Pit K

Semester of Love


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meine Unterlagen auf meinen Arbeitstisch. Ihren Mantel und ihren Rucksack schmiss sie aufs Bett.

      "Fühl dich wie zu Hause", ermunterte ich sie und bot ihr den bequemeren meiner Stühle an.

      Der Tisch, auf dem ich gedeckt hatte, stand in der Zimmermitte, so dass wir uns ge­genüber saßen und uns anflachsen konnten. Beinahe unbemerkt verstrich der Vormittag, doch heute entflogen wir nicht so weit wie gestern unseren Klausurenkomplexen. Sie zog es nach Hause, da sie unbedingt lernen wollte. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass sie unausgeglichen war, wobei ich nicht sicher war, ob das alles mit dem Examensstress zu­sammenhing.

      Am Freitag trafen wir uns zu unserer AG. Ich saß dicht neben ihr, und unsere Gesich­ter berührten sich fast beim gemeinsamen Durchgehen des vor uns liegenden Textes. Gerne hätte ich ihr Haar und ihre Haut gestreift, doch die Atmo­sphäre war anders als am Dienstag und Mittwoch. Betti wirkte wegen ihrer Unsicherheit be­züglich des Stoffes re­gelrecht quirlig, was eine eigenartige Spannung verursachte. Ich akzep­tierte diese Di­stanz, und wir zogen schlicht unser Pensum durch. Das bedeutete, dass ich meine Textin­terpretation erläuterte, und sie dazu (dumme) Fragen stellte. Als wir mit dem In­haltlichen zu Ende waren, erzählte sie, dass sie nächsten Mittwoch zu ihren Eltern fahren wollte, und wir uns voraussichtlich erst nach Weihnachten wiedersehen würden. Mit einem ihrer erschütterndsten Angstblicke bot sie mir an: "Wenn du magst, kannst du meine Telefon­nummer haben, falls dir was Wichtiges einfällt."

      Ich hatte das Gefühl, dass sie mich fachlich für genieverdächtig hielt, was ich leider selbst nicht so empfand. Auch erachtete ich es für wichtig, über die Feiertage eine Pause einzuschieben, was ich ihr ebenfalls nahelegte, mit der Empfehlung, uns das ver­dient zu haben.

      "Ich fahre nur nach Hause, damit meine Mutter für mich kocht, und ich mehr Zeit zum lernen habe", blubberte sie.

      Ich grinste. Sie tat mir mit ihrer Ängstlichkeit leid. Dafür fühlte ich umso mehr, dass ich sie gerne mochte.

      Auf der Rückfahrt nach Gievenbeck verbannte ich mittels meines Autos sämtliche Senti­mentalitäten aus meinem Gehirn. Mein Drehzahlmesser übernahm die Rolle des Stimmungsba­rometers, und ich genoss den sanften Druck auf dem Sitz beim Einsetzen des Turboladers. Für kurze Zeit vergaß ich Betti und das Examen. Morgen, auf Esthers Fete, würde ich mich rich­tig austoben, nahm ich mir vor, und genau das tat ich.

      Ich saß neben meinem Schwager, der mich ohne mein Schwesterherz begleiten durfte, an der Theke und trank Bier, sehr viel Bier, genaugenommen zu viel Bier. Da mich den Tag über 80 Seiten neue politische Ökonomie bearbeitet hatten, musste ich meine Ge­hirn­zellen bearbeiten, weil ich sonst von der Reizüberflutung überwältigt worden wäre. Da­bei flogen mir beachtlichen Neuigkeiten zu. Harald Köhlers ersten Bewerbungsaktio­nen waren sämtlich fehlgeschlagen und seine Frustration darüber unübersehbar. Esther war es gelungen, aushilfsweise in ein Projekt bei einem Industriebetrieb zu rutschen, und sie mach­te sich ernsthafte Hoffnungen auf ein Praktikum im nächsten Frühjahr in Frankreich. Nebenbei erzählte mein Schwager den neuesten Familientratsch.

      Die Erinnerung an das, was passierte, nachdem dieser mich verlassen hatte, und ich mich unter die Menge mischte, fiel mir schwer. Ich muss einer unnahbaren Juristin auf die Nerven gegangen sein, und auf dem Heimweg war mir ein entgegen­kommender BWLer aus dem sechsten oder siebten Semester behilflich. - Den folgenden Sonntag verbrachte ich schlafend.

      Am Montag war ich so weit regeneriert, um am Nachmittag der Wifipo AG beizu­wohnen, bei der mich primär der Verzehr von Andrea Reimanns ausgezeichneten Weih­nachtsplätzchen beschäf­tigte.

      Am Dienstag arbeitete ich wieder konstruktiv und ertrug willig Fechtis Se­minar. Für den Abend hatte ich mir den Einstieg in die Literatur der Wettbewerbspolitik vor­genom­men, die gemäß meinem Idealvorbereitungskonzept bis Weihnachten abgeschlossen sein sollte. Gegen neun Uhr überfiel mich ein Motivationstief und der Drang mit je­mandem zu telefonieren. Ich dachte an Esther, hielt es jedoch für ratsamer vor einer Kontaktaufnah­me mit ihr meine mangelhaften Erinnerungen an Samstag in einem Feedbackge­spräch mit einer neutraleren Person zu komplettieren.

