M.T. Schobach

Vorhof


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Waren es anfangs nur ein paar Zweige und Äste, die mir gegen den Kopf und die Schulter schlugen, so geschah dies von nun an permanent. Im Sekundentakt schlossen sich mehr Fahrzeuge dem Sirenengeheul an. Überall krachten Laternen, Bäume, Planken und jedweder andere Schrott, den das Unwetter zu fassen bekam, in Autos oder prallten von den Hauswänden ab.

      Ein Wettstreit zwischen dem Geheul des Sturms und den Alarmanlagen entbrach ohne Rücksichtnahme auf mein Gehör. Mit tauben Fingerkuppen und blutigen Knien schob ich mich weiter. Irgendetwas knallte gegen meine linke Flanke und so kamen auch noch vor Schmerz pochende Rippen hinzu. »Vorwärts mach schon. Reiß dich zusammen!«, so betete ich verschiedene Durchhalteparolen herunter. Jede Faser meines Körpers tat mir unendlich weh. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich robbte, kroch und taumelte. Irgendwann erblickte ich das heruntergekommene Kino. Schnell, rein da! Ich wähnte mich in Sicherheit.

      Der kleine Eingangsbereich wurde von zwei dicken Wänden umgeben. Erleichtert über diesen Umstand richtete ich mich auf meine wackligen Füße auf und hinkte mit pochenden Knien in Richtung Eingangstür. Ein Plakat prangte hinter einer Glasabdeckung neben der Tür. »Erstvorführung von Memoria«. Film frei ab 19 Jahren. Verdutzt betrachtete ich das schwere Schloss, das mit Hilfe einer dicken Kette um die Eingangstür befestigt worden war. Ich hasste es hier. Mindestalter 19 Jahre? Was für ein Unsinn. Entweder war ein Angestellter besoffen gewesen oder es handelte sich wiedermal um irgendeine Skurrilität, die diesem Ort natürlich gut anstehen würde. »So eine Scheiße verdammt nochmal!« Ich schlug mit tauber Faust gegen die überraschend stabile Tür, nur um festzustellen, dass Taubheit reine Definitionssache war. »Mist!«, zischte ich vor Schmerzen.

      Resigniert schaute ich auf meine pochende Hand. Ein mittlerweile wohlbekanntes Gefühl breitete sich in mir aus. Verzweiflung. Ich wollte unter keinen Umständen zurück in diesen Strudel des Wahnsinns und schaute entmutigt auf die wildgewordene Straße. Wieder einmal knackte der Sturm einen Baum spielerisch um, als würde es sich um ein Mikadostäbchen handeln. Von diesem Anblick bestärkt, kauerte ich mich auf den Boden und wartete, in der Hoffnung, das Unwetter würde bald nachlassen. Zu meinem Leidwesen geschah nichts dergleichen. Ich spürte, wie mir die Reserven schwanden. Körperlich, wie auch seelisch. Doch hierbleiben konnte ich auf keinen Fall. »Weit kanns nicht mehr sein, also raff dich!«, wollte ich mir zuversichtlich einreden. Entgegen meiner Absicht hörte es sich äußerst weinerlich an. Soviel zur Motivation die dringend notwendig gewesen wäre.

      Das Wetter machte keineswegs den Eindruck bald Erbarmen zu zeigen, also blieb mir nichts anderes übrig, wiedermal als Zielscheibe des Windes zu dienen. Schnell atmete ich mehrmals tief durch, schlug ermutigend auf die Wand und begab mich erneut auf allen Vieren kriechend auf den Gehweg. Inzwischen hatte ich Mühe den Kopf geduckt zuhalten. Der Sturm war bereits so heftig, dass ich die gesamte Nackenmuskulatur einsetzen musste, nur damit mein Schädel nicht nach hinten gerissen wurde. Zu allem Überfluss tappte ich mit der linken Hand in eine Scherbe. Ich zuckte vor Schreck auf und mir schlug ein klobiges Stück Holz quer über das Gesicht. Ein warmes und pochendes Gefühl durchströmte meine Lippen und ich schmeckte den metallenen Geschmack von Blut. Ich wollte nicht mehr. Es konnte keinen Ausweg geben, diese Einsicht drohte sich wie ein Schatten über mich zu legen.

      Tatsächlich begann ich, den Sinn weiter zu kämpfen infrage zu stellen. Drauf und dran, liegen zu bleiben, entdeckte ich ein hell scheinendes Fenster. Es stammte von dem mehrstöckigen Haus, in dem ich heute Morgen aufgewacht bin. Ein wenig Zuversicht schoss durch mich und gab mir neue Kraft. Hinter der Fensterverglasung konnte ich einen Schatten ausmachen. Ein Schemen, nicht mehr. Der frisch aufgekeimte Mut wich nackter Furcht. Eine dunkle Gestalt, die in meine Richtung blickte. Ich fühlte eine paralysierende Kraft von mir Besitz ergreifen. Was sollte das wieder für ein Ding sein? Es stand einfach nur da und schaute auf mich herab.

