Lisa Kuppler

O Du Fröhliche


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einige verbotene Zutaten zu nennen. Unsere allgemeinverträglichen Plätzchen bestehen aus Reismehl, Zucker und Wasser. Sie sehen alle gleich aus und schmecken nach nichts.

      Keiner von uns kapiert, was an Weihnachten mit Mutti los ist. Als wir Kinder noch zu Hause wohnten, hat sie trotz Berufsstress täglich Diätmenüs für uns gekocht. Jetzt kocht sie täglich antiallergene Schonkost für Vati. Nur am Heiligen Abend müssen es traditionell Wiener Würstchen sein und Kartoffelsalat mit Ei, Speck & Mayonnaise. Pia nennt es Killerwürstchen mit Knockoutsalat: Eiweiß, Phosphat, Stabilisator E 327, Antioxidationsmittel E300 bis E403, Geschmacksverstärker E 621 und vieles mehr; ein Füllhorn möglicher Symptome, von Nesselsucht bis Asthma, von Niesattacken bis zum anaphylaktischen Schock.

      Vermutlich ist das eine besondere Form des Protests. Mutti hat es satt, seit vierzig Jahren müde aus der Schule zu kommen und dann zu Hause Ökotrophologin und Diätköchin zu spielen. Sie streikt. Einmal im Jahr. Streik muss schmerzhaft sein. Und da Muttis Pflichtgefühl es ihr verbietet, den Streik in die Länge zu dehnen, macht sie’s kurz, aber da, wo’s wirklich wehtut. In der Weihnachtszeit, an Heiligabend.

      Mutti kocht also für sich und Minni, ihre Enkelin, Wiener Würstchen und Kartoffelsalat. Minni ist ihr Herzblatt. Wenigstens ein normaler Mensch in dieser Familie.

      Wir Kinder bringen an Weihnachten das Essen mit, für uns und Vati. Damit jeder von allem probieren kann, einigen wir uns auch hier auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Alles ist für alle gefahrlos genießbar. Das schmeckt bescheiden, und wir verlieren über die Festtage locker ein paar Pfunde.

      Mutti hat Minni gerade ein Glas heiße Milch mit Honig gebracht. Wir anderen, die wir gegen Milcheiweiß allergisch sind, kriegen sogenannten Weihnachtstee – frei von künstlichen Aromastoffen, frei von natürlichen Aromastoffen, also quasi Schwarztee, aber aus sternverzierten Weihnachtstassen.

      Dass wir alle unter Allergien leiden, ist ja eigentlich zum Heulen, aber wir haben uns daran gewöhnt. Manchmal lachen wir sogar darüber. Es gibt gewisse Highlights – letztes Weihnachten zum Beispiel, als der vierjährige Max seine Version von »Stille Nacht, heilige Nacht« vortrug. Statt »Gottes Sohn, o wie lacht«, sang er inbrünstig, »Cortison, o wie lacht« – klar, das Medikament steht ihm näher.

      Ein anderer Knaller, viele Jahre her, war mein Versuch, mich während des Studiums als Weihnachtsmann zu verdingen. Das amüsiert die lieben Geschwister heute noch, wenn sie angesäuselt unterm Christbaum sitzen. Wisst ihr noch? Ein Schenkelklopfer, der seit Jahren für Heiterkeit sorgt und inzwischen ebenso fest zum Ritual gehört wie anderswo die Lesung der Weihnachtgeschichte: Es begab sich aber zu der Zeit …

      Ich kriegte den Job übers Studentenwerk, am 24. Dezember. Da ich vor Dienstantritt eine kleine Stärkung brauchte, kaufte ich mir im Supermarkt den Schlemmersalat Nizza, wegen des eingeschweißten Plastiklöffels. Im Eilschritt löffelte ich den Becher auf dem Weg zum ersten Einsatzort leer. Im Treppenhaus streifte ich das Nikolauskostüm über und klingelte im dritten Stock. Das Kind hieß Emu. Eigentlich ein flugunfähiger Laufvogel mit drei Buchstaben, in diesem Fall jedoch ein kleiner Junge. Mein Auftrag bestand darin, ihm zu drohen: Wenn er noch einmal im Kindergarten auf die Bauklötzchen pinkle, würde ich ihn für immer ins Weihnachtsland holen. Dort müsse er in der Engelsbäckerei heiße Bleche schleppen, dürfe aber kein einziges Plätzchen naschen.

      Psychologisch fand ich das natürlich bedenklich. Wenn ein Kind auf Bauklötzchen pinkelt, will es doch etwas sagen, also ist Strafandrohung völlig deplatziert. Mit dem Weihnachtsland zu drohen, schien mir besonders verwerflich.

      Lag es an den Allergenen im vollsynthetischen Nikolauskostüm? Wahrscheinlich hatten sich im Schlemmersalat Nizza Spuren von Muscheln versteckt.

      Kaum hatte ich dröhnend gerufen »Wohnt hier der kleine Emu?«, wurde mir höllenheiß, und ich begann zu würgen. Ich sehe noch die vergnügte Miene der Mutter, die das für eine gelungene Show-Einlage hielt. Ich riss mir den Bart ab, rang keuchend um Luft und fiel um. Die Mutter rannte zum Telefon. Nur der kleine Emu fragte sachlich: »Papa, ist der Weihnachtsmann betrunken?« Es war das Letzte, was ich hörte, Stunden später erwachte ich im Krankenhaus.

