M.T. Schobach

Vorhof


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und die lächerlich witzigen Clowns. Aber das Aufregendste waren die Farben und das Glitzern der Kleider. Wie in einem Märchen, das der Junge immer vor dem Schlafengehen vorgelesen bekam.

       Das hier war zum Glück nicht bloß irgendeine Geschichte. Es war elektrisierende Realität und er fühlte, als hätte er noch nie etwas so Wunderbares erleben dürfen. Er schloss die Augen, um noch einmal die Vorführung Revue geschehen zu lassen, aus Angst alles zu vergessen, sobald er aus dem gigantischen Zelt heraustrat, um jenen zauberhaften Ort für immer verlassen zu müssen. Andrej, der mit diesen riesigen Muskeln sicherlich der stärkste Mann der Welt sein musste. Sogar stärker als Papa. Oder die schöne Sophia. Die viel schöner als seine Kindergartentante Nadine war und die mit ihrem Pferd bestimmt hundertmal die Arena umrundete und die allerlei akrobatische Kunststücke vollführte! Auf einem Pferd! Unglaublich!

       Am besten hatte ihm aber der furchtlose Dompteur Nicolai mit seinen Löwen gefallen. Nur mit einem Stock in der Hand befahl er den großen Katzen Männchen zu machen oder sich auf dem Boden rollen. Als ob er ihre geheime Sprache sprechen könnte. Ihr lautes Brüllen ließ selbst die fröhlichsten Zuschauer innehalten und mit weit geöffnetem Mund ungläubig das Geschehen verfolgen. Das gefiel ihm sehr. Vor allem, dass sogar die Erwachsenen, die sonst über die wichtigen Dinge Bescheid wussten, kerzengerade und mit erstaunt, überraschten Mienen sprachlos waren.

       Nun, da die Leute aufstanden und nochmal begeistert Beifall klatschten, ahnte das Kind bereits, dass das Spektakel endgültig geendet hatte. Und als Papa seine Hand sanft auf die kleine Schulter des Jungen legte, wusste dieser, dass es an der Zeit war, das Zirkuszelt zu verlassen. Mit schmollendem Mund und lachenden Augen, die noch immer vor ungläubiger Freude weit aufgeschlagen waren, gehorchte er der freundlichen Aufforderung. Mama, der es nicht entging, dass ihr Sohn am liebsten hier bei diesen skurrilen Leuten geblieben wäre, wuschelte ihm spielerisch durch das Haar. »Es werden sicherlich noch viele Zirkusse herkommen. Na komm, vielleicht gehen wir noch ein Eis essen«, flüsterte sie ihm augenzwinkernd ins Ohr. Welches Kind hört das nicht gerne?

       Breit grinsend schob er sich an den anderen großen Menschen vorbei. Das Tolle am Kindsein war, dass die Erwachsenen einen durchschlüpfen ließen. Drängeln war das Privileg der Kindheit. Er wusste nicht, weshalb er sich diebisch über die Vorstellung amüsierte, vor seinen Eltern den Ausgang zu erreichen. Als Erster! Als er das Zelt verließ, hing ihm immer noch der Geruch von den Tieren in der Nase. Das fand er wunderbar. Heute Nacht würde er von großartigen Abenteuern träumen, von gefährlichen Raubkatzen und einem großen Zirkus. Seinem Zirkus!

       Vor dem Zelt standen lange, mit verschieden Farben bemalte Anhänger und Lastwagen, die sich dank dem wolkenlosen Himmel in der Sonne spiegelten. Alles, aber einfach nur alles, an diesem Ort war zauberhaft. Neben den Wagen befand sich, ein wenig versteckt, ein kleiner Streichelzoo mit Ziegen und Lämmern. Glücklich und ein bisschen stolz darüber, ihn entdeckt zu haben, wollte er schon darauf zu rennen. Andere Kinder standen bereits mit ihren Eltern und gaben den Tieren etwas von dem Futter, das man sich aus einem Automaten vor dem Gatter holen konnte.

       »Hey, junger Mann! Auf gehts, wir wollen los!«, rief sein Vater belustigt von der Begeisterung des kleinen Kindes. »Sonst haben wir keine Zeit mehr für ein Eis!« Widerwillig wandte sich der Junge von den Tieren ab und trabte, wohl ein Pferd imitierend, zu seinen Eltern. »Also, ich hätte gerne Pistazie und Vanille«, entschied Mama, während sie ihr Kind an die Hand nahm. »Was möchtest du, Thomas?«

      

      Die Nacht war bereits hereingebrochen, als ich fröstelnd auf dem harten und kalten Boden zu mir kam. Ein scharfer Wind fegte über die rissige Straße und die einzigen Lichtquellen gingen von dem matten Schein der von Rost überzogenen Straßenlaternen aus. Mühsam zog ich mich auf die Beine und streckte meine steifen Glieder, die unter der ungewollten Auszeit auf dem Asphalt ziemlich gelitten hatten.

