Charlotte Emma Haberland

Johannas Reise


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wiederzusehen in der meine Mutter geboren und aufgewachsen ist und sie selbst die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Fast täglich liegt sie mir damit in den Ohren. Ich würde ihr diesen Wunsch gerne erfüllen. Aber meine Mutter macht dabei nicht mit, das hat sie uns schon mehrmals geschrieben. Ich weiß nicht warum, sie spricht nicht drüber. Natürlich nicht, hätte ich mir ja denken können.

      Meine Familiengeschichte kenne ich nicht genau. Nur soviel weiß ich: Oma ist schon einmal verheiratet gewesen und dieser erste Mann ist Mamas Vater. Möchte ich mehr über ihn erfahren, stoße ich bei beiden auf Schweigen und sie wechseln das Thema. Zwischen den beiden Frauen herrscht sowieso seit längerer Zeit eine Atmosphäre, die sehr gespannt ist. Als Außenstehende würde ich sagen, die beiden mögen sich nicht. Aber eigentlich sind beide sehr traurig, das spüre ich. Sie schleichen umeinander herum und tragen etwas in ihrem Herzen, was sie sich sagen möchten, tun es aber nicht.

      Und genau deshalb will ich ausziehen: Ich bin keine Außenstehende, ich stecke mittendrin und kann das nicht mehr ertragen. Ich möchte Ruhe haben und selbst zu leben anfangen - aber ich traue mich nicht, die beiden alleine zu lassen: Habe ich doch Angst, sie tun sich was an. Verrückt, oder?

      Heute will ich es endlich wissen: Ich habe mich entschieden, mit meiner Oma genau darüber zu sprechen. Ich will meine Familiengeschichte kennenlernen und möchte endlich wissen, was mit meiner Mutter los ist. Heute Abend bin ich bei Oma zum Tee eingeladen.

      Ich bin gespannt, was sie zu erzählen hat.“

      Kapitel 3

      Johanna steht am Fenster und schaut in den verregneten Himmel. Vorletztes Jahr, bei der neuen Zimmeraufteilung hätte sie gerne das Zimmer mit Blick in den Park haben wollen, in dem nun ihre Tochter wohnt.

      Sie seufzt. Das Wetter geht ihr auf die Nerven. Sie kann nicht vor die Tür gehen und sich auf eine Parkbank setzen, in den Himmel schauen und träumen, wie es sonst ihr täglicher Gang war. Denn dann sieht sie wieder Buchenwälder, wohin das Auge reicht, das satte Grün der Wiesen, die lang gezogenen, mit Schilf umsäumten Ufer, Sümpfe, Moore. Sie hört wieder das aufgeregte Schnattern der Blesshühner, das Rascheln im Schilf und das Glucksen auf dem Wasser. Sie sieht sich wieder durch schattige Alleen an weiten Ackerflächen vorbeiradeln und riecht die Sonne auf ihrer Haut. Vorbei geht die Fahrt an Dörfern und Höfen, hinein in den weiten, blauen Himmel. Sobald sie die goldenen Kuppeln des Schlosses sieht, sind es noch ungefähr zehn Minuten Fahrtweg bis nach Hause, das weiß sie noch wie damals. Meistens machte sie an dieser Stelle eine Pause und genoss den Anblick des Schweriner Schlosses. Hinter dem Schloss, Richtung Stadtmitte, liegt der Marktplatz: Der Altstädtische Markt – hier haben sie viele Jahre lang gelebt: Francesca und Josef, Franz, Lene, Sara und sie.

      Auf ihrem Gang sieht sie genau vor sich, wie der Markt von den vielen verschiedenen Geschäften eingerahmt wird. Das Rathaus und das Kaffeehaus Resi befinden sich auf unserer Straßenseite. Das Kaufhaus Weidenbinder liegt gegenüber in der Schusterstraße. Vor dem Dom die Markthalle.

      Das Kaffeehaus war Treffpunkt für die Leute dieses Viertels, hier wurden die Neuigkeiten ausgetauscht. Seitdem müssen fünfzig, knapp sechzig Jahre vergangen sein.

      In ihrer Erinnerung sieht sie wieder das mittlere der drei roten Giebelhäuser, die Nummer fünf.

      Zusammen mit Franz' Eltern wohnten sie in der oberen Etage. 'Unten befand sich Josefs Frisörladen, in dem Franz mitarbeitete. Eine Treppe führte vom Laden zu der Wohnung. Geräusche und Stimmen drangen aus dem Geschäft zu uns nach oben. Das fand unsere kleine Lene sehr beruhigend', erinnerte sich Johanna, 'ihren Mittagsschlaf verbrachte sie deshalb am liebsten in ihrem Rollbettchen auf dem Flur', erinnerte sie sich.

