte. Es hatte sich wie ein tiefer Stachel in seine Seele gebohrt, er konnte es nur schwer verarbeiten. Er konnte die negativen Gefühle nicht zulassen, ohne daran gänzlich zu zerbrechen. Es war ein großer Fehler, sie zu verdrängen, davonzulaufen, nicht stehenzubleiben, die Furcht nicht zu bekämpfen, sie zu zähmen. Ihm fehlte die Kraft, er konnte nicht mehr.

      An einem schönen Nachmittag Anfang September saßen wir im Klinikgarten. Ich hatte den Rollstuhl so neben die Bank geschoben das Michael neben mir saß.

      Der Föhn, der warme Wind der von den Bergen herabfiel, erzeugte eine kristallklare Sicht. Der Himmel war stahlblau, ohne jegliche Wolke. Die ersten Blätter fingen an, sich langsam zu verfärben. Es war eigentlich noch viel zu früh. Vor uns breitete sich das Panorama des Karwendels aus. Eine Bilderbuchlandschaft wie auf einer Postkarte.

      Micha wirkte bedrückter als an anderen Tagen, er wollte etwas erzählen, konnte jedoch nicht, was ihn zusätzlich frustrierte. Heute ging es ganz besonders zäh. Selbst Worte die er inzwischen richtig gut konnte, wollten nicht klappen. Er hatte an diesem Tag auch stärkere Schmerzen als sonst, es ging ihm nicht gut. Er war blass, die Lippen fast farblos, dunkle Schatten unter den Augen, auf der Haut lag ein dünner feuchter Film. Hatte er wieder Fieber? Seine Augen sahen matt und doch ganz glasig aus. Micha hatte einen Block mit Papier auf seinen Knien liegen, mit zitternder Handschrift schrieb er etwas darauf.

      „Ich will sterben! Hilf mir. Bitte!“

      Er sah mich flehend an. Seine schönen blauen Augen verdunkelten sich, füllten sich mit Tränen.

      Sekundenlang stockte mir der Atem, jetzt war es ausgesprochen, die düstere Ahnung bestätigt. Er hatte sich selbst aufgegeben. Ich war wie versteinert, mein Herz setzte einige Schläge lang aus. In mir stieg Panik auf, ich kritzelte spontan ein großes NEIN darüber, fing an unkontrolliert zu sprechen, fast schon beschwörend, dass er schon so weit gekommen war und wir den Rest des Weges auch noch schaffen würden.

      Wen wollte ich überzeugen, ihn oder vielleicht mich selbst?

      Er solle sich umsehen es war ein wunderschöner Tag. Aber seine Verzweiflung war so greifbar, der Tod stand neben uns. Er wollte sterben. Er hatte endgültig aufgegeben. Ich redete, und redete, könnte nicht mehr wiederholen was ich erzählt habe, nur um die innere Panik, die mich überrollte, zu besiegen. Schlagartig spürte ich mein Herz wieder schlagen, so fest das es wehtat.

      Erst liefen ihm nur stumm die Tränen herunter, dann wurde ein herzergreifendes Schluchzen daraus. Er wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, schien zusammenzubrechen.

      Was sollte ich machen? Unsicherheit breitete sich aus. Ich nahm ihn in den Arm, überlegte fieberhaft was ich tun könnte, konnte jedoch keinen klaren Gedanken fassen. Meine eigene Hilflosigkeit überwältigte mich, wie so oft in diesen Tagen.

      Es gab nur noch uns, die Welt um uns rückte in weite Ferne. Er zitterte am ganzen Körper. Ob uns jemand bemerkt hat? Ich weiß es nicht. Wir waren allein. Die Geräusche der Umgebung drangen nur wie aus weiter Ferne zu uns. Nach einiger Zeit hatte ich mich wieder etwas gefangen, ich fing erneut an mit leiser, zärtlicher Stimme mit ihm zu reden wie mit einem kleinen Kind. Hielt ihn fest, versuchte ihn zu trösten, streichelte ihn, dabei wurde mir bewusst wie abgemagert er war. Man konnte jede Rippe fühlen. Kraulte mit stummer, mitfühlender Zärtlichkeit sein Haar. Ich zitterte vor Angst, hoffte genug Einfühlungsvermögen aufzubringen, die richtigen Worte und Gesten zu finden um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war, dass ich ihn mehr als alles andere liebte.

      Es fiel mir so unendlich schwer Stärke zu zeigen und Hoffnung zu verbreiten. Ich hatte selbst so viele Zweifel und wusste nicht wie es weiter gehen sollte. Auf keinen Fall wollte ich ihn gehen lassen.

      Nach einer Weile wurde er ruhiger, stumm blickte er mich an, es war so, als wenn er meine Gedanken lesen würde. Alle konnte ich täuschen, nur ihn nicht. Er strich mir über die Wange, ich nahm seine Hand und drückte sie fest dagegen. Spürte die Kühle, seine Finger waren ganz kalt. Schon wieder spürte ich die Tränen unter meinen Lidern. Alles, nur das nicht, ich musste jetzt stark sein redete ich mir ein. Ich konnte ihn nicht ansehen, schloss für einen Moment die Augen um mich zu sammeln. Er zog meine Hand zu seinem Mund, plötzlich merkte ich wie seine Lippen meine Handfläche berührten, sie küssten.

      Warum tut er das jetzt? Ich erstarrte, auf der einen Seite sehnte ich mich nach seiner Liebe, auf der anderen traute ich in der aktuellen Situation meinen eigenen Gefühlen nicht über den Weg. Wie versteinert saß ich da, er zog seine Hand zurück streichelte ganz leicht meine Wange. Jetzt tröstet er mich! Ich wollte doch für ihn da sein, ich fühlte mich wie ein Versager.

      Tom, kam an jenem denkwürdigen Tag abends unerwartet vorbei. Die Geschehnisse des Nachmittags hatten mich aus der Bahn geworfen. Er betrachtete mich gleichmütig, um seinen Mund ein kaum angedeutetes Lächeln und schüttelte ungläubig den Kopf. Ich versuchte meine bröckelnde