      Dieser Traum war seltsam. Unfassbar real und tröstend. Ich hatte von einem Jungen geträumt und einem Zirkus und ich erinnerte mich, als ob ich derjenige gewesen wäre, der jenen aufregenden Tag durchlebt hatte. Thomas. Konnte das etwa ich sein? Der Name kam mir seltsam vertraut vor. Mit dem Geschehnis in diesem Zelt - damit verstand ich jetzt etwas anzufangen. Ich erinnerte mich. Doch war es eine alte Erinnerung oder nur die an den Traum? Niemand darin kam mir bekannt vor.

      Das verwunderte aufgrund meiner Amnesie auch nicht. Auf jeden Fall wusste ich, dass dies kein Zufall sein konnte. Wenigstens etwas, worüber ich mir im Klaren war. Ich wandte mich nochmal der Ladentür zu. »Geschlossen«. Im Gegensatz zu dem blumigen »Geöffnet«, wirkte die Aufmachung schlicht. Nahezu trocken und zynisch.

      Das war auf eine irrsinnige Art enttäuschend. Wie dämlich angesichts dessen, was ich darin erleiden musste oder fast erlitten hätte. Ein Teil von mir sehnte sich nach ihr. Was keinesfalls als weiser Gedankengang zu kategorisieren gewesen wäre. Schließlich hatte sie mich vollkommen abgelehnt. Vielleicht zu Recht. Irgendwoher musste sie meine Identität kennen, obgleich sie sich anscheinend nicht zu den größten Fans meiner Person zählte. Was aber wenn doch? Wenn das nun die größtmögliche Sympathie war, die mir hier entgegenschlagen würde?

      Die Gedanken bekamen abermals einen finsteren Anstrich. Indessen verdüsterten sich nicht nur jene besagten Eingebungen. Der Wind wurde stärker und es dauerte nur kurze Zeit, bis das Wetter einen Sturm gebären würde. Zügig machte ich mich auf den Heimweg, obwohl dieses heillose Durcheinander kaum dem Wort »Heim« entsprach. Naja, so hatte ich wenigstens einen Ausgangspunkt. In den Gebäuden, die die Straße von beiden Seiten umzingelten, konnte ich nach wie vor nicht irgendein Leben ausmachen. In keinem Fenster brannte Licht und bis auf das immer lauter werdende Heulen des Windes war die Nacht grabesstill.

      Blätter wurden durch die Allee geblasen und die angesengten Bäume ächzten widerspenstig angesichts der aufkommenden Naturgewalt. Als auch noch die ersten Regentropfen von dieser dunkel, klaffenden Wunde des Himmels, herabfielen, beschleunigte ich die hastigen Schritte zu einem Trab. Der Sturm peitschte mir den Regen ins Gesicht und meine Beine schmerzten bei jeder Bewegung.

      Je mehr ich der Wohnung näher kam, desto stärker wurde er. Bald musste ich mich gegen diese gnadenlose Macht geradezu stemmen und kam nur noch schleppend vorwärts. Dem Sturm entgegen stehend entflammte ein ungleicher Kampf zwischen mir und dem Unwetter auf. Kleinere Äste der Straßenbäume knackten von den massiveren stabileren ab und wurden gnadenlos gegen meinen Körper geschleudert. Fensterläden schlugen geräuschvoll an die Fassaden und manche lösten sich sogar aus ihren Angeln. Der laute Knall eines Donners erschütterte mich bis ins Mark und meine Magengrube vollführte einen Sprung.

      Die Strecke kam mir unendlich vor. Ein schmaler Zweig traf mich unterhalb des Auges und ließ einen brennenden Schmerz zurück. Kurze Zeit später kam ich nur noch schleppend voran. Ich hielt meine Arme, die bereits vor Anstrengung zitterten, schützend vor das geschundene Gesicht. Mir ging die Kraft aus und obgleich ich vor Erschöpfung keuchte, kämpfte ich gegen den Drang eine Laterne zu umklammern, um meinen Muskeln eine kleine Pause zu gönnen. Denn das hätte nämlich böse enden können. Metallenes Quietschen hielt mich glücklicherweise davon ab. Fünfzig Meter vor mir wurde eine, vom Rost zerfressene Straßenlampe umgerissen und schlug in ein Auto. Dessen schrille Alarmanlage fügte sich zu dem ohrenbetäubenden Lärm des zerstörerischen Sturmes hinzu.

      Ein großer, dicker Ast flog mir direkt entgegen. Reflexartig ließ ich mich auf den harten Boden fallen, um ihm auszuweichen und wurde ein paar Meter nach hinten geschleudert. Als meine Finger versuchten sich an den Löchern eines Gullys festzuklammern, riss ich mir die Hände an kantigem Splitt auf. Unweit von mir entfernt, scharrte eine ehemalige Ampel über die Pflastersteine. Sie blinkte rot. In dem ich meinen rechten Fuß in die Öffnung eines Abwasserkanals verkeilte, gelang es mir einen Halt herzustellen. Für einen Augenblick mochte das genügen, aber lange konnte ich das nicht durchhalten. Während ich vor Erschöpfung nur daran dachte, zu kapitulieren, schien der Sturm immer mehr an Kraft zu gewinnen. Er drohte mich endgültig zum Spielball seiner schieren Macht zu degradieren.

      Auf Knien kroch ich voran, das Gesicht schützend, da sich allerlei aufgewirbelter Dreck