Lisa Kuppler

O Du Fröhliche


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mag keinen Fisch.«

      ~ 24.12.1930 ~

      Dieses Jahr hat sie Karl nicht abgeholt. Auch die Kinder sind mit ihren Familien zu Hause geblieben, und sie hat nicht vor, sie zu besuchen.

      Sie kann keinen von ihnen mehr sehen: nicht Karl, der wie ein Fremder ist, wie ein Kind manchmal oder wie ein Tier. Ist das noch ihr Mann? Ist der nicht gestorben, vor Jahren schon?

      Die Kinder mit ihren gut gemeinten Ratschlägen sind fast noch schlimmer.

      Nach dem Essen sitzt sie im Wohnzimmer vor dem Christbaum und wartet auf die Müdigkeit, die nicht kommt. Stattdessen kommen die Tränen.

      Es war ihr erster und letzter Heiligabend allein.

      ~ 24.12.1935 ~

      Karl wirkt anders als sonst, anwesender. Schon seit Monaten erkennt er sie regelmäßig. Morgen kann es wieder vorbei sein, doch sie kann die Hoffnung nicht aufgeben, egal was die Kinder sagen. Sollen sie sie doch für närrisch halten.

      Als sie die Wohnung betreten, betrachtet er alles genau. Am Esstisch dann ein Blick auf das Essen und ganz plötzlich die Frage: »Hilde, ist heut Heiligabend?«

      Sie ist zu überrascht, um zu antworten.

      »Hilde, ist heut Heiligabend?« Die Frage ist drängender diesmal, ängstlich. Die Macht, die sie in diesem Moment besitzt, ist erschreckend.

      Langsam nimmt sie seine Hand. Er lässt sie.

      »Ja.«

      Diese Geschichte besteht aus sogenannten »Drabbles«, die stets genau hundert Worte lang sind.

      Leise rieselt der Schnee

      2010

      Ankunft in der Wolkenhalle

      Maike Stein

      Betreten auf eigene Gefahr

      Zutritt nur für Personal

      Neben das Schild hatte jemand das Symbol der Schneeflockenfahrer in die Tür geritzt, und Lana legte ihre Hand darauf, spürte die Rillen in der ansonsten glatten Oberfläche. Ihre Schwester hatte also nicht gelogen, sie hatte wirklich hier gestanden an ihrem ersten Tag der Ausbildung, ein Taschenmesser in der Hand und für ein paar Momente niemand in Sicht, der sie hätte zurückhalten können. »Ich wollte einfach sichergehen, dass eine Spur von mir dort zurückbleibt. Damals hab ich noch Angst gehabt, unsere wutschnaubenden Eltern könnten jeden Augenblick angestürmt kommen und mich nach Hause zerren.« Lenny hatte gelächelt. »Und ein bisschen hab ich es mir gewünscht, hab mir gewünscht, dass sie es doch nicht ernst gemeint hatten mit dem ›Du bist nicht mehr unsere Tochter, wenn du dort hingehst‹, aber, na ja, du kennst sie ja.« Es war das letzte ihrer heimlichen Treffen gewesen. Das Nächste, was sie von ihrer Schwester gesehen hatte, war die Todesanzeige im Wolkenkurier gewesen.

      Lana berührte kurz die dunkle Brille, die in der Brusttasche ihrer Jacke steckte, und wiegte sich in den Stiefeln vor und zurück, um das Knarren des neuen Leders zu hören. Sie strich noch einmal über die Messerspuren und stieß die Tür auf. Die Wolkenhalle war voller Stimmen, ein Wort überlagerte das andere, und sie verstand kein einziges, sie nahm nur das Lächeln auf all diesen Gesichtern wahr. Frauen und Männer gingen aufeinander zu, Hände klopften auf Schultern, Küsse wurden auf Wangen gedrückt, Oberarme getätschelt, manche zogen sich spielerisch an den Jackenaufschlägen, manche umarmten einander, andere winkten sich quer durch die Halle zu. Lana riss ihre Augen so weit wie möglich auf, wollte nichts von diesem ersten Anblick verpassen. Sie stand wirklich hier. Lenny hatte hier gestanden. Hatte diese kühle Luft an Lippen und Wangen gespürt, das Glitzern der Kristalle durch offenstehende Startluken gesehen.

      »Name?«

      Sie fuhr herum. Ein Mann mit einem Klemmbrett in der einen und einem Stift in der anderen Hand blickte sie abwartend an. »Lana Grey.« Ihr Herz schlug so schnell, dass es weh tat. Lenny hätte hier sein sollen, so war es geplant gewesen, sie hätte hier sein und ihr alles erklären sollen.

