Lisa Kuppler

O Du Fröhliche


Скачать книгу

wäre einfach, abzulenken, zu sagen: ›Ein Freund von mir, von damals.‹ Sie will es sagen, doch was sie sich stattdessen antworten hört, ist: »Das ist mein Bruder.« Sie weiß nicht, warum.

      »Wie heißt er denn? Wo ist er, Mama?«

      Wie erklären?

      »Ich…ich hab lange nicht an ihn gedacht. Ich hab ihn ganz vergessen.«

      Gina schaut verständnislos. »Habt ihr euch gestritten? Und jetzt redet ihr nicht mehr miteinander?«

      Wie soll eine Achtjährige das verstehen? Sie versteht es ja selbst kaum. Und auch sie war damals erst acht. Damals, als Dennis wegkam.

      »Ich will nicht weiter drüber reden. Frag nicht mehr. Das geht dich nichts an. Und jetzt bring das Fotoalbum zurück in den Schrank.«

      Totschweigen. Die einfachste Lösung. Die Lösung ihrer Eltern. Gina mault, bringt dann aber gehorsam das Album weg.

      In der Nacht liegt sie schlaflos im Bett. Wieso hat sie Gina von Dennis erzählt? Wieso nicht gelogen, wie so oft zuvor, jedem gegenüber – Freunden, Arbeitskollegen, ihrem geschiedenen Mann.

      Aber sie hat gelogen. Sie hat an ihn gedacht, oft sogar. An den Tag, an dem es hieß: »Dennis kommt weg. Wir können nicht länger für ihn sorgen.« An ihre Tränen, als sie dem Auto der Eltern vom Wohnzimmerfenster aus hinterhergesehen hatte. An den einzigen schrecklichen Besuch im Heim, die weißen Wände und leeren Zimmer, ganz anders als zu Hause. An die unfreundlichen Leute dort und daran, wie Dennis geweint und geschrien und sich an seine Schwester geklammert hatte, als sie wieder gingen.

      Irgendwo auf dem Dachboden muss noch Wuschel liegen, sein alter Stoffhase. Den hatte sie, nachdem Dennis weg war, ein Jahr lang jede Nacht mit im Bett gehabt, bis ihre Mutter sagte, jetzt sei Schluss, sie sei doch schon groß. Bei ihrem Auszug von den Eltern hat sie ihn aus einem Karton im Keller mitgenommen.

      Am Ende schläft sie doch ein, aber sie träumt wirres Zeug von einem Hasen im Gefängnis.

      Es scheint Gina nicht zu kümmern, was ihre Mutter sagt. Trotz mehrerer Verbote, weiterzufragen, heißt es »Onkel Dennis hier« und »Onkel Dennis da« – wo wohnt er, was macht er, hat er auch Kinder? Könnte man ihn nicht besuchen? Er freut sich doch bestimmt!

      Vermutlich würde er sich nicht einmal an sie erinnern, aber das kann sie Gina nicht sagen. Überhaupt ist das alles Unsinn. Es wird keinen Besuch geben. Dennis gehört für sie zur Vergangenheit und sie für ihn, da ist sie sich sicher. Schluss damit! Basta.

      »Dennis, dein Besuch ist da.«

      Ihr ist, als könne sie kaum atmen. Schon während der einstündigen Autofahrt war sie aufgeregt, aber jetzt ist es zehnmal schlimmer. Sie ballt die Hände zu Fäusten, damit sie aufhören zu zittern.

      Ein ihr unbekannter Mann steht vom Tisch im Gemeinschaftsraum auf, wo er mit Bewohnern und Betreuern ein Gesellschaftsspiel gespielt hat. Er ist nicht besonders groß, pummelig und hat erste Anzeichen einer Glatze.

      Wie Papa, schießt ihr durch den Kopf.

      Die Betreuerin, die sie am Eingang abgeholt hat, geht zu Dennis, der neben seinem Stuhl stehen geblieben ist. »Du weißt doch, was wir besprochen haben? Dass deine Schwester heute kommt?«

      Er nickt, schaut aber zweifelnd. Sie kann es ihm nicht verübeln.

      »Dennis? … is das?«, fragt ein junger Mann im Rollstuhl, und »Dennis, weiterspielen!«, fordert eine blonde Frau. Alle schauen sie neugierig an, Dennis eingeschlossen. Wer ist diese Frau, die behauptet, seine Schwester zu sein? Schwester, das ist doch bloß ein Wort – seine Familie ist hier, sind diese Leute, das erkennt sie auf einmal. Vielleicht sollte sie gehen.

      Doch plötzlich kommt Dennis auf sie zu, und bevor sie weiß, wie ihr geschieht, umarmt er sie.

