Charles Keller

Strohblondchen


Скачать книгу

welchem Fach er seine beiden Stunden zu beginnen gedachte. Nach dem Klingeln war Wolf jedoch sicher, eine Geschichtsstunde hinter sich gebracht zu haben. Schon alleine deshalb, weil er sich von Erdkunde noch ein paar Inspirationen erhoffte, wo er die diversen Abenteuer der nächsten sechs Wochen stattfinden lassen könnte.

      Wenngleich die Eltern mit ihrem kleinen Betrieb gleichermaßen ein- wie angespannt waren, so brauche dies noch lange nicht heißen, dass er nicht jeden Morgen nach dem Frühstück seine Lene bei der Hand nehmen könne, um jedweden Ort auf dem Planeten anzusteuern. Mit den Rädern gar und Schwesterchens paranormalen Kräften würden sie auch von den entferntesten Zielen stets pünktlich zu Mittag- und Abendessen zurück sein.

      „Gehst du nicht auf den Hof?“, riss ihn Eva jäh aus seinen Reiseträumen.

      Bei ihr funktionierte besagter Durchzug-Schalter nämlich nicht automatisch – da sie auf jeden Fall zu den eher liebenswerten Menschen gehörte. Trotzdem missfiel es Wolf, wenn sie, so wie jetzt auch, nach dem Klingeln einfach auf ihn wartete, um dann mindestens bis zum Ausgang nicht von seiner Seite zu weichen.

      Sie war es auch, durch die er erstmalig im umgekehrten Sinne der Diskrepanz zwischen "wollen" und "haben dürfen" gewahr zu werden hatte. "Wollen" aber "nicht haben dürfen" mochte bei ihm nämlich die weitaus häufiger vorkommende Variante sein – bis dato jedenfalls!

      Schon beim "Hasenauer", der Bäckerei gegenüber der Schule, sah er, in der Schlange vor dem Tresen wartend, durchs Schaufenster ein Prachtexemplar der Kategorie "nicht zu haben" auf dem Bürgersteig stehen – Biggi Unruh aus der Parallelklasse. Er linste zwischen dem Korb mit den Zuckerschnecken und dem auf einem Zirkuspodest sitzenden, uralten Marzipanschwein hindurch – und dabei fühlte er sich wie "Tom Sawyer", als die süße "Becky Thatcher" das erste Mal an "Tante Pollys" Häuschen vorbeistolzierte. Hätte sie, die Biggi, auch noch ein rosa Schirmchen getragen, wäre es ganz sicherlich sein Wunsch gewesen, gleich am Nachmittag mit "Huck Finn" auf ein Bad im Mississippi loszuziehen und bei einem gepflegten Maiskolben-Pfeifchen von der Schönen zu träumen.

      „Was darf’s denn sein, junger Mann?“

      „Ähm, ..... eine Butterbrezel, bitte!“

      Warum, um Gottes willen, dachte der Absente, könne die Welt nicht einmal ein paar Minuten stillstehen, wenn er doch gerade .....? Wolf nahm seine Brezel, zahlte und eilte zurück, ohne einen weiteren Blick auf die kleine Unruh zu werfen, die ihn eben noch derartig in ihren Bann gezogen hatte, dass es ihm selbst unheimlich wurde.

      Zu diesem Zeitpunkt war er noch felsenfest davon überzeugt, schon baldigst an ein Mädchen zu geraten, das, wie er von ihr, gleichermaßen von ihm angetan sein würde.

      Auf der Mauer des Pausenhofes saßen Eva und alle ihre Freundinnen – also Dagmar und Sabine. Ihre Beine baumelten an den moosgrünen Sandsteinen herunter. Mit einem Schwenk, von Evas traurigem Gesicht hinunter über den Zebrastreifen, direkt in "Hasenauers" Schaufenster, wurde gewiss, dass sie wohl alles beobachtet hatte. Ob es nicht vielleicht weniger verletzend sei, schoss es ihm durch den Kopf, Eva ebenso links liegen zu lassen, wie es die hübsche Biggi mit ihm so selbstverständlich tat. In dem Moment, als Wolf, unter den nackten Mädchenfüßen durchmarschierend, den rechten Arm hochnahm, um Eva kurz an den Fußsohlen zu kitzeln, war dieser letzte Gedanke aber auch schon wieder verworfen.

      Was, wenn alle diejenigen, scherzte er im sicheren Gefühl der auf seinem Kreuz lastenden Blicke, die gerade nicht beiderseits ineinander verknallt sind, sich mit gegenseitiger Nichtbeachtung belegten, wäre das für eine Ruhe auf der Welt? – Die eine Hälfte der Menschheit würde wohl rumknutschenderweise in allen möglichen Ecken stehen oder hocken, während der Rest, jeder jeden ignorierend, einsam durch die Gegend zu rennen hätte. Das dürfte auch Eva kaum gefallen, resümierte er und winkte der nunmehr wieder fröhlicher dreinschauenden Mitschülerin noch einmal, bevor er hinter der alten Kastanie neben dem Hauptportal im Getümmel verschwand.