      Eine gefühlte Ewigkeit sahen wir uns an. Ich konnte nur die Umrisse der Gestalt erkennen und nur raten, wo Augen und das restliche Gesicht saßen. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass es sich um einen Freund handeln würde, aber hier draußen zu bleiben schien ebenso wenig eine Option zu sein. Der Mut der Verzweiflung gab mir also einen ordentlichen Tritt in den Hintern. Ich fasste mir ein Herz, rappelte mich auf und hinkte so schnell wie nur irgend möglich über die Straße, öffnete die Haustür und war in Sicherheit. Vorerst. Das Geländer war immer noch mit Frost überzogen. In Richtung der vereisten Kellertür war leises vereinzeltes Tropfen zu hören. Ich wurde daraus einfach nicht schlau. »Poch, bumm«, dröhnte es, als ich mich die Treppe mit hinkendem Bein emporzog.

      Das kalte Geländer und das rhythmische Schlagen, gepaart mit der kühlen Aura des Treppenhauses, hatte etwas Sakrales inne. Eine Art Heiligtum umringt von verrücktem Schrecken oder vielleicht ein bereits entweihtes Palladium. Mir schossen so viele Fragen durch den Kopf. Wollte ich überhaupt in die Wohnung? Wollte ich wirklich diesem bizarren Schatten begegnen? Aber wohin sonst hätte ich gehen sollen? Schlimmer als der durchgedrehte Schlachter konnte es sicherlich kaum noch werden und doch durchzog mich eine tiefwirkende Angst. Ich nahm den Schlüssel in die Hand und verharrte einen Augenblick. Ich musste da rein. Alles war miteinander verbunden. So schien es offenbar. Der Laden, der Traum, das Unwetter, die Wohnung und die unkenntlichen Bilder an der Wand.

      Hatte die schöne Verkäuferin nicht jene Fotos erwähnt und deren Wichtigkeit betont? Ich hatte keine Wahl, das sagte mir jedenfalls ein starkes Gefühl. So rational, wie diese Situation es mir erlaubte, ging ich meine Optionen durch. Entweder musste ich mich dem Schemen stellen oder erfrieren oder eben auf der Straße erschlagen werden. So gesehen fiel mir die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Zitternd steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Ich musste zusammenzucken, als sie sich laut ächzend auftat. »Idiot, das hatte sie heute Morgen auch schon getan«, flüsterte ich mir tadelnd zu. Zaghaft und mit rasendem Herz und stockendem Atem, lugte ich hinter der Türe hervor. Nichts. »Ist hier jemand?« Rief ich mit brüchiger Stimme in den Raum hinein und erhielt als Antwort gähnende Stille. »Hallo?«

      Im Wohnzimmer brannte Licht und kurz hielt ich inne. »Logisch du Depp, hast du gerade eben noch selbst gesehen«, ermahnte ich mich streng. Ich trat ein. Langsam versteht sich. Mein Herz schlug so heftig, dass ich fast fürchtete, es würde mir in der Brust zerspringen. »Das hast du dir nur eingebildet. Bitte. Bitte hab dir das nur eingebildet«. Zögernd ging ich weiter. Das Wohnzimmer befand sich nur zwei, drei Schritte entfernt und ich wünschte mir, es wäre meilenweit weg.

      Ich schlich etwas näher und suchte hinter der Wand Deckung. Wenigstens gab es keine Tür. Zum Glück. Nie hätte ich mich getraut, sie zu öffnen. Mit dem Rücken an die Wand gepresst, lugte ich nach rechts, verdrängte die Furcht und wagte einen kurzen Blick in das Zimmer. Wieder nichts. Das Licht brannte zwar, aber von der Figur war weit und breit keine Spur zu sehen. Dankbar atmete ich erleichtert aus und versuchte meine zitternden Glieder zu beruhigen. Ich schüttelte abschätzig den Kopf. »Wie bescheuert bist du eigentlich?«

      Und gerade, als ich mich umdrehen wollte, tauchte dieses Ding flackernd vor mir auf! Es rauschte unangenehm. Nicht laut und dennoch beißend und in hoher Frequenz, durch Mark und Bein. Erschrocken schrie ich auf und bekam es erneut mit der Angst zu tun. Meine Brust drohte vor dem außer Kontrolle geratenen Herzschlag zu explodieren. Vor Furcht verwandelten sich meine Glieder in Blei. Ich war kaum mehr fähig einen Schritt zu machen. Hätte wahrscheinlich eh keinen Unterschied gemacht. Es kam näher und doch lief es nicht, bewegte sich nicht. Es tauchte aber immer näher vor mir auf. Und die Frequenz wurde stetig höher und schmerzhafter. Als wollte es diese Qual tief in mir manifestieren. Sie in mir eingraben, so tief, dass sie mein Inneres heraus fräsen könnte. Der Schatten war nur noch eine Handbreit von mir entfernt. Und das, was man mit viel Fantasie ein Gesicht hätte nennen können, stierte mit einem großen leeren Nichts in meine Seele. Es neigte seinen Kopf ein wenig zur Seite und reckte sich noch etwas näher an mich heran. »Willkoooooooommmmmeeeeennnnn Thoooooomaaaaaaaaas«, röhrte es, mit einer tiefen, verlangsamten Stimme, die Ähnlichkeit mit einem Verzerrer aufwies. »Willkommen Thomas«, in normalem Tempo und »Hallo Thomas«, in Zeitraffer. Es flackerte immer schneller und schneller. Und dann ... War es weg.

      Einfach weg. Verschwunden, als sei es niemals da gewesen. Geschockt ließ ich mich auf den Boden fallen, umfasste hilflos die Schultern. Tränen rannen mir über verschorften Striemen meiner Wangen. Mal wieder. Wie schon so oft an