Charles Keller

Strohblondchen


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oder sonst irgendwie besser fühlte, als die Tür aufging und seine Mitschüler hereinstürmten – von denen sich die meisten, allem Anschein nach, vom ersten Schock bestens erholt hatten.

      Nach dem Klingeln ordnete Fräulein Schmidt zunächst einmal eine Gedenkminute zu Ehren des viel zu früh Verstorbenen an. Mit einer eher unverfänglichen Thematik, der sich Wolf dann allerdings gänzlich entzog, schleppte sie sich durch ihre wohl denkwürdigste Stunde an dieser höheren Lehranstalt.

      Mit Wolfs Hirnströmen hätte man unterdessen ein mittleres Einfamilienhaus versorgen können. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Umspannwerk. Unaufhörlich kollidierten die viel zu vielen Gedanken mitten in seinem Gehirn – und dass er sie nicht unter Kontrolle bekam, lag mit ziemlicher Sicherheit an eben dieser viel zu klein geratenen Landeier-Erbse.

      Nur der unbeschreibliche, wohlmeinende Blick, den er nach dem Klingeln vom scheidenden Fräulein Schmidt noch mitbekommen hatte, und den er – für alle Zeiten – an einem ganz besonders hübschen Plätzchen in seinem schnuckeligen Oberstübchen aufbewahren wollte, erhellte und entlastete ihn noch eine Weile.

      „Hey, Ritter, was machst du eigentlich in den Ferien“, hallte es durch den Raum, „kriegen wir wieder eine druckreife Story aus dem Allgäu, hä?“

      Alfons, natürlich! Da müssten die Bolschewiken schon die halbe Schule vergiften, dachte der Verhöhnte, auf dass der nicht mehr die Muße hätte, irgendeinen armen Tropf niederzumachen. Auch die Unsitte, seine Mitschüler mit dem bloßen Familiennamen anzureden, missfiel Wolf in jeglicher Weise. Die das taten, konnten es sich nur von den Paukern abgeschaut haben, weil über deren Lippen lediglich dann Vornamen kamen, wenn zwei denselben Nachnamen trugen oder persönliche Bekanntschaft mit den Eltern, mitunter auch Verwandtschaft, sie dazu zwang. Im Übrigen war dies eine weitere Geisteshaltung, durch die sich Fräulein Schmidt vom restlichen Kollegium unterschied.

      Alfons war der älteste Sohn des größten, weil einzigen Verlegers am Ort, der unter anderem auch den "Weidenbacher Anzeiger" herausgab. Besonders unbesonnen Herausgegebenes war dem vorlauten Journalistenspross vor nicht allzu langer Zeit Anlass und unterwürfigste Verpflichtung gewesen, tatsächlich einmal, sogar mehrere Tage lang, seine große Schnauze zu halten.

      Der Staufenberg-Verlag hatte es nämlich gewagt gehabt, ein Buch zu veröffentlichen, welches von der ersten bis zur letzten Seite nichts als die reine Wahrheit enthielt – was ihm, und somit auch Alfons, überhaupt nicht gut bekam. Der Titel dieses für viele dennoch verleumderischen Machwerks war Wolf zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt. Er wusste lediglich, dass es von jener dunklen Zeit handelte, in der die besonders honorigen zusammen mit den nahezu bildungsfreien Weidenbachern die politische Mehrheit gebildet und sich in beispielhafter und vollkommen uneigennütziger Weise die Ärsche aufgerissen hatten – für Führer, Volk und Vaterland.

      Nachdem dieser literarische Vaterlandsverrat bereits mehrere Wochen im örtlichen Buch- und Schreibwarenladen ausgelegen hatte, mussten ihn dann doch noch ein paar Leute gekauft haben – wahrscheinlich Fremde – bestimmt aber Kommunisten!

      Wenn eben diese Herrschaften das Gelesene tunlichst für sich behalten hätten, wäre der Schinken sicher noch lange lieferbar gewesen. So aber hatte es zwangsläufug kommen müssen, dass es sich so ziemlich alle besonders rechtschaffenen Weidenbacher Großbürger nicht wollten nehmen lassen, einmal persönlich in der Bergstraße 35 bei Staufenbergs vorzusprechen. Und es war nicht anzunehmen, dass die dort, ob ihrer unfreiwilligen Mitwirkung in diesem schändlichen Wälzer, lediglich ein angemessenes Honorar zu fordern gedachten. Nein – wenn die armen reichen Staufenbergs nach diesen strengen Tagen eines nur kannten, dann war das, wie ihnen aufs Heftigste gezeigt wurde, genau der Platz auf der Welt, wo der Bartl den Most zu holen pflegt!

      Als ob dieser Ort noch irgendwem unbekannt gewesen wäre! Wo doch in jenen Tagen, und auch in früheren schon, ein großmäuliger, kugelrunder und nahezu halsloser bayrischer Einser-Abiturient die ganze Republik ständig darauf hinzuweisen beliebte.

