Charlotte Emma Haberland

Johannas Reise


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sie ihn nur nicht hineingelassen? Die hohen Buchen wirkten beschützend auf Johanna, die Stille des Waldes ließ sie neue Kraft schöpfen. 'Es geht immer wieder weiter. Nach dem Winter kommt der Frühling. Und mit ihm wird immer neues Leben kommen. Und kommt er auch später, aber er wird kommen. Auch darauf ist Verlass.' Sie versprach sich und Sara, ihr altes Leben wieder aufzunehmen, sobald sie Schwerin erreicht und Franz gefunden hatten. Und sie hielt es für ein gutes Zeichen, dass sie ausgerechnet in einem Buchenwald Zuflucht gefunden hatten. In ihrer Heimat gab es Buchenwälder, so weit das Auge reichte.

      „Mama, ich habe Hunger.“ Sara war aus der kleinen Höhle gekrochen und zupfte ihrer Mutter am Ärmel. Johanna blickte kurz auf, nickte und suchte wortlos in ihrem Rucksack nach etwas Essbarem. Ein großes Stück Brot, ein Stück Käse und einen Apfel, das war alles, was sie heute morgen in der Eile hatte zusammenpacken können. Sie riss ein Stück Brot ab und drehte den Apfel mit ihren Händen auseinander. Im Laufe der letzten Wochen hatte sie kräftige Arme bekommen.

      Diesmal störte sich Sara nicht weiter an ihrer wortlosen Mutter, aß auf und schaute, immer noch hungrig, auf die zweite Hälfte des Apfels in Johannas Hand. „Natürlich, die auch noch“, raunzte Johanna, als sie den hungrigen Blick ihrer Tochter spürte. Johanna spürte inzwischen ihren eigenen Hunger. Zerknirscht über ihre harten Worte, reichte sie ihr sofort die zweite Apfelhälfte. 'Das Kind geht natürlich vor, es war ja auch nicht so gemeint', dachte sie. Sie riss sich zusammen. 'Es ist einfach nicht gut, so wenig zu essen dabeizuhaben. 'Sara nahm zögernd die zweite Hälfte des Apfels und wieder einmal kam dieses seltsame Gefühl in ihren Magen gekrochen.

      „Wir mussten uns beeilen, Sara, es nutzte nichts. Deshalb ist auch nicht so viel zu essen da. Ich kann nichts dafür.“ Johanna lächelte zaghaft: „War nicht so gemeint, gerade!“ Sara schöpfte Mut – und es platzte aus ihr heraus: „Mama, ich konnte außer Papas Teddy und seiner Wintermütze nichts von meinen Sachen mitnehmen. Beinahe hätte ich sogar die Mütze vergessen. Wir haben gerade so schön Mensch-ärgere-Dich-nicht gespielt, Elsa und ich, und ich hätte mit Sicherheit gewonnen, da hast du mich vom Tisch weggezogen.“ Johanna zuckte bloß mit den Schultern. Das war ihr alles zu viel. Heute morgen in der Klinik war sie zufällig Zeugin eines Gespräches zwischen ihrem Chefarzt und dem Oberarzt der Kinderstation geworden. Sie wollte sich gerade wegdrehen, als etwas in diesem Gespräch sie hellhörig werden ließ: Es ging um sie. Um sie alle. Blitzschnell erkannte sie die Zusammenhänge. Als Mitwisser schienen sie jetzt, wo der Krieg verloren war, eine Gefahr darzustellen. Sie wussten zu viel. Sie sollten für immer ihren Mund halten. Man würde sich darauf vorbereiten müssen, alle Spuren zu beseitigen, einschließlich der Zeugen, hörte sie die beiden Ärzte weitersprechen. Einen kurzen Moment hatte sie an ihre Tochter gedacht, die sie nicht wiedersehen würde. Sofort packte sie ihre Sachen zusammen, legte ihre Kleidung über den Arm, und verbarg darunter eine kleine Sammlung Patientenakten, mit denen sie sich gerade beschäftigt hatte und lief in Schwesterntracht nach Hause. Johanna hatte Elsa da nicht mit hineinziehen wollen und je weniger ihre Tochter wusste, desto sicherer für alle. Und, es musste schnell gehen. „Du weißt gar nicht worum es geht, Sara. Du bist noch viel zu klein. Später wirst du mir dankbar dafür sein. - Übrigens, Papas Mütze. Also die hättest du gar nicht vergessen können. Schließlich krönt dieses hässliche gelb-grüne Bommelding seit dem Du-weißt-schon-Tag deinen Kopf. Der Frühling kommt, du kannst sie abnehmen.“ „Nein! Und wenn es dreißig Grad im Schatten sind. Papa bleibt immer bei mir!“ „Und ich will nichts mehr davon hören! Geh jetzt schlafen. Morgen wird ein harter Tag werden.“ Sara schlich in die Höhle zurück.

      'Manchmal ist sie so gemein zu mir. Alles war einfacher, als Papa noch da war.' Sie spürte die Tränen aufsteigen, versuchte sie hinunterzuschlucken und legte sich auf den Boden, den Teddy fest vor ihre Augen gedrückt. Sein Fell nahm alle Tränen auf, und das waren in den letzten Wochen einige gewesen. Ihre Mutter sollte es nicht sehen.

