Lisa Kuppler

O Du Fröhliche


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an. Mutti hat nach der ersten Strophe erleichtert den Bogen sinken lassen, spielt dann aber, wieder um des lieben Friedens willen, weiter.

      Vierte Strophe. Minni schleicht Richtung Tür. Ich schüttle den Kopf und winke sie zu mir. Sie klettert auf meinen Schoß.

      Fünfte Strophe. Vati versucht Zeit zu gewinnen, klar. Er will nicht bei O Tannenbaum die zweite Stimme spielen.

      Sechste Strophe. Minni seufzt und ächzt und legt den Kopf an meine Schulter.

      Siebte Strophe. Ich wusste gar nicht, dass Es ist ein Ros entsprungen so viele Strophen hat. Minni niest und hustet, nimmt meine Hand, legt sie sich auf die Stirn. Sie glüht. Minni hat Fieber. Ich überlege, ob ich mit ihr rausgehen soll. Nein, Mutti und Vati reagieren da empfindlich, ich warte lieber, bis das Lied zu Ende ist. Vierzehnte Strophe. Mutti spielt nicht mehr mit. Vati schrappt alleine weiter. Ich halte die ächzende Minni im Arm und komme mir wie der Vater im Erlkönig vor. Sechzehnte Strophe. Ich stehe auf und trage sie hinaus. Minni atmet schwer. Sie reibt sich die Augen und sieht schon wie ein blasses, rotäugiges Kaninchen aus. Jetzt kratzt sie sich am Arm. Alles voller Quaddeln. Mir kommt ein schrecklicher Verdacht – Minni hat eine Weihnachtsallergie!

      Ein neuer Name

      Kim Skott

      Betsabie läuft durch den Schnee die Straße entlang. Es ist ihr üblicher Rundgang, und sie hofft auf reiche Beute. An den Weihnachtstagen sind Abfalltonnen immer besonders ergiebig. Voll von Knochen und Saucenresten, in Bratensaft getränkten Knödelbrocken, an denen noch Rosenkohlblätter kleben. Sie ist nicht wählerisch um diese Jahreszeit und frisst auch Rosenkohlblätter. Am besten ist die Tonne vor dem Eckhaus: da gibt es nämlich häufig Fisch. Der Geruch ist dann so intensiv, dass sie ihn schon von der Straße aus wahrnimmt. Zum Beispiel Lachs mit Käsedillsauce und dazu Bratkartoffeln mit Krabben. Nordisch-deftig, aber genau das mag sie. Was kümmern sie die eleganten Häppchen von den Stehpartys bei Kaisers, wenn im Winter doch alle Türen geschlossen sind? Betsabie liebt Lachs in Sauce.

      Betsabie – sie hat nicht immer so geheißen. Früher hieß sie mal Susi, Schnuckelkatze, meine Schöne. Das war in einem anderen Teil der Stadt. Aber dieses Leben ist vorbei. Eines Tages lagen die vertrauten Hände zu still auf der Decke, und dann waren da andere Hände, die viel zu sehr nach Chemie und Desinfektionsmitteln rochen, nach Sauberkeit aus der Dose. Biest. Da hat sie gekratzt und gefaucht, und dann ist sie gerannt. Katzenvieh. Weit fort ist sie gerannt, bis über die Grenze ihres Streifgebiets hinaus und weiter. Seitdem heißt sie nicht mehr Susi, Schnuckelkatze, meine Schöne. Seitdem heißt sie Betsabie. Sie hätte wohl noch zurückgefunden – doch wozu? Und so ist sie hiergeblieben, in diesem neuen Stadtteil. Er ist nicht so ärmlich wie ihr alter. Für sie bedeutet das vor allem, dass die Abfälle in den Mülltonnen reichhaltiger sind. Allerdings sind die Mülltonnen auch besser verschlossen. Alles, das weiß sie, hat seinen Preis.

      Ein Geräusch lässt sie auffahren: der Deckel einer Mülltonne. Geruch schießt ihr in die Nase, köstlich, verheißungsvoll. Kein Lachs. Sie ist jetzt auf Höhe des allerletzten Hauses am Ende der Straße angelangt. Es ist ein Haus, das nicht so recht dazugehört. Hier ist nichts zu holen, und die Mülltonne erinnert sie an die Tonnen ihrer alten Gegend: nur ärmliche Reste.

      Sie bläht die Nüstern, wittert. Fleisch. Der Geruch kommt nicht von der Mülltonne, sondern von der Gestalt, die dicht danebensteht, die jetzt ein paar Schritte in Richtung Straße macht, sich hinhockt und eine kleine Schüssel abstellt. Es ist der Mann, der in dem Haus wohnt – Betsabie erkennt die Silhouette seiner abstehenden Ohren, seinen leichten Duft nach Minze, der sich in das Aroma des Fleisches mischt und zu ihr herüberdringt. Der Mann bleibt hocken, und sein Blick richtet sich auf Betsabie.

      Betsabie erstarrt. Du siehst mich nicht, denkt sie, und ihr kleiner Körper verharrt in scheinbar unbeeindrucktem Desinteresse. Soll er doch glauben, sie hätte irgendeinen Vogel gesehen. Hauptsache, er … Der gute Geruch raubt ihr fast den Verstand. Der Mann macht lockende Geräusche, schnalzt mit der Zunge in ihre Richtung.

