Lisa Kuppler

O Du Fröhliche


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bringen.«

      Er nahm den Stern aus ihrer Hand. Das Roggenstroh war zu einem matten Goldton gebleicht und kunstvoll gebunden. Von der geflochtenen Mitte aus gingen lange Strahlen ab, zwischen denen sich winzige Strohkreise ringelten, die wie Schneeflocken aussahen.

      »Ein Engel trompetet auf dem Christbaum in der Kirche?«, fragte er. Er wollte sicher gehen, dass der Stern nicht vermisst wurde, wenn er ihn in die Turmspitze setzte.

      Das Mädchen nickte. »So ein kleiner mit dicken Backen. Die Tanten sagen, er verkündet den Hirten die Geburt des Jesuskinds. Aber das glaube ich nicht. Das war ein ganz anderer Engel, mit großen Flügeln und einem silbernen Kleid.« Ihre helle Stimme zitterte vor Empörung darüber, dass irgendjemand glauben könnte, ein pausbäckiger Trompeter hätte etwas mit wirklichen Engeln gemein. Der Vampir, der die geflügelten Himmelsboten schon mit eigenen Augen gesehen hatte (manchmal kreuzten sich die Wege der Blutsauger mit denen der Engel), musste ihr recht geben.

      »Und?«, fragte das Mädchen. »Kannst du ihn zum Leuchten bringen? Du bist kein Engel. Oder?« Sie schaute zu ihm hoch und blickte dann schnell wieder auf ihren geheilten Daumen.

      »Ich bin kein Engel, nein.«

      Der Vampir reichte dem Mädchen die Eisenmünze. Er brauchte beide Hände, um den Stern von Bethlehem über seinem Turm leuchten zu lassen. Sie nahm sie, ohne einen Blick darauf zu werfen. Ihre Augen hingen an dem Stern, den der Vampir zwischen seinen Händen drehte. Der Wurf würde unpräzise sein ohne Messinstrumente, und für eine Berechnung der Flugbahn fehlte ihm die Zeit. Der Architekt in ihm stöhnte ungehalten angesichts des dilettantischen Unterfangens. Doch er war kein Baumeister mehr.

      Unter dem ehrfurchtsvollen Blick des Mädchens hielt er den Stern vor sich wie eine Scheibe beim Diskuswurf. Er kannte den Turm wie seine Westentasche, er wusste, wo der Wind durch unsichtbare Ritzen pfiff und wie der Schneefall und die Kälte draußen sich im Innern des Bauwerks bemerkbar machten. Seine neunundsechzig Meter Höhe waren ihm zur zweiten Natur geworden, eine Entfernung, nach der er seine Welt bemaß. Mit einem scharfen Ruck seines Handgelenks schleuderte der Vampir den Strohstern in die Höhe.

      Dies war sein Turm. Die Statik war ausgelegt nach den Plänen des berühmten Münzturms der Salzstadt Hall, wo der erste Guldiner geprägt worden war. Der Schlaghammer fiel die neunundsechzig Meter Fallhöhe wie ein Lot und traf haargenau auf den Amboss. 278 Eisenmünzen besaß der Vampir, 278 unumstößliche Beweise. Einer davon befand sich nun in der Hand dieses Menschenkinds.

      Doch die Bahn, die der Stern einschlug, würde sich nie zum Münzprägen eignen. Obwohl der Vampir ihn mit seinen besonderen Kräften auf einen pfeilgeraden Pfad geschickt hatte, kam er ab vom vorgesehenen Kurs. Er flog zu weit nach rechts, torkelte nach links, wirbelte um seine eigene Achse und stieg höher in weiten, unbeständigen Spiralen. Das Mädchen lachte auf vor Begeisterung, als der Strohstern wie eine riesige goldene Schneeflocke hoch ins Gewölbe schwebte. Selbst der Vampir konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hatte seine Hand wirklich diesen wilden Wurf getan? Vielleicht war es der eindringende Wind, der den Strohstern tanzen ließ.

      Und dann hätte der Stern im Schatten des Turmgewölbes verschwinden sollen. Der Vampir konnte ihn noch sehen, ein blass-goldener Schimmer im hölzernen Gebälk. Doch auch das Mädchen sah ihn noch, mit ihren schwachen sterblichen Augen. Sie deutete auf den Stern und flüsterte: »Da leuchtet er.«

      Und wirklich, es war, als ob da oben nicht ein Stern, sondern eine ganze Sonne erstrahlte. Noch nie war die kunstvolle Konstruktion des Gewölbes so deutlich zu sehen gewesen, auch am Tage nicht, denn das Innere der Turmspitze lag immer im Schatten. Aber nun gleißte ein Licht in der Höhe, hell wie es der Vampir seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. Aus Instinkt trat er zur Tür, halb hinaus in die dunkle Nacht. Sonnenlicht bedeutete den Tod für Vampire, doch dieses Licht verbrannte ihn nicht. Es fiel kühl und silbern auf seine bleiche Haut.