      Außer Alfons’ zeitweiligem Verstummen war die Herausnahme dieses verabscheuungswürdigen Geschmieres aus dem Programm des Verlags nicht die einzige Folge geblieben. Der sich eigendynamisch verbreitende Skandal hatte außerdem dazu geführt, dass sich Tausende von Weidenbachern nun ganze fünf Exemplare mit deren fünf kommunistischen Besitzern teilen mussten.

      Wolfs Vater erzählte damals – erfundenerweise natürlich und gleich mehrmals, wenn er mächtig angeheitert vom Stammtisch nachhause kam – der Nachthimmel habe stundenlang taghell geleuchtet, wie in der sparsamst entnazifizierten Kleinstadt der schöne Brauch des nächtlich-feierlichen Bücherverbrennens wieder eingeführt worden sei.

      Erwartungsgemäß hatte es dann aber nicht allzu lange gedauert, bis der Anzeigenteil im "Weidenbacher Anzeiger" wieder von allen ortsansäßigen Geschäftsleuten im vormaligen Ausmaß genutzt wurde.

      Ebenso verhielt es sich mit dem Schweigen des Alfons. Jener hatte nämlich, just an dem Montag, als er seine vorwiegend einseitige Kommunikationsfreudigkeit wiedererlangte, zumindest einmal so viel von seinem früheren Selbstbewusstsein zurück, dass es ausreichend war, um – strammstehenderweise – am morgendlichen Kommando zur herzlichen Willkommensheißung von allen Außenseitern, Armen und Schwachen im Allgemeinen und im Besonderen von Wolf teilzunehmen.

      Der war jedoch kurz zuvor, mit tatkräftiger Unterstützung der zauberhaften Lene, in den Besitz einer äußerst wirkungsvollen Waffe gelangt, mit der er nun allen Anfeindungen verbaler Natur, von wem auch immer und auf alle Zeiten hinaus, Paroli bieten konnte. Unter ihren zerebralen Schaltstationen hindurch hatten sie sich nämlich, in einer nächtlichen, traumgesteuerten Operation, eine ganz besonders belastbare (Um-)Leitung für akustisch Unerquickliches von Ohr zu Ohr verlegen lassen. Der Einbau eines solchen Feenhaares sollte für die hypersensiblen Geschwister dann auch zum gewisslich wichtigsten medizinischen Eingriff ihres Lebens werden.

      Und daher erwartete in der ganzen Klasse bereits kein Einziger mehr, dass der erfahrene Italienurlauber Alfons eine Antwort auf seine Frage erhalte. Dennoch nahm sich Wolf vor, trotz der neu erlangten Fähigkeit, in Zukunft auf allzu intime Enthüllungen in seinen Aufsätzen verzichten zu wollen – oder aber auf die Wahrheit, wenigstens teilweise, zu pfeifen. Im Hinblick auf die bevorstehenden Ferien – die sich dieses Jahr, so viel war schon klar, in der Hauptsache an den postkartentauglichen Ufern des Weidenbaches, im heimischen Garten und gelegentlich noch im benachbarten Berg- und Talstadion mit seinen schier unüberwindlichen Grasbüscheln abspielen würden – müsse er allerdings ganz schön tief in die Karl May’sche Trickkiste greifen, um Alfons’ hochtrabenden Geschmack zu treffen.

      Noch aber waren zwei mal fünfundvierzig Minuten, gespickt mit wissensvermehrenden Maßnahmen, zu absolvieren. Im Gegensatz zu Fräulein Schmidt verkniff es sich Herr Brecht (Geschichte und Erdkunde) nicht, noch einmal auf das allererste Rauschgiftopfer des Landkreises zu sprechen zu kommen. In einer doch wesentlich seriöseren Version dessen, was die "7 c" von Rektor Mahnwitz’ verbalem Amoklauf mitbekommen hatte, wurde der seinem pädagogischen Auftrage gerecht und appellierte in angenehmer Zimmerlautstärke an eines jeden Vernunft. Des Weiteren verriet er, dass es schon früher Menschen gegeben habe, die einem ausschweifenden Lebensstile frönten und mit allerlei krank machendem Teufelszeug experimentierten.

      „Da gab es, gerade unter unseren Herren Schriftstellern, einige, die aus eben diesem Grunde mit verfaulten Hirnen im Irrenhaus landeten!“

      Gerne hätte Wolf ein paar Namen gehört, aber diese würde er wohl anderweitig in Erfahrung bringen müssen.

      „In den Lazaretten aller Kriegsschauplätze arbeiteten mitunter Ärzte“, fuhr der Lehrer fort, „die sich das schmerzstillende Morphium gerne auch mal selbst injizierten – und abhängig wurden. Viele konnten nie mehr davon lassen!“

      Sogar die allseits beliebte amerikanische Fertigbrause, ohne die ja bekanntlich auf Partys rein gar nichts mehr gehe, habe vormals – ganz unnötigerweise – die Droge Kokain enthalten, um die Konsumenten süchtig zu machen. Dieser feige Anschlag auf die Volksgesundheit, aus einer ganz anderen Richtung halt, müsse wohl lange verziehen sein, dachte Wolf – zumal ja das jährlich stattfindende Schulfest gemeinhin als "Cola"-Ball