Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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seine Arbeit, schaltete die Bandsäge ab. Stille kehrte ein. Mit der ihm so typischen Handbewegung klopfte er die Sägespäne von seiner Arbeitsjacke. Er roch nach Holz, Zigarettenrauch und Schweiß. Die Vertrautheit der Umgebung gab mir Halt.

      „Hallo, du siehst blass aus“, begrüßte er mich.

      Er kam auf mich zu und blieb kurz vor mir stehen. Früher hätten wir uns umarmt, jetzt erschien es uns unpassend. Wir gaben uns wenigstens die Hand. In diesem Moment realisierte ich, wie traurig ich darüber war, dass wir uns so fremd geworden waren. Es lag eine unüberbrückbare Distanz zwischen uns.

      Intuitiv wusste er, dass ich nicht mit ins Haus kommen wollte, er fragte mich ob ich etwas essen wolle, wir könnten in den Biergarten am See fahren und uns dort in Ruhe unterhalten. Ich aß gerne frisch geräucherte Renken. Er wollte es mir leicht machen. Er sagte, er geht sich noch schnell umziehen, vorher pustete er mir der Pressluft seine Arbeitssachen sauber.

      „Wir treffen uns dann dort“, sagte ich während ich ins Auto stieg und losfuhr.

      Kurze Zeit später kam mein Vater nach. Er hat nicht viel gesagt, er hat mir einen Umschlag in die Hand gedrückt. Ich schaute nicht hinein, sondern steckte ihn in meine Tasche. Ich glaube, er hätte mich gerne in den Arm genommen. Ich konnte es nicht zulassen. Er hat es gespürt und respektiert, und sich mir gegenüber auf die Bank gesetzt. Er hat beim Fischer frische geräucherte Renken geholt und Brot. Ein himmlisches Mahl, sonst lebte ich von klarer Brühe, billigem Brot oder Nudeln. Etwas anderes konnte ich mir nicht leisten.

      Wir haben über Belanglosigkeiten geredet. Er hat mich die ganze Zeit beobachtet, ich wusste, dass er fast nicht hinsehen konnte. Aber er wusste auch: Wenn er versucht, mir zu nahe zu kommen, ergreife ich die Flucht.

      „Rufe an, wenn du etwas brauchst, oder reden möchtest“, sagte er zum Abschied.

      Viel später erfuhr ich, dass er mit Tom gesprochen hatte. Er wusste viel mehr als ich angenommen hatte. Erst habe ich’s als Verrat empfunden, aber es war aufrichtige Sorge.

      Kapitel 7

      Durch das geschenkte Geld konnte ich die dringendsten Rechnungen bezahlen und hatte sogar die Möglichkeit ein paar Tage Urlaub an einem der Klinik nahegelegenen See zu verbringen. Es war August und Ferienzeit.

      Der Campingplatz lag direkt am See. Ich hatte mein Fahrrad dabei und konnte mit dem Rad zur Klinik fahren. Unser kleines Zelt hatte die Ausmaße einer Hundehütte, ich hatte es an einem schattigen Platz unter einem Baum aufgebaut. Man konnte in ihm nur sitzen, es war gerade mal Platz um zwei schmale Luftmatratzen nebeneinanderzulegen. Das Wetter war gut ich hielt mich die meiste Zeit im Freien auf. Wenn ich nicht in der Klinik war, saß ich im Schatten und las oder schlief oder fuhr mit dem Fahrrad in der näheren Umgebung spazieren.

      Ich wurde ruhiger, es ging mir wieder besser. Ich konnte sogar wieder lachen. Meine wechselnden Zeltnachbarn waren sehr nett, wir unterhielten uns über das Wetter, die schöne Landschaft, über Belanglosigkeiten. Ich habe ihnen nie von Michael erzählt. Mit ihnen war es, als wäre nie etwas passiert. Die Normalität tat mir gut.

      Tom kam oft zu Besuch. Ich denke, meine Zeltnachbarn glaubten, er wäre mein Freund. Wir setzten uns dann an den See und schauten den Enten und Segelbooten zu. Selbst mit ihm konnte ich nur oberflächlich über die Dinge die in mir vorgingen, sprechen. Ich schlief unregelmäßig und ich grübelte viel. Ich fragte mich immer wieder, wie meistern wir die Zukunft? Schaffen wir das? Und spielte das Warum-Spiel.

      Kleine Fortschritte zeichneten sich ab. Michael war seit einiger Zeit in ein normales Zimmer verlegt worden, das er mit zwei anderen teilte. Die Gesellschaft seiner beiden Zimmerkollegen führte ihm vor Augen, dass andere mit einem ebenso bitteren Schicksal weiterleben mussten.

      Rudi hatte durch einen Motorradunfall das linke Bein unterhalb des Oberschenkels verloren. Er war 24 Jahre und überspielte seinen aufgestauten Frust gekonnt. Auf dem zweiten Blick war jedoch schnell klar, dass sein Sarkasmus nur dem Selbstschutz diente. Er war sehr verbittert darüber, dass ein paar Sekunden Unaufmerksamkeit und Übermut sein ganzes Leben verändert hatten.