      Betti kam mir in den Sinn. Sie war heute nicht im Seminar gewesen und wollte erst morgen nach Hause fahren. Vielleicht sollte ich hören, wie es ihr geht, und wie weit sie mit ihren Vorbereitungen war?

      Ich wählte ihre Nummer.

      "Draußen ist Winter, und es ist kalt, und die kleine Hexe hat sich zurückgezogen. Wenn es wieder hell wird, kommt sie wieder hervor und ruft..."

      "Bettina Claas", wurde der Anrufbeantworter mit Flüsterstimme unterbrochen.

      "Till hier. Tut mir leid wenn ich dich geweckt habe."

      "Hast du nicht. Ich liege zwar schon im Bett, döse aber noch ein wenig. Schön, dass du an­rufst. Wie geht's dir? Warst du heute im Seminar?"

      Ihre Stimme klang angenehm, und ich versetzte mich in ihr Appartement. Ich stellte sie mir im Bett liegend vor, in ihre Decke gekuschelt, so dass nur ihr Kopf herausschaute, an den sie den Telefonhörer presste.

      "Ich wollte einfach mal hören, wie es dir geht. Du warst ja heute nicht da, womit du sicher nicht schlecht gefahren bist. Fechti hat sich selbst übertroffen. Nach nicht ganz 10 Minuten löste er den Referenten mit der Bemerkung ab, dass es besser sei, wenn er sich setzen würde, da er das Thema offenbar nicht einmal im Ansatz verstanden hätte."

      "Unverschämt, nicht wahr?" kommentierte sie, was die Einleitung für einen ausgiebi­gen Er­fahrungsaustausch in Sachen Wifipo war. Es war beruhigend zu erfahren, dass ihre AG mit Michaela und den zwei Unbekannten offenbar von dem gleichen Schleier der Ungewissheit umgeben war wie wir. Sie argwöhnten ge­nauso den drohenden Szenarien, deren potentielle Ausprägungsmerkmale uns allen allzu be­kannt waren. Zu meiner Über­raschung vernahm ich, dass Michaela, die ich für extrem strebsam und deshalb für beson­ders klug gehalten hatte, nicht gerade durch in ihrer Qualität bestechende Beiträge auf­fiel.

      Nach einer Stunde wechselten wir das Thema. Der Papst, der Vatikan mit dem Petersdom und Bettis Italienreisen standen nun im Mittelpunkt. Ich erfuhr, dass in Siena eine der größten europäischen Privatbanken in einem imponierenden Gebäude ihren Stammsitz hat, und dass die Toskana doch nicht so reizvoll wie allgemein angenommen ist, da Wege nur sehr unzurei­chend beschildert sind, und junge Damen, die nach Abkür­zungen suchen, sich leicht an sta­che­ligen Dornenbüschen ihre Sommerkleidung zerreißen können.

      Beim Schreiben ihrer Diplomarbeit wollte Betti Kindergärtnerin wer­den, falls sie durchfallen sollte. Sie stellte sich vor, in einem Elitekindergarten Managerkindern das Mundell Flemming-Modell beizu­bringen, damit sie ihren Papas nicht beim Frühstück auf den Wecker zu fallen brauch­ten, da diese schließlich morgens die FAZ lesen müssten.

      "Eine schreckliche Vorstellung", kritisierte ich ihr Berufsziel.

      "In letzter Zeit, wenn ich an die Klausuren denke, finde ich das gar nicht mehr so dumm."

      "Da musst du ja den ganzen Tag lang aufpassen wo du hintrittst", wandte ich ein.

      Darauf erzählte ich, dass meine Schwester richtige Kindergärtnerin ist und ihren Schil­derungen zur Folge das einer der schrecklichsten Berufe sein müsste, den ich mir vor­stellen konnte. Ich dachte an Arnold Schwarzenegger als "Kindergarten-Cob".

      "Wir sollten beide Diplom-Volkswirte werden", schloss ich dieses Thema ab, worauf wir zum gestrigen Fernsehprogramm kamen. Dies war für mich die Gelegenheit, das Ende des tra­gisch-komischen Films über den mit einem Taubenkomplex behafteten psychisch gestörten Vi­etnamheimkehrers zu erfahren, den Betti so traurig und ich so langweilig gefunden hatte, dass ich vorher abschaltete.

      Sie interessierte sich daraufhin für meine Bundeswehrzeit, bei der mir (zum Glück) ähnliche Erlebnisse erspart geblieben waren.

      "Liegst du nicht im Bett?" wollte sie wissen, als sie hörte wie sich mein Stuhl beweg­te, den ich als Fußablage zweckentfremdete.

      "Ich bin auf dem Weg dahin", erwiderte ich im zweideutigen Tonfall. Dabei streifte mein Blick die Anzeige meiner rot leuchtenden Digitaluhr. Mitternacht war vorüber. Unweigerlich fielen mir die grauen Briefe der