Charles Keller

Strohblondchen


Скачать книгу

der Stadt, von wo das letzte ländliche Fäkalienen-Depot bereits 1967 verbannt worden war.

      Wie erhofft, begegnete ihm erst bei der Firma "Klobrillen-Wirtz" eine menschliche Kreatur. Max, einer der zahlreichen Schluckis, die dort arbeiteten, hatte bestimmt mal wieder verschlafen und schlüpfte gerade durch ein eigens für solche Vorkommnisse herausgeschnittenes Loch im Zaun. Eilig verschwand er im Fertigteilelager zwischen den großen Holzkisten, die auch andere Produkte enthielten als Klobrillen, wohl aber keinen solch schönen Firmennamen abgegeben hätten.

      Schon überholten ihn, im Zehn-Sekunden-Abstand, die Karossen der Muttis und Vatis, die ihre handgebadeten Sprösslinge, nicht nur bei schlechtem Wetter, bis vors Portal des ehrenwerten Sandsteinbaus chauffierten. Dort würden die ihn dann bei den Fahrradständern erwarten, weshalb er sein Tempo auf ein Mindestmaß drosselte. Immer die Kirchturmuhr im Blick, wollte er es schaffen, die Zeitspanne von seiner Ankunft bis zum Klingeln so kurz zu halten, dass nicht einmal Schnellschwätzer Alfons einen ganzen Satz würde formulieren können. Ohnehin war heute noch einmal mit dem vollen Programm zu rechnen; es musste ja schließlich für sechs Wochen reichen!

      So kam es dann auch, dass sein Eintreffen schon von der Schulglocke begleitet wurde, wodurch sich das Landeier-Begrüßungs-Ritual mindestens bis zur ersten Pause verschob.

      In der Klasse hatte Wolf den Platz neben Eva – was ihm persönlich gar nichts ausmachte, aber häufig Anlass für Spötteleien der anderen Jungs war.

      Offiziell hatten sie Englisch in der ersten Stunde. Buschmann jedoch, der wegen seines komischen Ganges – er setzte beide Füße immer mit dem Absatz zuerst auf und rollte sie dann zur Spitze hin ab, sodass sein Körper stets auf- und abhüpfte – von allen heimlich Skippy genannt wurde, hatte bereits gestern angekündigt, wieder einen Schwank aus seiner Zeit als Studienreferendar in England erzählen zu wollen.

      So lauschten denn auch alle den Ausführungen des Lehrers, den sie im nächsten Schuljahr, mit Ausnahme der Lateiner, auch in Französisch haben sollten, als es draußen auf dem Gang mit einem Mal mächtig laut wurde.

      „Diese kommunistischen Verbrecher“, hörte man Rektor Mahnwitz brüllen, „nicht genug damit, dass die unser halbes Volk ausgerottet haben, jetzt vergiften diese russischen Schweine auch noch unsere Kinder!“

      Keiner in der Klasse hatte den Hauch einer Ahnung, was denn vorgefallen sein könnte. Skippy stand regungslos in der weit geöffneten Tür und sah, wie das kleine, drahtige Männlein die Treppe zum nächsten Stockwerk hochrannte. Eva und Wolf waren, dank ihres Sperrsitzplatzes, die Einzigen im Raum, die noch sehen konnten, wie Mahnwitz’ Oberhemd, das hinten über den Hosenbund gerutscht war, nun fast bis zu seinen Kniekehlen herunterbaumelte.

      Wolf hatte vom ersten Tag an Angst vor diesem Mann, von dem man sagte, er habe den Kriegshelden, der unserer Anstalt seinen Namen gab, sogar persönlich gekannt.

      „Bestimmt hat er ihn mal bei einem Afrika-Urlaub kennengelernt!“, hatte sein Vater einmal gewitzelt, als sie über diesen ehrenwerten Herren redeten.

      Es war anzunehmen, dass der Recht und Ordnung liebende Rektor und Oberaufseher, wie er es schon bei früheren skandalösen Ereignissen praktiziert hatte, nun von den beiden dreizehnten Klassen an abwärts sausen würde, um jede Tür unangeklopft aufzustoßen und die dahinter befindlichen Räume mit seinen gefürchteten Schimpfkanonaden zu befüllen.

      Leider machte er dabei dann – über die hoch akademische Bewertung der Russischen Seele hinaus – keine weiteren Angaben, sodass für die meisten nach des Meisters Abgang immer noch nicht klar war, was denn zu diesem neuerlichen Zwergenaufstand geführt hatte.

      Da an Unterricht jetzt nicht mehr zu denken war, schickten alle Pauker ihre Schüler auf den Hof – eine Art vorgezogene große Pause. Sie selbst begaben sich schleunigst ins Lehrerzimmer, in der Hoffnung, doch noch Näheres zu erfahren – aber Mahnwitz musste zuerst von seiner Sekretärin, Fräulein Keck, frisch gerichtet werden.