      »Wenn du erst alt genug bist, kommst du zur Wolkenhalle, und ich bringe dir das Flockenfahren bei.« Worte, in ihr Ohr gewispert, vor zwei Jahren. »Und du wirst sie alle kennenlernen, wirst sie mögen.« Lenny hatte sie fest an sich gedrückt und ihr von Keena erzählt, die mit nur einem Salto eine ganze Herde Flocken in eine neue Richtung wirbeln konnte, von Red, der während der Wartezeiten strickte. Von Raubeins ansteckendem Lachen, »so tief und glucksend, dass selbst die schlechtesten Witze gut werden«, von Pen, die jede Schneeflocke, der sie begegnete, zeichnete, und noch keins ihrer Bilder glich dem anderen, von jeder einzelnen Falte auf Jorricks Gesicht. Von Yrma und Yna, den waghalsigen Zwillingen, die ihre Steigschirme immer erst im allerletzten Moment öffneten und für das Kitzeln in der Magengrube lebten, das dieser Stunt auslöste. »Aber weißt du, was wirklich das Beste am Flockenfahren ist? Zu fliegen und dabei zu wissen, dass du immer wieder zu all ihnen zurückkehren wirst.« Damals hatte Lenny ihr die Brille geschenkt.

      »Grey, hm?« Der Mann mit dem Klemmbrett ließ den Stift fallen und steckte zwei Finger in den Mund, stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Die Gespräche in der Halle verebbten. Lana schluckte, noch nie zuvor hatte sie so viele Blicke gleichzeitig auf sich gespürt. »Leute, sie ist hier! Begrüßt unsere neueste Schneeflockenfahrerin – Lana Grey!« Er schob sie ein Stück weiter in die Halle hinein.

      Hätte sie doch bloß die Brille aufgesetzt! Der losbrechende Sturm an Willkommensrufen, -pfiffen und -klatschen trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie drückte eine Hand gegen die Brust und verbeugte sich, wischte schnell mit dem Handrücken über ihr Gesicht. Eine Hand umfasste ihre Schulter, richtete sie auf. Der Mann mit dem Klemmbrett blinzelte ihr zu. »Mach dir nichts draus, die meisten heulen, wenn sie zum ersten Mal hier reinkommen. Lenny auch.« Er grinste. »Und ich, aber verrat mich nicht, sonst schmilzt mein Ruf als coolster Türsteher der Wolkenhalle schneller als Schnee auf Hawaii.«

      »Mach der Kleinen nichts vor, Jerry, wir wissen alle, dass du Rotz und Wasser geheult hast.« Eine weißhaarige Frau war zu ihnen getreten und lächelte ihr zu. »Ich bin Keena und werd dir alles übers Flockenfahren beibringen. Du hast dir einen guten Tag für deinen Anfang ausgesucht, der 24. ist der beste.«

      »Das hat Lenny auch gesagt.«

      »Ich weiß.« Keena zog sie an der Hand mit sich in die Menge.

      Wenn wir am 24. Schneeflocken runtertreiben, hatte Lenny ihr in einem ihrer Brief geschrieben, dann sehen die Menschen sie sich wirklich an – und ein paar wenige von ihnen bemerken sogar uns, wenn wir unsere Steigschirme öffnen und inmitten der Schneewirbel wieder nach oben fliegen. Und dann siehst du das glückliche Staunen in den Augen dieser Riesen, und das ist – bezaubernd.

      Immer wieder wurden sie gestoppt und begrüßt, Namen und Gesichter prasselten auf Lana ein, und alle hatten sie etwas über Lenny zu sagen.

      »Ihr habt sie wirklich gemocht, oder?«

      Keena drückte ihre Hand. »Lenny war eine von uns.« Sie waren an einer Startluke angelangt, und Keena sah sie an. »Also, bereit für deinen ersten Flug?«

      Lana nahm die dunkle Brille aus der Brusttasche ihrer Jacke und berührte dabei mit den Fingerkuppen das mit der Zeit samtweich gewordene Papier, das ebenfalls dort steckte.

      Lenny Grey, hochgeschätzte und geliebte Freundin, Schwester, Tochter, Tante, Nichte, Enkelin, Cousine, Kollegin und verwegenste Fahrerin von allen. Wir vermissen dich.

      »Ja.«

      Der große Bruder

      Thea Eickmeyer

      »Mama, wer ist das?«

      Gina steht in der Tür, ein Fotoalbum in der Hand. Es ist das alte rote, stellt sie bei näherem Hinsehen fest, das mit den Bildern aus ihrer Kindheit. Sie wusste gar nicht, dass sie es noch hat – bestimmt ist es fünfzehn Jahre her, seit sie es zuletzt angesehen hat.

      »Wer ist das?« Gina ist zum Küchentisch gekommen, hat das Album aufgeschlagen