      »Du hast ihn zum Leuchten gebracht.« Mit strahlenden Augen zog das Mädchen ihn zurück in den Turm.

      »Nicht ich.« Der Vampir war ein Geschöpf der Dunkelheit, solch ein Leuchten stand nicht in seiner Macht. Doch was war dieser Stern, der den drei Weisen die Geburt des neuen Königs verkündet und den Hirten auf dem Feld den Weg zur Krippe gewiesen hatte? Ein Komet? Eine Sternenkonstellation? Ein wundersam leuchtender Strohstern im Gewölbe eines alten Turms?

      Er starrte hinauf in seinen Turm und dachte an die 278 Sonnen auf seinen Münzen. Er dachte an die Wärme des Sommers, die im Roggen steckte, aus dem der Stern gefertigt war. Was machte das Wunder der Christnacht aus? Die längste Nacht, die tiefste Kälte, das neugeborene Kind? Während er in seinem Turm Sonnen in Eisen geschlagen hatte, zog draußen am Himmel der Sonnenwagen seine Bahn von Ost nach West, jeden Tag, Jahr um Jahr.

      Das Mädchen griff nach seiner Hand, sie reichte ihm die Münze. »Ich muss gehen. Die Tanten werden ärgerlich, wenn ich zu lange fort bin.«

      »Behalt die Münze«, sagte der Vampir.

      Zum ersten Mal betrachtete das Mädchen die Eisenmünze. »Da ist eine Sonne drauf.« Sie grinste ihn an. »Ich weiß schon, dass das Spielgeld ist. Damit kann man nichts kaufen.«

      Wie recht sie hatte. Seinen guten Ruf, den rechtschaffenen Namen des Architekten, der er einmal gewesen war, würde er nie zurückkaufen können, auch in Tausenden von Jahren nicht. Und wenn der Vampir nicht an einem Pfahl im Herzen starb, dann hatte er noch eine Ewigkeit vor sich. Sein Gemach würde sich mit Eisenmünzen füllen, hoch bis unters Dach des Turms. Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal leuchtet die Sonne auf der Münze.«

      Ihre Lippen formten ein stummes, erstauntes Oh, als sie die Münze in die Höhe hielt. Sicher war es nur eine Reflektion des silbernen Lichts des Weihnachtssterns, doch die geprägte Sonne strahlte auf, als beginne ein neuer Tag.

      »Du bist doch ein Engel«, flüsterte das Mädchen, dann sprang sie hinaus in die Nacht. Der Schnee auf ihrem dunkelgrünen Mantel glitzerte wie Sternenstaub.

      Trolle tanzen Tango

      Maike Stein

      »Der Tango muss getanzt werden.«

      Nä nä nä nä nä nä … Sie sagte es nicht laut, aber in ihrem Kopf hallte der Trotz wider. NÄ NÄ NÄ NÄ NÄ NÄ. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte mit dem Fuß auf. Nicht, dass das besonders wirkungsvoll gewesen wäre. Der Schnee dämpfte, was ein nachhaltiger Knall hatte werden sollen. Nicht, dass der ihre Mutter beeindruckt hätte.

      Schnee stäubte unter ihrem Fuß auf, wirbelte empor, und sie musste niesen.

      Ihre Mutter lachte. Tränen liefen ihr aus dem Auge und an der dicken Knollnase hinab, und sie hielt sich ihren dicken Bauch, aus dem das tiefe Gelächter hinaufstieg.

      »Ach, Tröllchen.« Ihre Mutter wischte sich mit dem Handrücken über das Auge.

      Wie sie das hasste! Wenn sie wenigstens einen Spitznamen hätte, der von ihrem Namen stammte – aber nein, nicht einmal das brachte ihre Mutter fertig! »Tröllchen.« Als wüsste sie nicht, dass sie ein Troll war, als müsste sie ständig daran erinnert werden. Pah.

      Sie stieß den Fuß erneut in den Schnee, so dass er wieder vom Waldboden aufstäubte, dieses Mal allerdings in Richtung ihrer Mutter. Doch die trat einfach nur einen Schritt zur Seite, und der Schnee flog auf und tanzte in tausend Kristallen wieder zu Boden.

      Die, ja, die konnten tanzen! Schwerelos, zart, funkelnd – so, wie sie es nie hinbekommen würde.

      »Und mit wem soll ich tanzen?«

      »Mit mir zum Beispiel.«

      »Du schaust doch eh nur Papa an.«

      »Dann halt mit deinem Bruder.«

      »Der hat jetzt Freda.«

      »Ach Tröllch...«

      »Nenn mich nicht so!«

      Jetzt kreuzte auch ihre Mutter die Arme vor der Brust, und ihr eines Auge funkelte gefährlich. »Frollein.« Hinter ihrem Rücken hervor zuckte ihr Schwanz, peitschte