M.T. Schobach

Vorhof


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scheppernd und da, wo er hintrat, verdampfte das Blut. Sein grausiger Kiefer öffnete sich. »Strafe!« Hörte ich ihn grollen. Er hob die Waffe und hackte sie brutal in eine Kühltruhe.

      Der Schlachter wies mit dem anderen verbrannten Arm, der nur noch ein Stumpf zu sein schien, auf mich. »Sühne«, bellte er. Ein Blick auf die martialisch zerlegte Gefriertruhe ließ ihn wie das Jüngste Gericht erscheinen. Meine ganz persönliche Götterdämmerung. Dieses Etwas bewegte sich rascher. Fünf Meter. Gierig stierten seine Augenlöcher mich an. Ich klemmte die Knie gegen die Auslage. Umfasste den Rand und hievte meinen Körper nach oben, kletterte in die Kühlboxen, die längs in einer Reihe standen, voller abgelaufener Lebensmittel. Ich überschlug mich fast, beim Versuch von dem länglichen und schmalen Behälter in die nächste Kühltruhe zu gelangen. Er holte mit unglaublicher Geschwindigkeit aus und verfehlte jedoch knapp meinen Kopf, nur weil ich über ein verschimmeltes Wurstpäckchen gestolpert war.

      Ich hastete vorwärts, ohne zurückzublicken. »Gerechtigkeit«, hörte ich ihn wieder schreien. Noch immer humpelte er hinter mir her, umhüllt in einem Umhang voller Dunst. »Dein Henker!« Auf einmal verlor ich das Gleichgewicht und strauchelte. Er nutzte die Gelegenheit und schlug mich mit seinem Armstumpf nieder. Ich klatschte zum gefühlten hundertsten Mal auf den mit Blut überzogenen Gang. »Dein Tod«, raunte das Scheusal zufrieden. Rücklings, mit den Füßen vom Boden abstoßend, versuchte ich ihm zu entkommen. Da meine feuchten Handflächen dem glitschigen Flur kaum etwas entgegenzusetzen hatten, musste ich wie eine hilflos kriechende Marionette gewirkt haben, der ein oder zwei Fäden abgeschnitten worden waren.

      »Der Sühne entkommst du nicht!« Mechanisch hob er seine klobige Waffe in die Höhe und das Metall blitzte hell in diesem flackernden Wahnsinn. Ich schrie ihn an. Ich bettelte und flehte. Aber mit welchen Versprechungen und Bitten ich mich an ihn wandte, kann ich nicht mehr sagen. Der Anblick muss erbärmlich gewirkt haben, so viel ist klar. Und dann geschah etwas wunderbar Seltsames. Solche Dinge dachte ich, geschehen immer nur in Filmen. Eine Rettung in letzter Sekunde, um dem Plot noch einmal den nötigen Drall zu verpassen. Diese schöne und ebenso melancholische Frau reihte sich in die Linien jener unbekannten Faktoren ein.

      Wie aus dem Nichts stürmte sie auf ihn los. Einen Putzeimer tragend und stellte sich schützend vor mich. Sie umfasste den Eimer mit beiden Händen und schüttete das Wasser in sein verbranntes Gesicht. Dieses Ding begann zu schmelzen, und schrecklich zu rauchen. Es stank unglaublich nach verkohltem Fleisch und dem metallischen Geruch geronnen Blutes. Der Henker stieß einen schrillen, gellenden Schrei aus, der mir die Adern gefrieren ließ. Unter dem wütenden Gejammer konnte ich die Wörter »Mörder« und ein enttäuschtes »Muss leiden«, verstehen. Für mich ergab das keinen Sinn. Das Ungetüm schrie so donnernd hell, dass ich schon fürchtete, mir würde es augenblicklich das Trommelfell zerreißen.

      Plötzlich war er oder es einfach weg, naja es hatte seinen Aggregatszustand gewechselt aber das war genauso gut. Ich rappelte mich auf und trat vorsichtig an den feuchten Aschehaufen heran, der eben gerade mein Todesurteil dargestellt hatte. Dieses Ding war keine Gefahr mehr, stellte ich erleichtert fest. Immer noch völlig neben mir, starrte ich auf diese Suppe voller Blut und Asche und blankem Hass, bis eine Stimme die Stille durchschnitt. »Verschwinde von hier«, murmelte sie teilnahmslos. Plötzlich wurde mir bewusst, wo ich mich eigentlich befand. Ich blickte sie an und wollte ihr danken.

      Ich wünschte sie zu umarmen, sie zu küssen. Nur, wie läuft das ab? Wie spricht man jemanden seinen Dank aus, der einem gerade das Leben gerettet hatte? Geht man auf die Knie? Ich wollte unbedingt auf sie zugehen, aber sie hob nur ihre schmale, makellose Hand. »Geh jetzt und denk an die Fotos«, sprach sie in einem kalten Befehlston, der mich sofort einen Schritt zurückweichen ließ. »Welche Fotos? Bitte ich …«, doch sie drehte sich nur herum und begann mit dem Mopp das Chaos aufzuwischen. Ich stand noch einige Augenblicke verdutzt und mit peinlicher Unbeholfenheit neben ihr. »Danke dir«, stotterte ich leise und geknickt, da sie meine Erkenntlichkeit nicht annehmen wollte.