      Inzwischen hatten die paar wenigen Wissenden unter den Schülern jeweils einen Kreis Neugieriger, und das waren heute fast alle, um sich geschart und begannen, ein jeder auf seine Art, zu berichten.

      „Der Carl-Uwe Wenger isch dood“, erklärte Luise Rath, bei der Wolf in der dritten Reihe stand, mit pietätvoller Miene, „der hat sich wahrscheinlich z’viel Haschisch g’schpritzt!“

      Schon hatte der nachdenkliche Schüler genug gehört und wandte sich ab. Er setzte sich auf das Geländer der mächtigen Sandsteintreppe, die vom Schulhof zur Straße hinunterführte, und versuchte, seine Gedanken wenigstens ein bisschen zu ordnen.

      Da war zunächst Carmen, die jüngere Schwester des Verstorbenen, die ihn beschäftigte – die er zwar nur vom Sehen kannte, ihm aber ganz gut gefiel.

      „Wenn die ihren Bruder ähnlich lieb gehabt hat, wie ich meine Lene, dann ...!“

      Wolf bemühte sich, so gut er eben konnte, den Gedankenfluss, wenn er ihn schon nicht anzuhalten vermochte, wenigstens in eine andere Richtung zu lenken.

      „Z’viel Haschisch g’schpritzt?“, murmelte er gleich mehrmals vor sich hin.

      Zum zweiten Mal hörte er jetzt von diesem Zeug. Letztes Wochenende erst war dieses schwabenzungenfreundliche Wort gleich mehrmals gefallen, als er mit seinen beiden Cousins Gerd und Walter am Bach zelten durfte. Nicht von den beiden, sondern von Volker und Berthold, zwei älteren Nachbarjungen, die ihr Tipi ein paar Meter entfernt aufgeschlagen hatten. Die sahen sogar ein wenig aus wie Indianer, da sie beide die Haare schon weit über den Ohren trugen, was in jener Zeit eine immer stärker aufkommende Unart manch junger Menschenkinder war.

      Allerdings meinte sich Wolf zu erinnern, dass vom Haschisch-Rauchen gesprochen worden sei, was ja möglicherweise nur eine andere Variante des Genusses sein mochte. Er nahm sich jedenfalls fest vor, die beiden Bachindianer bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen.

      Bevor weitere Gedankenschübe von seinem Knobelapparat Besitz ergreifen konnten, bimmelte die Schulglocke und Wolf sprang auf. Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass es ja jetzt erst zur Fünf-Minuten-Pause klingelte – und so wunderte er sich, warum die Pennälergruppen auf dem Hof sich nicht augenblicklich auflösten, nicht allesamt ins Gebäude stürmten. Sollten die Ereignisse des Morgens etwa eine derart anarchisierende Wirkung auf die Schüler gehabt haben?

      Doch mit einem Blick auf die Uhr am Haupteingang hatte ihn die Realität wieder, und seine Schritte wurden zwar langsamer, aber er marschierte dennoch, zwischen all den mehr oder weniger schockierten Oberschülern hindurch, schnurstracks in den ersten Stock, wo er auf seinem Weg in die "7 c" allerlei Gesprächsfetzen aufschnappte, die ihm bedeuteten, dass dieses Thema wohl noch lange nicht durch sei.

      Zu allem Übel saß auch noch Fräulein Schmidt, bei der sie die nächste Stunde Deutsch hatten, mutterseelenallein am Lehrerpult – und sie sah überhaupt nicht glücklich aus. Die jüngste, aber nicht nur deshalb am wenigsten hässliche Lehrkraft war, was Wolf nicht wusste und auch nie erfahren sollte, die einzige, die sich im Lehrerzimmer kritisch zu Mahnwitz’ Auftreten geäußert hatte.

      „Herr Oberstudiendirektor, woher wollen Sie eigentlich so genau wissen, dass der tragische Tod des jungen Wenger in irgendeinem Zusammenhang mit dem Kalten Krieg steht?“

      Diese kecke Frage, die im Übrigen für alle Zeit unbeantwortet blieb, war dann wahrscheinlich auch der Hauptgrund dafür, dass es nach den Ferien keine Ulrike Schmidt mehr gab im Lehrerkollegium des elitären Erwin-Rommel-Gymnasiums zu Weidenbach.

      Sie ahnte es wohl schon – und Wolf spürte, es ging etwas in ihr vor, was jetzt so überhaupt nicht zu einem letzten Schultag passen wollte. Ohne den Hauch einer Idee, was er denn zu ihr sagen, wie er sie bloß trösten könne, stellte sich Wolf neben das Pult – und wie sich ihre Blicke trafen, realisierte er, Gleiches oder auch nur Ähnliches noch bei keinem anderen Lehrkörper unaufgeforderterweise getan zu haben. Gewiss wären beider Äuglein noch feuchter geraten, hätten sie bereits gewusst, dass sie sich im ganzen Leben nie mehr begegnen würden.

      So schwiegen sie sich eine halbe Ewigkeit lang an, und