M.T. Schobach

Vorhof


Скачать книгу

beobachten können.

      Thomas nahm noch einen tiefen Schluck aus der Rumflasche und musste ein Würgen unterdrücken. Die pure Notwendigkeit brannte in der Kehle und gesellte sich, langsam kriechend, zur Essenz einer wütenden Zecherei. Der Wind gewann an Stärke. Aber nicht weniger zärtlich ließ die Natur seine von Asche geschwärzten Haare hin und her wehen. Wie eine Amme, die sanft und bestimmt ein Kind in den Schlaf wog. Die Sirenen kamen näher und der kakophonische Lärm von eben, gepaart mit dem Kreischen der Leute, verwandelte sich in eine Oper des Entsetzens. Das Jetzt und das Gewesene. Nur ein Traum in einem Traum.

       Wir sind nur treibende Stücke eines vielschichtigen Mosaiks. Betrachte die Oberfläche, breche sie auf und grabe, wühle darin. Um das alles zu verstehen, müssen deine Eindrücke, deine Erinnerungen mit mir, mit uns verflochten werden. Gib mir deine Hand.

      Kapitel 1: Erwachen

       Ich bin die Sühne.

      »Der Radiowecker schaltete sich ein und verkatert rieb ich mir die Augen. Kein Mensch hätte bei diesem Gedudel weiter pennen können. Es war 10.00 Uhr in der Früh, das behauptete jedenfalls der Wecker. Verschlafen griff ich nach dem Glas Wasser, das neben meinem Bett auf einem alten und mitgenommenen Nachttisch stand. Zwei Tabletten Aspirin verfeinerten das Getränk. Im volltrunkenen Zustand musste ich sie mir aus dem Badschrank geholt haben und in Gedanken klopfte ich, mich für diese Weitsicht lobend, auf die imaginären Schultern des Egos.

      Mir war ein bisschen schwindelig. Es dauerte einen Moment, bis die vom Schlaf getrübten Augen die Verschwommenheit ablegten. Als ich versuchte mich aufzurichten, schoss ein glühender Schmerz durch meinen Schädel und reflexartig fasste ich mir stöhnend an die Stirn. Mit beiden Zeige- und Mittelfingern massierte ich die Schläfen in langsamen, kreisenden Bewegungen, in der trügerischen Hoffnung, dass das helfen könnte. Tat es natürlich nicht. Kopfschmerzen also, und zwar keineswegs diese Art von leichtem Kopfweh, sondern jene, die es einem versuchen begreiflich zu machen, dass man es am Vorabend stark übertrieben hatte. Jene, die einem zu verstehen geben, anflehen, nicht nochmal wild die Nächte durchzumachen.

      Ich beschloss heute die Senkrechte zu vermeiden und ließ meinen geschundenen Leib wieder in ins Bett fallen. Die falsche Entscheidung. Achterbahn. Alles drehte sich. Mich an das weiße Laken klammernd, fühlte ich wie der Magen die Kontrolle über meinen Körper übernahm und sich seines Inhalts entledigen wollte. Kurz: Ich musste tierisch kotzen. Na dann guten Morgen. Widerwillig verließ ich das, den Umständen nach gemütliche Bett und taumelte fröstelnd durch den dunklen Flur in Richtung Badezimmer.

      Ich spürte nichts, war wie betäubt, zitterte und fühlte mich, wahrscheinlich wegen der harten Matratze, ziemlich gemartert. Ich sank erschöpft auf die Knie. Ohne die Toilettenbrille nach oben zu klappen, übergab ich mich mehrmals. Meine Hände verkrampften an der Schüssel und Tränen stiegen mir in die Augen, als Galle mit hochkam. Im Hintergrund spielte immer noch fröhlich der Radiowecker und entpuppte sich in diesem Zustand als ein grausames Folterinstrument. Eine aufdringliche weibliche Stimme trällerte irgendeinen Nonsens in ihr Mikro. Trivialen Mist, den man so plappert, wenn man übertrieben komisch und unterhaltend sein will. Über das Wetter, ein Fußballspiel der zweiten Liga und andere Lappalien.

      Unter Ankündigung wurde das Geplapper von einem geltungssüchtigen Wichser abgelöst. Jemand der offenbar in irgendeiner Schrottshow den ersten Platz erhalten hatte und dadurch zu einem talentierten Musiker geadelt worden war. Ich keuchte vor Anstrengung. Auf meiner Stirn breitete sich kalter Schweiß aus und ich versuchte den wiederaufkeimenden Druck, der vom Magen ausging herunter zu schlucken. Doch nur, um nochmal kotzen zu müssen. Ich erwies mich als äußerst undankbares Publikum und hoffte nicht der Einzige zu sein, der so empfand, aus Angst den Restglauben an die Menschheit zu verlieren. Das Lied hatte ich noch nie gehört. Es hatte jedenfalls gewisse Ähnlichkeiten mit dem Toiletteninhalt. Übertriebene Dur-Töne die meinem Leiden eine besonders zynische Note verliehen. Irgend so ein Techno-Trance-Verschnitt. Morgens um 10:00 Uhr. Herz und Bass schlugen wie wildgeworden im Takt und mir rann der kalte Schweiß in vielen kleinen Tropfen von der Stirn und tröpfelte behäbig auf den Fließboden.