      »Komm, komm, Miez. Schöne Miez. Ich hab was für dich …«

      Schöne Miez.

      Meine Schöne.

      Betsabie durchfährt ein Schauer. Sie kann dieses Spiel des Nicht-Hinsehens sonst stundenlang spielen. Aber es ist kalt, und sie hat Hunger. Vorsichtig wendet sie den Kopf, schaut den Mann an. Er sieht zu ihr herüber; die steile Falte zwischen seinen Augen zeigt, was es ihn kostet, nicht umzufallen. Wenn sie genauer hinschaut, kann sie seine Beine zittern sehen. Er schnauft.

      Keine Gefahr. Sie wird es riskieren. Und falls er sie zu packen versucht, wird sie ihm biegsam entwischen und davonrennen. Betsabie schiebt die Hinterbeine unter den Körper, tastet sich mit den Vorderpfoten vorwärts.

      »Ja, meine Schöne. So ist es gut. Komm her.«

      Er lobt sie. Seine Stimme streichelt sie, selbst auf diese Distanz von einigen Metern. Nicht alle freundlichen Stimmen bedeuten auch freundliche Hände, und so bleibt sie wachsam. Ihre Ohren spielen nach allen Seiten, während sie sich umschmeicheln lässt.

      Der Geruch wird immer intensiver. Leber ist es, rohe Leber. Ihr wird klar, das sind keine Essensreste. Das ist für sie, extra für sie! Das Wasser fließt ihr im Maul zusammen, ihre Pfoten schieben sich weiter, fast ohne ihr Zutun.

      »Schöne Miez. Feine Miez.« Seine Stimme raunt und krault, und Betsabies Ohren zucken.

      Zentimeter trennen sie noch von der Futtergabe, da streckt er die Hand aus. Sie ist gerade noch weit genug entfernt, dass er sie nicht erreicht. Sie spannt den Körper an. Wenn er sich jetzt vorbeugt, kann er sie packen. Noch eine weitere Bewegung, dann lässt sie die Leber Leber sein und läuft weg. Doch er rührt sich nicht mehr, hockt nur da, mit ausgestrecktem Arm. Betsabies Nase bebt.

      Sie reckt den Hals, ein wenig nur. Es reicht nicht. Der Leberduft ist überwältigend, und sie muss sich zwingen, auf die Hand zu achten, die er ihr hinhält.

      Er raunt etwas. Sie kann es kaum verstehen. Line, Lina … nein: Messalina. Messalina? Wer ist das? Sie schnuppert weiter. Schiebt sich noch ein wenig weiter vor. Ihre Nasespitze tickt gegen seine Hand, und sie zuckt zurück. Kalt. Rau. Minze und Leber. Leber, die er frisch geschnitten hat, für sie. Sie schnuppert wieder. Es riecht köstlich.

      Er hat keinen Versuch gemacht, sie zu packen, und sie beschließt, es zu wagen. Senkt den Kopf von seiner Hand zu den Leberstückchen in der Schüssel. Schnuppert noch einmal. Rohe Leber. Dann schlägt sie die Zähne in das Fleisch, spürt, wie der Saft an ihren Gaumen spritzt, als sie zubeißt. Sie packt den nächsten Brocken. Geschmack explodiert auf ihrer Zunge, ihr Magen krampft sich erwartungsvoll zusammen, sie schluckt. Beißt erneut zu, kaut, schluckt, schlingt. Ihre Nase steckt tief in der Schüssel, mitten in den Leberstücken. Sie braucht nur das Maul aufzumachen, zu kauen und zu schlucken. Es ist herrlich, und für eine Weile vergisst sie den Schnee, die Kälte und beinahe auch den Mann, der vor ihr hockt.

      Ihr Bauch ist zum Platzen gespannt, und sie weiß, dass sie jetzt erst einmal einen trockenen Ort braucht, um zu verdauen. Am besten, sie rollt sich bei Kaisers im Gartenhäuschen zusammen. An der Rückwand ist ein kleines Loch, da kommt sie hinein.

      Über ihr das Raunen seiner Stimme. »Messalina, meine Schöne.«

      Es klingt gar nicht so schlecht. Ihre Ohren zucken, sie lauscht, während sie langsam die letzten Brocken vertilgt.

      Er hat immer noch nicht versucht, sie zu packen. Das ist gut. Sie hockt sich auf die Hinterläufe und beginnt, sich zu waschen, das Maul, die Nase und die Pfoten. Nicht besonders gründlich (das macht sie lieber, wenn sie alleine ist) – mehr so, um die Reste der Leber zu entfernen. Er schaut ihr zu, streichelt sie mit seiner Stimme. Lobt sie fürs Putzen und weil sie so eine schöne Katze ist. Es wärmt sie auf andere Weise, als die Leber es getan hat.

      »Schöne Miez. Feine Miez. Messalina-Miez.«

      Sie schaut ihn an, und er schaut zurück. Sie mag seine Leber. Sie mag seine raue Stimme. Sie mag den Klang von Messalina, meine Schöne.

      Gleich