Charles Keller

Strohblondchen


Скачать книгу

dem Sand. Sie bemerkten auch nicht, dass Gerds Gebrüll dabei wohl noch lauter geworden war, um dann mit einem Mal zu verstummen, angesichts dessen, was sie da – und er vor allem – zu sehen bekamen.

      Ein etwa sechzig Zentimeter langes, rostiges Moniereisen ragte aus des Geschockten linker Wade, und sein Blut strömte in rhythmischen Schüben den pulvrigen Abhang hinunter, bildete kleine, rotbraune Kügelchen, die, vorbei an der kreidebleichen Lene, zu Tal kullerten und vor den Füßen von Antonio und Miguel zum Stillstand kamen. Diese beiden waren nämlich, alarmiert vom erbarmenswerten Gekreische, herbeigeeilt und durften auch gleich helfend eingreifen, indem sie das kleine Mädchen auffingen, das urplötzlich seine grünen Äuglein verdreht hatte, mit dem Popo in den Sand gesackt war und dann mittels einer ungewollten Rolle rückwärts auf eben jenen blutigen Murmeln zu landen drohte, die wahrscheinlich seine Ohnmacht ausgelöst hatten.

      An Händen und Füßen trugen die beiden Gastarbeiterkinder Lene in den Schatten, unter den einzigen noch auf dem Grundstück verbliebenen Baum, wo die dann gerade noch rechtzeitig wieder zu sich kam, um mit anzusehen, wie ihr Vater, mit beiden Armen wild umherfuchtelnd, auf die Baustelle stürmte.

      Als der den Ort des Geschehens erreicht hatte, landeten zunächst einmal eine nicht mehr nachvollziehbare Anzahl von Schlägen an Wolfis Kopf. Mit beiden Händen trommelte er auf den Ärmsten ein. Erst als der flüchten wollte, halbierte sich die Schlagzahl – weil er ja dann eine Hand brauchte, um den Delinquenten festzuhalten.

      Unterdessen waren auch Mama Ritter und ihr Bruder Hans eingetroffen, die sich jedoch nicht an der wüsten Hauerei beteiligten, sondern dem Verunglückten zu Hilfe eilten, der wohl den ersten Schock überwunden hatte und anfing, zu stöhnen und zu jammern. Ein Mal schrie er noch auf, als sie ihm das Bein am Oberschenkel abbanden, direkt über dem Knie – mit dem hastig abgerissenen Träger von Mutter Ritters Küchenschürze.

      Onkel Hans trug Gerd zur Straße und wuchtete ihn auf den Rücksitz seines "Goggomobils" – natürlich nicht ohne seiner Schwester die spätere Reinigung des Fahrzeugs zu befehlen. Seinen Schwager, der dann doch nicht mehr länger auf das winselnde Häuflein Sohn eindreschen wollte, zitierte er auf den Beifahrersitz, zwängte seinen eigenen, für dieses kleine Vehikel viel zu groß erscheinenden Körper daneben und startete den unfreiwilligen Krankentransporter. Der gab selbstverständlich eine dem Ereignis gerecht werdende Qualmwolke von sich.

      Der Zweitaktmotor des rollenden Winzlings war schon lange nicht mehr zu hören, da weilten die Zurückgebliebenen noch immer reglos inmitten der grässlich stinkenden Auspuffgase – und außer dem Gewimmer von Wolfi herrschte eine gespenstische Ruhe. Es schien, als hätten selbst die Vögel eine Schweigeminute eingelegt – für den Verletzten und den Geschlagenen sowie für die beiden Kleinen, deren restliche Ferientage nun gewisslich auch kein Zuckerschlecken mehr werden sollten.

      Das große Schweigen beendete dann die unbeschürzte Rittersfrau – und der strohblonden Lene wurde schnell klar, dass sie wieder einmal, eine noch nicht abzuschätzende Zeit lang, auf ihren selbst gewählten und ungleich mehr geliebten Spitznamen würde verzichten müssen.

      „Magdalena! Wolfgang! Sofort ab nach Hause! Ich bring noch Enno zu seiner Oma und sag schnell Gerds Eltern Bescheid. Die werden eine Freude haben!“

      Magdalena ging noch einmal zum Sandhaufen und half ihrem daneben kauernden und schluchzenden Bruder auf die von Schlägen verschonten Beine – und so trotteten sie Hand in Hand von dannen. Beide sollten das Grundstück Bachweg Nr. 15 erst am Tage des Einzugs wieder betreten.

      Kapitel 2

      Sommer 1970: Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien. Alles deutete auf einen wunderschönen Sommertag hin, als Wolf sich auf den Weg ins drei Kilometer entfernte Weidenbach machte. Dort besuchte er das Erwin-Rommel-Gymnasium und ging – nun ja, gerade mal diesen Vormittag noch – in die siebte Klasse.

      Das verniedlichende "i" in seinem früheren Spitznamen hatte Wolfgang Ritter nicht mit auf die Oberschule genommen. In der zweiten Dekade seines Lebens sollte ihn keiner mehr "Wolfi" rufen – ihn, der nun bereits fast einen Meter und achtzig maß.