      Vati steht mit ärgerlicher Miene im Flur. Er ist nicht nur sauer wegen des ›exotischen Weihnachtsgestrüpps‹, sondern auch wegen der leckeren Essensdüfte, die durch die Wohnung ziehen. Aber jetzt versucht er seine schlechte Laune zu überspielen. »Mmmh, riecht das köstlich!«, sagt er. Er guckt in die Küche und reibt sich die Hände, um trotz milder Außentemperaturen ein Gefühl von knackiger Kälte aufkommen zu lassen. Auch Mutti trägt zur Steigerung der Weihnachtsstimmung bei: Sie macht den Kartoffelsalat an und rezitiert Von drauß vom Walde. Als Deutschlehrer kennen sie solche Gedichte noch.

      21 Uhr. Wir sind dann doch nicht in die Kirche gegangen. Das Abendessen ist vorbei. Vati war – wie jedes Jahr – stocksauer, dass Mutti sich Kartoffelsalat und Würstchen schmecken ließ, während er unsere fade Schonkost runterwürgen musste.

      Auch die Bescherung wie gehabt. Mutti kriegt den neuesten Antiallergie-Staubsauger, Vati einen ungegerbten, chromfreien Ledergürtel mit Riegel-Knopfverschluss. Ansonsten gibt es massenweise Diät-Kochbücher, allergenfreie Gesichtscremes und Bio-Textilien, Deos und Rasierwässer, Allergikerkissen und nickelfreie Emailkochtöpfe. Pia kriegt für ihre schwarz gefärbten Haare ein Produkt ohne Cetylstearylalkohol.

      Nun aber naht der dramatische Höhepunkt des Weihnachtsabends. Mutti und Vati graben an Heiligabend nämlich ihre Instrumente aus. So wie die Königin der Nacht nur eine Nacht pro Jahr erblüht, erklingt das elterliche Geigenspiel am 24. Dezember gegen 21 Uhr, um dann wieder für 364 Tage zu verstummen. Der Vergleich hinkt, Blüten sind ja etwas Wunderschönes.

      Zu den Mysterien unseres Familienweihnachtsfests zählen die Fragen: Warum üben Mutti und Vati eigentlich nie?

      Warum lässt man die Geigen nicht dort, wo sie sind?

      Zum Ritual gehört es aus unerfindlichen Gründen, dass Vati die Instrumente erst an Heiligabend vom Speicher holt. Nach der Bescherung schleicht er auf Zehenspitzen ins Treppenhaus und zum Dachboden hinauf. Er holt die Geigenkästen, entstaubt sie im Treppenhaus, bringt sie herein und legt sie leise, leise unter den Weihnachtsbaum. Bald ist’s soweit!

      Nun schnappen die Schlösser auf, die Instrumente werden vorsichtig entnommen, es wird ein paar Sekunden lang gestimmt, und dann beginnen Mutti und Vati zu streiten, wer dieses Jahr die erste Stimme spielen darf.

      Auf dem Notenheft steht Bekannte Weihnachtslieder für zwei Geigen oder andere Melodieinstrumente. Wobei das Gefiedel die Assoziation ›Melodieinstrument‹ nicht unbedingt nahelegt. Unserer Schätzung nach hatten Mutti und Vati als Kinder vielleicht zwei Wochen Geigenunterricht. Angeblich sollen es bei Mutti zwei Jahre gewesen sein, bei Vati sogar zweieinhalb. Das kann natürlich niemand überprüfen. Ich denke, Mutti hat irgendwann »zwei Jahre« gesagt, und Vati hat spontan ein halbes Jahr draufgesetzt. Auf diese willkürliche Differenz beruft er sich nun immer.

      »Also, Schatz, los geht’s, Es ist ein Ros …«

      Beide beginnen unisono die erste Stimme zu kratzen.

      »Halt«, ruft Vati nach zwei Takten. »Du bist in der Zeile verrutscht. Ich spiel doch oben.«

      »Dann spielst du aber bei O Tannenbaum unten!«

      Wir Kinder grinsen betreten.

      »Hör mal, Schatz«, doziert Vati, »ich hatte ja bedeutend länger Unterricht als du. Die exponierte erste Stimme sollte doch derjenige spielen, der –«

      »Ich seh nicht ein«, faucht Mutti, «warum wir die Stimmen nicht gerecht aufteilen sollten. Es sind sechs Lieder. Du drei oben, ich drei oben, ja?«

       Vati lächelt spöttisch, reißt die Geige ans Kinn und spielt los, die erste Stimme von Es ist ein Ros. Um des lieben Friedens willen fällt Mutti nach ein paar Takten mit der zweiten Stimme ein.

      Sie spielen schauerlich. Ich schaue zu Minni hinüber. Sie hustet mit gequältem Lächeln vor sich hin. Wäre sie ein kleiner Hund, würde sie jetzt unters Sofa kriechen.

      Wenn