      Er wollte sich auch noch kurz auf dem Innenhof sehen lassen. Nicht alleine, um der von Alfons angeführten Highsociety eine letzte Gelegenheit zu bieten, sich gebührend von ihm zu verabschieden, sondern auch, um die einwandfreie Funktion seiner Superwaffe einem weiteren Härtetest zu unterziehen.

      So trabte er alsbald mitten zwischen den oberen Zehntausend hindurch, und tatsächlich, er hörte nichts als den langsam aufkommenden Wind, der in den Blättern der jungen Birken spielte, die den Hof nach dem Westen hin begrenzten. Ebenso wenig vernahm er den einen Glockenschlag vom Turm der evangelischen Kirche vis-a-vis.

      Zehn Uhr fünfzehn – in einem Deutschland, in dem es noch kein "Knoppers" gab und gleichfalls keinen "Walkman", mit dem man sich hätte schützen können vor verbalen Übergriffen. Als umso wertvoller erwies sich nun seine bahnbrechende naturmedizinische Errungenschaft. Der partiell Taube war total fasziniert davon, wie die Münder der wortgewaltigsten Rhetoriker aller Gewichtsklassen ohne Unterlass in Bewegung sein konnten und, obwohl deren Augen zweifelsfrei die Richtung ihrer Botschaften verrieten, beim Adressaten jedoch kein Ton ankam.

      Dieser verstand dafür umso besser das infantile Geschnatter des Fünftklässlerinnenquintetts nebenan, genauso störungsfrei, wie die von Karin Hahn aus der Sechsten nicht ganz fehlerlos vorgetragene Etüde "Für Elise", die aus dem Musiksaal herüberdrang. Ihr lauschte er gespannt, immer in der Hoffnung, der nächste Fehler möge ausbleiben – und obgleich sie ihm diesen Gefallen nicht zu tun imstande war, beschloss Wolf, ihre weitere Karriere in Auge und Ohr zu behalten.

      Mitten im Takt verstummte der edle "Steinway"-Flügel, und um den vertieften Kunstgenießer herum setzte sich alles in Bewegung – was nur bedeuten konnte, dass das unangenehme Geräusch der Schulglocke, zusammen mit allen anderen unreinen Schwingungen, mit Karacho durchs Feenhaar ins Weltall hinausgerauscht sein musste. Er würde äußerst vorsichtig sein müssen in Zukunft, um nicht irgendwann einmal, total weggetreten, auf dem Schulhof zurückzubleiben, ermahnte er sich und flitzte los.

      „Eine Stunde noch!“, jubilierte er leise und ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen.

      Evas Miene jedoch sah nicht ganz so aus, als ob sie seine Freude darüber uneingeschränkt teilte. „Sieht man sich mal – in den Ferien?“, wollte sie kaum hörbar wissen, und Wolf bemerkte erstaunt, dass sie ihre Brille abgenommen hatte.

      „Kann gut sein!“, flüsterte er noch leiser und schmunzelte verhalten.

      Verbindlicher mochte er allerdings nicht werden – und war froh, zu sehen, wie sich die Tür öffnete und Klassenlehrer Brecht eintrat. In seiner Rechten trug der wie immer seine alte braune Schultasche, während er auf seiner flachen linken Hand den Stapel aus siebenundzwanzig Zeugnisheften balancierte.

      „Die gibt’s aber erst am Ende der Stunde!“, stellte er gleich klar und knallte die Hefte aufs Pult. „Bis dahin wollen wir uns noch ein wenig der Geographie widmen, wo wir doch bereits eine Geschichtsstunde verbummelt haben. – Aus gegebenem Anlass natürlich, aber das Leben muss ja weitergehen! Ich will einfach mal davon ausgehen, dass ihr Jungstifte noch keinen Kontakt mit so etwas hattet – und auch nie haben werdet!“

      Sein besorgter Blick verriet allerdings, wie Wolf glasklar zu erkennen meinte, dass wohl eher der Wunsch der Vater dieses Gedankens war.

      Brecht zog einen Stoß fast gänzlich weißer Blätter aus der Tasche, und ein jeder wusste sogleich, was das zu bedeuten hatte. Darum ging auch umgehend ein Raunen durch die Reihen, was den Pädagogen wieder etwas fröhlicher werden ließ. Im Eilschritt verteilte er die Aufgaben, die darin bestanden, die in den Konturen der amerikanischen Ostküste bereits eingezeichneten Städte, Flüsse und Seen mit den Namen zu versehen, die er alsbald an die Tafel zu schreiben begann.

      Wolf war ganz gut in dieser Disziplin, und er liebte es ohnehin mehr, für sich arbeiten zu können, ohne die ansonsten stets präsente Befürchtung, in einer Phase geistiger Abwesenheit ertappt zu werden. So machte er sich denn eifrig daran, alle geforderten Eintragungen, von Nord nach Süd, vorzunehmen, um dann, vom Golf von Mexiko aus, gemächlich seinen Lieblingsfluss hochzuwandern.

      In solchen Momenten war seine Fantasie von grenzenloser Extravaganz. Ihm träumte, wobei er seine Augen tunlichst offen hielt, dass