      Kein Lüftchen war zu spüren, als er seinen Drahtesel aus der Garage schob. Die hohen Pappeln am See bewegten sich nicht einen Millimeter. Ihre Blätter hingen so schlapp an den Ästen, dass Wolf einige der Löcher erkennen konnte, die er in den letzten Tagen mit Vaters Spatzengewehr hineingeschossen hatte.

      „Wolfgang, du musst jetzt los!“, rief seine Mutter hinter dem aufgeklappten Küchenfenster, und sie zeigte dabei gut ein Dutzend Mal auf ihr linkes Handgelenk, an dem sich, soweit er wusste, noch nie eine Armbanduhr befunden hatte.

      Und da hörte er auch schon das unverwechselbare Gepolter auf der Treppe, mit dem sich Lene anzukündigen pflegte. Die ging noch auf die Volksschule im Weidenbacher Ortsteil Friedberg, und dabei würde es wohl auch bleiben – „weil sie zu doof ist!“, wie ihr der Papa bei jeder Gelegenheit bescheinigte.

      Dabei war sie genau das Gegenteil – fand Wolf. Er selbst war fast drei Jahre älter und konnte heute noch nicht so gut mit Pflanzen und Tieren sprechen wie die allseits verkannte Schwester. Auch Geister, Dämonen und ganz besonders Feen mochten auf ihn lange nicht so gut hören wie auf Strohblondchen – wie sie seit einiger Zeit schon, aber einzig und ausschließlich in diesen illustren Kreisen genannt wurde.

      Den Feen, diesen zarten Wesen, hatte sie es auch zu verdanken, dass sie nicht schon wieder, für die ersten Ferienwochen zumindest, in Magdalena umgetauft zu werden brauchte. Die Bachfeen, die freundlichsten dieser Spezies, hatten nämlich dafür gesorgt, dass die im blauen Brief dokumentierte gefährdete Versetzung dann doch noch außer Gefahr geraten sollte. Dass der nicht zu überhörende sonntägliche Besuch von Papa Ritter bei Lehrer Mönk, der gerade mal einen Steinwurf entfernt bei Witwe Görsmayer zur Untermiete wohnte, etwas mit ihren verbesserten Zensuren zu tun gehabt haben könnte, stand daher für Lene absolut außer Frage.

      Er, Wolf, liebte seine Schwester wie niemand anderen, was er noch keiner Sau je erzählt hatte – und auch sonst keinem. Nichtsdestotrotz verhinderte er ein des Verquasselns verdächtiges Zusammentreffen mit ihr, indem er schnell auf sein Rad stieg und reichlich Gummi gab.

      Es war ohnehin zu spät, um den kürzesten Weg über die Austraße nehmen zu können, weil jetzt sämtliche Knalltüten, die nicht weiter weg wohnten als Ecke Bahnhofstraße und deshalb zur Ludwig-Uhland-Schule nach Friedberg mussten, in einem grölenden Konvoi entgegenkommen würden. Der holprige Weg übers Zornfeld war die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, und gleichfalls allem, was sich mit einem Aufeinandertreffen hätte verbinden können – spätere Rache an der doofen kleinen Schwester inklusive.

      Irgendwie war ihm der kleine Umweg sowieso lieber, und er nahm ihn immer öfter, auch wenn kein Gegenverkehr zu derlei Befürchtungen Anlass gab. Wolf war nämlich, vielleicht nicht so sehr wie seine Kleine, Gott erbarme, aber doch auch eher den weniger belebten Zonen auf dieser Welt zugetan. Zu keiner Zeit jedoch wäre er, zudem eine ganze Schulstunde lang, von einem jungen Salamander, dem die Hinterbeine abgefahren wurden, aufzuhalten gewesen.

      „Hättest du ihn wenigstens mit in die Schule genommen – als Entschuldigung sozusagen!“

      Da sie es allerdings vorgezogen, gar für ihre oberste Pflicht angesehen hatte, den Sterbenden ins Salamanderjenseits zu geleiten und an einem ihrer Lieblingsplätze am Weidenbach feierlich zu bestatten, war dieser gleichermaßen abwegige wie verspätete Ratschlag auch auf wenig bis gar kein Verständnis gestoßen.

      Er, der selbst nie zu spät zum Unterricht kam, obwohl auch er gelegentlich gerne die eine oder andere Minute abseits des Wegs verbummelte, erkannte nun, wie er nochmals darüber nachdachte, dass er da wohl doch einen rechten Scheiß verzapft habe. Schließlich wäre, ebenso an seiner Schule, ein Eintrag für verspätetes Eintreffen ins Klassenbuch – auch mit einem halb toten Kriechtier im Gepäck – so gut wie gar nicht zu verhindern gewesen. Ganz zu schweigen von den spitzen Bemerkungen seiner Klassenkameraden, für die er ohnehin ein Landei war – und nicht bloß, weil auf dem Weg zwischen Schule und Bachweg 15, der zweiten Hälfte auch nur, genau vier