      »Anne!«

      Anne. Nur er hat sie je so genannt. »Ariane« war ihm schon als Kind zu schwer. Jetzt lässt er sie los, fasst ihre Hand.

      »Komm! Zimmer zeigen.«

      Die Betreuerin nickt, und sie lässt sich von ihm mitziehen. Alles geht so schnell. Beim Weg durch die Flure fällt ihr auf, wie anders es hier aussieht als bei ihrem ersten Besuch vor mehr als zwanzig Jahren. Keine weißen, kahlen Wände; überall ist Farbe, sind Bilder und Pflanzen.

      »Hier. Meins.«

      Sie sind da, und sie betrachtet sein Zimmer, die Poster an den Wänden – er mag Disney und Fußball. Noch immer fühlt sie sich befangen, doch er tut so, als hätten sie sich erst gestern gesehen. Er plaudert, zeigt ihr dies und das, erzählt von seinen Freunden. Und die ganze Zeit hält er ihre Hand.

      Beim Abschied ist sie es, die mit den Tränen kämpft.

      »Willst du uns Weihnachten besuchen?« Ein spontaner Einfall. Er nickt begeistert, grinst wie ein Honigkuchenpferd.

      »Weihnachten bei Anne.«

      Die Realität am Weihnachtsabend ist weniger rosig. Ja, Dennis hat sich über den Fußball und das Trikot der Nationalmannschaft gefreut, aber im Ganzen ist er weinerlich und wortkarg. Und ist das verwunderlich? Im Heim hätte er ein Weihnachtsfest mit seiner richtigen Familie, so wie er es gewohnt ist. Hier ist er im Grunde bei Fremden.

      Auch Gina ist schüchtern, hat Berührungsängste. Sie hat versucht, es ihrer Tochter zu erklären: dass Onkel Dennis behindert ist, dass er nicht richtig erwachsen ist, nicht im Kopf. Doch Theorie ist eine Sache, ein Onkel aus Fleisch und Blut, der kindlicher ist als die Nichte, eine ganz andere.

      Jetzt sitzen sie beim Essen. Es gibt Hähnchen, sein Lieblingsgericht. Er isst schweigend, sie und Gina stochern nur herum.

      »Mama, kann ich rausgehen, einen Schneemann bauen?«

      Draußen ist es dunkel, aber die Lampe bei der Tür spendet genug Licht.

      »Na gut. Vergiss Mütze und Handschuhe nicht.«

      Gina springt auf, und auch Dennis legt die Gabel weg. »Auch Schneemann bauen.«

      Sie zögert erst, nickt dann aber. »Schön, wir gehen alle.«

      Fünfzehn Minuten später ist das Eis zwischen Dennis und Gina gebrochen. Sie sind ein gutes Team, und es macht Spaß, ihnen zuzusehen. Als der Schneemann fertig ist, holt sie von drinnen einen Topf als Hut und eine Möhre als Nase, für Augen und Mund sammeln sie zwei Steine. Zum Schluss macht sie ein Foto: der Schneemann in der Mitte, Dennis und Gina winkend auf beiden Seiten.

      Gerade will sie sagen, dass es Zeit ist, wieder hineinzugehen, da beginnt es zu schneien, in dicken, weichen Flocken. Dennis lacht und versucht, sie mit der Zunge zu fangen. Gina macht begeistert mit.

      »Anne, komm!«, ruft Dennis und greift nach ihrer Hand. Sie will abwehren, doch ganz plötzlich kommt die Erinnerung. An einen Nachmittag im Schnee mit dem großen Bruder – sie war nicht älter als fünf. Der Schneemann mit Opas altem Zylinder, das dichte Schneetreiben später und Dennis und sie, hüpfend und lachend, sich an den Händen fassend, Zungen weit ausgestreckt.

      »Komm!«

      Sie kommt, und als sie die ersten kalten Flocken auf der Zunge spürt und den festen Griff seiner Finger um ihre, da weiß sie, dass sie keine Fremden mehr sind. Nicht heute und nie mehr.

      Die Weihnachtsmission

      Anja Kasseckert

      Schon wieder hatte ich das Christkind nicht gesehen!

      Ich folgte dem Finger meiner Oma Richtung Nachbars Kuhstall.

      »Guck, do – i glaub, do isch' es grad ums Eck g'floga!«

      Ich reckte den Hals so weit es die Fensterscheibe zuließ.

      »Ho, schaad', weg isch' es«, sagte meine Oma. »Maacht nix, es kummt beschtimmt no' amol vo'bei. 'Etzt guckscht halt no' a bissle.«

      Ich war ein wenig verärgert. Eigentlich