      Und so wie sie teilnahmslos das Obst einräumte, so wischte sie in geübten Bewegungen vor sich hin. Mit behutsamen Tapsen entfernte ich mich von meiner Beschützerin. Ehe ich es versah, stand ich abermals in der Obstabteilung, die auf einmal leer geräumt war und süßlich, jedoch erfrischend roch. Keine Spur mehr von vergammeltem Obst und Gemüse. Das konnte ja nur ein Traum sein.

      Ich lief an den sauberen Kästen vorbei in Richtung Ausgang. Von hier aus sah ich sie putzen. Mit dem traurigen Blick und dem ausdruckslosen Gesicht. Der Laden machte jetzt den ebenso unscheinbaren und lauschigen Eindruck, den ich anfangs erwartete. Bevor ich die Türe nach außen hin öffnete, war mir, als hätte ich ihre leise Stimme etwas flüstern hören. »Ich hasse dich«. Schlussendlich wurde mir doch noch eine Klinge in die Brust gestoßen.

      Kapitel 3

      Ich ging ins Freie und sog die Luft dankbar tief ein. Sie schmeckte so rein und wirkte belebend, dass meine Lippen einen erleichternden Ausdruck formten. Fast schon ein Lächeln. Aber eben nur fast. Ein kurzer Impuls wollte mich in den Laden drängen, um ihr nochmals zu danken. Oder um Entschuldigung zu bitten. Oder was auch immer. »Ich hasse dich«. Diese drei Worte schwirrten um meinen Geist, wie lästige Stechmücken. Ich konnte mich nicht erinnern sie jemals zuvor gesehen zu haben und doch. Sie kam mir merkwürdigerweise bekannt vor.

      Ich atmete schwermütig und geräuschvoll aus und hoffte inständig darauf, mich verhört zu haben. Schließlich ist es kein schönes Gefühl von jemandem, gehasst zu werden. Vor allem, wenn man nicht die leiseste Ahnung hat, weshalb. Ich hielt abrupt den Atem an. »Sie hasst mich, also kennt sie mich«, stieß ich erleichtert aus. Was für ein Glück! Ich drehte hastig um und wollte schwungvoll die Türe aufstoßen. Sie öffnete sich nicht. Ich rüttelte noch einige Male an der Klinke, bis ich endlich das Schild las. »Geschlossen«. Ich hämmerte an die Ladentür. Laut zu rufen half ebenso wenig. Keine Ahnung, wie lange ich das hier tat. Nichts geschah. Hier, wo immer das auch sein sollte.

      Ich blieb ratlos vor der einstigen Todesfalle stehen und beobachtete die vollen Wolken, die gemächlich über der Stadt zogen und aussahen als hätte man Watte in ein Tintenfass getaucht. Schwarze Wolken auf weißem Himmel. »Das ist nur ein Traum«. Mit zitterndem Atmen inhalierte ich die klare und kühle Luft und schloss die Augen, um meine Nerven zu beruhigen.

      Erst kurze Zeit später, das Genießen dieses Friedens musste einige Minuten gedauert haben, bemerkte ich, dass der Dunst, der vorhin alles in einen dichten Schleier gehüllt hatte, sich vollständig aufgelöst hatte. Die Straße erschien nach wie vor wie ausgestorben. Aber wenigstens war kein Nebel in Sichtweite. Das befreite die Gegend erheblich von ihrer Bedrohlichkeit. Die Raben schienen auch einen besseren Ort gefunden zu haben. Mein Blick fiel auf das primitive Karussell, dessen auf der Front dümmlich lächelnde Visage darauf hinwies, eine Münze einzuwerfen, um »Eine rasante Fahrt« zu erleben. Vielleicht machte es ja irgendwelche quietschende Geräusche, dachte ich. Brauchte eben etwas, um von diesem beilschwingenden Irren und der mich hassenden Schönheit, abzulenken. Ohne Überlegung griff ich in die rechte Hosentasche und kramte, zu meinem eigenen Erstaunen, eine Münze hervor. Hatte ich überhaupt Geld eingesteckt? Ich erinnerte mich nicht mehr daran. Natürlich tat ich das nicht.

      Ich tat es mit einem Schulterzucken ab, denn solche Überlegungen, so dachte ich, waren hier scheißegal und Erinnerungen hatte ich sowieso keine. Das Geldstück verschwand geräuschvoll in dem dafür vorgesehen Schlitz. »Auf gehts«, frohlockte das Karussell mit elektronischem Enthusiasmus. Alles begann zu vibrieren und um mich wurde es schwarz.

      Freude

       Als sich ein Artist nach dem anderen vor dem zahlreichen Publikum verbeugte, tobte die Menge. Die Menschen klatschten Beifall. Sie jubelten und es erschallten laute Rufe nach einer Zugabe. Die bunten, hellen Lichter und all die lustigen und waghalsigen Künstler strahlten eine solche Magie aus, dass den kleinen Jungen, der aus dem Staunen nicht mehr herauskam, wie ein Gefangener seiner eigenen Fantasie wirken ließ.

       Mit aufgerissenen, lachenden und weinenden Augen hatte er wie hypnotisiert die Vorstellung verfolgt. Die exotischen, schönen Tiere, die wild und