      Christian hatte mehrere Wirbelbrüche, er war bei der Arbeit von einem Gerüst gestürzt. Er war erst 19 und machte eine Maurerlehre. Trotz alledem strahlte er am meisten Lebensmut von den Dreien aus, auch wenn er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde. Er schmiedete Pläne für seine Zukunft.

      Michael hatte zu diesem Zeitpunkt mit seinem Leben abgeschlossen. Eine tief depressive Stimmung hatte ihn in Besitz genommen. Er war ganz tief im Tal der Tränen gefangen, in einem bleiernen Mantel von unendlicher Resignation. Es fiel ihm schwer den Kontakt zur Außenwelt aufrechtzuerhalten. Lethargie bestimmte sein Handeln. Durst zu verspüren und die Kraft aufzubringen, die Tasse zu nehmen, kostete ihn fast übermenschliche Kräfte. Gefangen zu sein in einer Welt, die nur noch aus Hoffnungslosigkeit bestand, wirkte sehr bedrohlich auf uns.

      Sabine wollte mit dem behandelnden Arzt über seinen besorgniserregenden Gemütszustand sprechen. Ich hatte sie gefragt ob, ich mitkommen könnte. Sie hat den Arm um mich gelegt und genickt. Es war derselbe Oberarzt, der mit uns in der Nacht des Unfalls gesprochen hat. Sein Büro war klein, mit viel Fachliteratur vollgestopft und einigen Urkunden an den Wänden. Auf dem Schreibtisch stand ein Bild von seiner Familie, er hatte vier Kinder, die Jungs schon ziemlich erwachsen, das Mädchen mit den dunklen Locken sehr viel jünger. Ein Nachzügler? Das Bild von seiner Frau schien schon älter zu sein, die Frisur und die Kleidung passten nicht mehr in die aktuelle Zeit. Sie sahen glücklich aus. In einer Ecke nahe dem Fenster fristete eine Grünpflanze ihr trauriges Dasein. Er hatte keinen grünen Daumen.

      Wir nahmen auf den beiden Freischwingersesseln gegenüber seines Schreibtisches Platz. Er erklärte uns, dass Michaels Verhalten nicht ungewöhnlich sei. Studien hätten gezeigt, dass die wiederzuerlangende Lebensqualität insbesondere, in Anbetracht des vorliegenden Verletzungsgrades, von der Länge der künstlicher Beatmung und der Intensität der Intensivbehandlung stark beeinflusst würden. Bei Michael sahen diese Determinanten nicht gut aus. Auf der anderen Seite konnte man selbst zu diesem Zeitpunkt leider immer noch keine langfristige Prognose abgeben, manchmal gäbe es auch kleine Wunder.

      Gemessen an seinen Ausgangsverletzungen sei sein Zustand sehr zufrieden stellend. Mit steigender Verletzungsschwere würden die psychischen Probleme im Sinne der Bewältigung des Unfalls sich oftmals in emotionalen Störungen ausdrücken. Das war bei Michael der Fall.

      Michaels Schlaf-Wach-Rhythmus war durcheinander gekommenen. Die Schlafqualität wäre schon beim Gesunden eine Determinante der Lebensqualität, hieraus ließen sich Energieverlust, Stimmungsschwankungen und Müdigkeit erklären. Schlaf hat einen großen Einfluss auf das menschliche Wohlbefinden. Er fuhr weiter fort, die Kraftlosigkeit und geringe Motivation wären ebenfalls auf einer emotional-psychischen Ebene zu erklären. Man konnte sie sowohl durch rein körperlich-funktionelle Gesichtspunkte erklären, als auch durch körperliche und psychisch-reaktive Aspekte im Sinne der Unfallbewältigung bzw. -verdrängung. Die andauernden Schmerzen des Patienten würden den Zustand verschlimmern. Er versicherte uns, das Michael das Maximum an Schmerzmittel bekam, das zu verantworten war.

      Dann sprach er in seiner schon durch die Wortwahl sehr distanzierten Sprache weiter, Verletzungen des Gehirns und des Schädels wären zwar selten direkte Auslöser der Schmerzen, jedoch oft Ursache kognitiver Störungen, die zu emotionaler Labilität und zu verminderter Schmerztoleranz führen können. Der Teufelskreis aus mangelndem, schlechtem Schlaf führt zu Gereiztheit, Labilität und Unzufriedenheit. Die schlägt sich oftmals auf die Schmerzverarbeitung des Patienten nieder.

      Die einschlägigen Symptome der Depression wären unübersehbar: Die anhaltende Niedergeschlagenheit mit dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und eine ausgeprägte Schwäche des Antriebs und der Entschlussfähigkeit, sowie der Verlust des Interesses an allen Dingen des Lebens.

      „Ihr Sohn bekommt seit einiger Zeit stimmungsaufhellende Medikamente. Nur leider schlagen sie nicht in dem erhofften Rahmen an“, endete er seine Erläuterungen.

      Ich hörte die Worte, hatte aber Probleme