      'Ach, Kind', dachte Johanna, kroch ebenfalls in den Unterschlupf und blickte mild zu ihrer Tochter herüber, 'wir wollen uns vertragen. Ich kann dir das nicht erklären. Es ist schwer. Dafür musst du erst erwachsen werden. Ich verstehe vieles selber noch nicht.' Johanna rutschte neben sie und strich ihr vorsichtig über das Haar. Die Geste ihrer Mutter spürte sie nicht mehr. Sara war eingeschlafen. Johanna deckte sie mit ihrem Schwesternkittel zu. Dann setzte sie sich vor den Eingang ihrer Höhle und verschloss ihn von innen mit den restlichen Zweigen und Gräsern. 'Nach Schwerin möchte ich, nach Hause. Das ist mein Ziel. Sara würde sich freuen. Sie würde sagen: Da wartet Papa auf uns! Und Oma und Opa auch. Denn jetzt, wo der Krieg vorbei ist, müssen ja alle zurückkommen.' Noch einmal strich sie zart über Saras Kopf. 'Ach Kind, wenn das doch alles so einfach wäre.' Sie legte sich neben ihre Tochter und drehte sich zur Seite, sodass sie dicht bei Sara lag, um sie zu wärmen. Johanna dachte an ihre Vermieterin in Tiegendorf, Elsa Kabehl. 'Ob mein Fahrrad jetzt noch vor dem Haus von Elsa im Pfaffendiek steht? Was tut sie gerade? Hoffentlich macht sie sich keine allzugrossen Sorgen. Sobald ich zu Hause bin, werde ich ihr schreiben. Man verliert sich sonst. Wie so oft in den letzten Jahren: Wir lernen Menschen kennen, dürfen sie Freunde nennen und müssen sie dann plötzlich und vor allem heimlich wieder verlassen. Auch unsere Ausstattung ist von Umzug zu Umzug geschrumpft, daran habe ich mich ja gewöhnt. Aber an das andere werde ich mich nie gewöhnen können. Diesmal haben wir tatsächlich nur noch das Nötigste mitnehmen können, aber immerhin habe ich Fotos und die Briefe von Therese eingepackt. Papiere, ein bisschen Wäsche, etwas zu essen, sonst nichts.' Johanna legte ihren Arm um Sara. Sie atmete ruhig. Da erschrak sie wieder: „Papiere! - Ich habe die Patientenakten bei Elsa liegenlassen – ach du Schande …!“ Sie malte sich schreckliche Dinge aus, die passieren könnten, aber ändern konnte sie jetzt nichts mehr daran. „Nun werde ich mich doch nicht mehr bei ihr melden können ….“ Traurig zog sie ihren Arm zurück und sagte leise: „Morgen müssen wir weitergehen, wir werden eine Hütte finden oder einen Stall, für die nächste Nacht.“

      Sie befanden sich in einem Niemandsland. Irgendwo zwischen Lüneburg und der Elbe. Hier, in diesem kleinen Unterschlupf im Wald, keimte Hoffnung auf. Der Krieg war aus und wo auch immer Johannas Mann stecken mochte, vielleicht hatte er sich retten können oder war gerettet worden. Johanna wollte auf jeden Fall über die Elbe und Schwerin erreichen. 'Schwerin gehört zu meinem Leben. Dort hat es begonnen und dort soll es einmal enden. In dieser Stadt bin ich zu Hause, vielleicht ist dort noch etwas von unserem früheren Leben zu finden.' In diesem Augenblick fühlte sie sich der Stadt ganz nahe. Sie sah sich über den Altstädtischen Markt schlendern, die Schusterstraße hinunter. Bereits von dort konnte sie den Anblick des leuchtenden Schlosses in der Abendsonne genießen. Am Ufer angelangt, ließ sie oft ihren Blick weit über den See wandern. Das war ihr Ruhepol. Über dem See liegt die Freiheit, dachte sie dann jedes Mal. Sie wollte kämpfen. Koste es, was es wolle. Ich muss es versuchen. Ich werde Franz finden, mit ihm zusammen unser Haus wieder aufbauen und die alte Heimat wieder zu unserer Heimat machen, dachte sie fest entschlossen. In solchen Momenten wandte sie sich an Gott. Seit ihrer Arbeit auf der Kinderstation tat sie dies wieder regelmäßiger. Es half ihr, das Leben zu behalten. Als Kind hatte sie von ihrem Vater gelernt, mit Gott zu sprechen. Anders als in der Kirche. Er sagte zu ihr: „auf dem Feld lernst du, dich mit Gott zu duzen.“ Allmählich bekam sie eine Ahnung, woher die Kraft ihres Vaters gekommen war, nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war. Seinen Halt und seine Zuversicht hatte er damals in Gott gefunden. Und Johanna fand sich inzwischen auch darin wieder. Sie hatte es nur vorübergehend vergessen. Sie lag immer noch wach. Ihr Körper ruhte zwar, die Gedanken aber bewegten sich weiter. 'Sara erwähnt ihren Vater kaum noch, dafür hält sie den Teddy, den er ihr geschenkt hat, fest im Arm und setzt Franz' Mütze nicht mehr ab. Sie verschließt sich völlig, wenn wir von ihrem Vater sprechen. Und ich weiß, wie sehr sie ihren Vater liebt. Wie konnte das passieren? Wie konnte das alles passieren?' Sie erinnerte sich wieder an Franz' Verhaftung, ihren Zusammenbruch Tage danach in der Klinik, ihre schwächsten Stunden, die sie dann erpressbar gemacht hatten. Seitdem schützte sie ihre Tochter vor der Gestapo, indem sie half, andere Kinder zu töten. So war der Handel gewesen, ein perfider Handel. Sie hatte sich bis heute darauf eingelassen. Wut stieg in ihr auf, die aber gleich in hilflose Ohnmacht zerfiel. 'Bis heute', dachte sie, 'viel zu lange. Und unentschuldbar.' Tränen stiegen in ihr auf, sie hielt sie zurück. Stark musste sie sein und es auch bleiben. 'Meiner Tochter ein gutes Leben zu ermöglichen, überhaupt ein Leben. Das ist es, was jetzt wirklich zählt', dachte