      Erschöpfung gepaart mit den schrillen Klängen, brachen meine Moral nahezu vollständig. Halb sitzend, halb liegend blieb ich an das Klo gelehnt. Keine Ahnung, wie lange ich in der mitleiderregenden Position verharrte. Die Marterung ging erbarmungslos weiter. Sie, die schrille Nervensäge animierte die Zuhörer in dieser Sendung anzurufen, um peinliche Belanglosigkeiten aus ihren Privatleben preiszugeben. An die Themen erinnere ich mich nicht mehr. Ging es um Partnerschaft? Freunde? Sex? Hobbys? Partnertausch? Der Druck auf den Schläfen nahm zu und ich realisierte, dass mir ewig nichts mehr so sehr am Arsch vorbei gegangen sein musste.

      Das Verlangen in diesem Radiostudio Amok zu laufen und das Bedürfnis jener Sendung eine Art goldener Himbeere zu verleihen hielt sich die Waage. Irgendwann gewann die Resignation. Einige Zeit später, nach dem sich meine Gliedmaßen erholt hatten, überwand ich mich wieder, mich aufzurichten. Ich schraubte den rostigen Wasserhahn auf und zwang meinen Kopf, trotz des eiskalten Wassers, darunter halten. Ich erschrak, obwohl ich mich darauf innerlich vorbereitet hatte. Es brannte regelrecht vor Kälte und ich versuchte, tief ein und aus zu atmen. Das Schwindelgefühl ließ ein bisschen nach und der Drang sich zu übergeben glücklicherweise ebenfalls. Vorerst zumindest.

      Ich stemmte mich gegen das Waschbecken und blickte in den Spiegel. Zeitverschwendung. Hilflos versuchte ich, mein Spiegelbild zu betrachten. Es sah aus, als ob jemand mit einer wütenden Faust dagegen geschlagen hätte, völlig zersprungen. An den feinen und zum Teil auch groben Splittern, die es wie eine Eisblume aussehen ließen, klebte Blut. Wie klitzekleine Rubine. Hastig blickte ich auf meine Hände. Nichts. Wenigstens das. Keine Schnitte, noch nicht eine Rötung. Ich sah nur ein groteskes Mosaik, das mich wie ein abscheuliches Wesen darstellen ließ. Düster. Monströs. Auf surreale Art und Weise entstellt. Beängstigend.

      Ich strich mir gedankenverloren über das Gesicht und wunderte mich schon rasiert gewesen zu sein. Seltsam. So zerstört wie der Spiegel, konnte ich anscheinend nicht aussehen. Zugegeben, dies wäre auch eine starke Leistung gewesen. Das Bad wirkte beim Verlassen unfassbar klein und die weißen Kacheln erschienen eigenartig bedrohlich in ihrer Passivität. Irritierend und zermürbend. Ich blickte in den dunklen Flur.

      Auf keinen Fall wollte ich länger hier stehen, denn alles um mich herum wirkte feindselig. Egal ob Kachel, Spiegel oder Boden. Um den Lichtschalter zu finden, fuhr ich mit der Handfläche die grob tapezierte Wand entlang. Das dauerte eine Weile und Panik machte sich in mir breit. Komisch nicht wahr? Man beginnt immer an der falschen Seite. Klack. Die Glühbirne flackerte erst ein paar Mal, bevor ihr Licht langsam von tiefdunklem Rot zu grell Gelb wandelte. Gepaart mit dem speziellen Klang einer alten Lampe, die seit einiger Zeit nicht mehr benutzt worden ist. Ein hellklingendes und ein wenig schepperndes »Bing!« Ich musste ungläubig blinzeln. Es bot sich mir ein zutiefst verstörender Anblick. Überall lagen Dinge, die längst weggeworfen gehörten oder wenigstens in Kisten verstaut sein sollten.

      Ich schwankte durch den Flur, der so eng und bedrohlich wirkte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ihn zu durchqueren. Komischerweise fiel mir das erst jetzt auf. Auf dem Weg zur Toilette war mir das überhaupt nicht aufgefallen. Vielleicht existierten diese Dinge vor ein paar Minuten noch gar nicht. Ein surreales Gesamtbild. Überall hingen Fotos. Alte und Vergilbte. Verwaschene. Aber auch einige, die mit einem scharfen Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt waren. Beide Wände schienen damit volltapeziert. Ich versuchte wirklich, etwas auf ihnen zu erkennen. Zwecklos. Die anderen Bilder hatten wohl schon vor langer Zeit ihre Farben verloren. Jene wirkten wie eine Bildergalerie aus einem Schwarzweißfilm, aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Keine Ahnung.

      Der Fußboden war mit alten Kalenderblättern ausgelegt. In Beige oder ein in diese Richtung ähnelnder Farbton. Als ich sie näher betrachtete, stellte ich fest, dass darunter Zeitungen auf den Boden geklebt worden waren. Nur Titelseiten, zwar konnte ich ein paar Überschriften entziffern, ebenso wie einige Daten, hilfreich schienen sie mir trotzdem nicht. September beispielsweise. Aber auch sie waren kaum lesbar.

      Ich ging langsam und mit gedämpften