      Schwerin ist ihre Heimat und ihre Sehnsucht nach der Stadt war über die Jahrzehnte hinweg ein starker Motor geblieben. Ein Koffer steht stets fertig gepackt neben dem Schrank in ihrem Zimmer. Es kann ja sein, es könnte die Möglichkeit bestehen, wieder heimzukehren, und dann wäre alles schon parat. Jedes Halbjahr wechselt sie den Inhalt des Koffers. Mal Sommerkleidung, mal Winterkleidung.

      Vor fünfundvierzig Jahren war ihr die Heimkehr missglückt. Statt der Elbe hatten sie damals einen Nebenarm der Elbe überquert und waren dann in Richtung Hamburg unterwegs, wie sich bald herausstellte. Seitdem saß sie hier fest. „Harvestehude - von Außenalster und Isebekkanal umschlossen“, murmelte sie, es klingt wie das Zitat aus einer Broschüre für Touristen.

      „Harvestehude!“, dabei liegt immer noch Ablehnung auf ihrem Gesicht. Sie wendet sich vom Fenster ab und geht zum Schrank.

      In Hamburg ist Johanna nie richtig angekommen. Das wollte sie auch nie, innerlich ist sie praktisch immer noch auf Durchreise.

      Aus der Tiefe des Schranks holt sie eine hölzerne Schatulle hervor, geht mit ihr unter dem Arm langsam zu ihrem Sessel. Die Schatulle legt sie auf ihren Schoß. Sie muss sich einen Augenblick ausruhen und schließt die Augen.

      1946 bekam sie diese Wohnung. 55 m², drei Zimmer. Und seitdem hat sich kaum etwas verändert. Außer die Anzahl der Mitbewohner.

      Ja, die erste Zeit in Hamburg war schwer gewesen. Sie waren Flüchtlinge. Sie bekam das Gefühl, unerwünscht zu sein. Sie gewöhnte sich an, nicht aufzufallen und sich nicht kopflos auf die Menschen einzulassen. Zunächst war das Essen knapp. Ihre Lage besserte sich, als Lucas auf dem Schwarzmarkt handelte. Sara, ihr Sorgenkind, ging erst zwei Jahre später zur Schule und blieb eine mittelmäßige Schülerin, sie hatte zuviel verpasst.

      Johanna selbst bekam bald eine feste Anstellung in der Klinik in Harvestehude. Sie konnte zu Fuß hingehen. Als Hebamme arbeitete sie damals auf der Wochenstation. In Wirklichkeit war sie froh, nicht mehr im Kreißsaal zu arbeiten. Sie war unsicher geworden. Nach dem Krieg hatte es eine große Umstellung gegeben und viele Neuerungen. Sie fühlte sich dem nicht mehr gewachsen. Auf der Wochenstation dagegen hatte sie ihre Ruhe, meistens normale Fälle. Das war es, was sie brauchte, ihr half, wieder normal zu werden.

      Wie fürchterlich war es ihr gegangen, als sie einmal auf der Kinderkrankenstation hatte einspringen müssen und es hieß, einem Kind müsse unbedingt ein Beruhigungsmittel verabreicht werden.

      Sie strich mit der Hand über die Schatulle: „Schön anzusehen ist sie immer noch. Hat nicht sonderlich gelitten, all die Jahre. Nur ein bisschen staubig in den Intarsien“, sagte Johanna halblaut zu sich selbst und öffnete sie.

      Sie nahm einige Schwarzweißaufnahmen und den Brief heraus, den letzten Brief von Therese. Mit Poststempel von 1944. Daneben gab es einen zweiten Stempel; eine Rücksendung vom Deutschen Roten Kreuz. „Ich hätte ein zweites Mal nach ihr suchen sollen“, sagte sie, „schließlich ist sie meine Schwester.“ Unter den Fotos und dem Brief rutschte eine kleine Kette mit einem lila Amethyst hervor. Als sie das Puppenkleidchen sah, in das die Kette eingewickelt gewesen war, begannen ihre Hände zu zittern: Auf der Brust war ein Judenstern aufgenäht. Schnell Schloss sie die Schatulle und versuchte sich zu beruhigen: 'Die Fotos, schau dir schnell die Fotos an!'

      Längere Zeit starrte sie das Bild an. Ihre Hände beruhigten sich allmählich. Ihre Familie auf dem Marktplatz, im Hintergrund das Kaufhaus Weidenbinder.

      Jetzt erinnerte sie sich sogar an das Muster des Kopfsteinpflasters, über das sie jahrelang gegangen war. Sie hörte die Stimmen der Menschen, die im Cafe Resi oder in der Weinstube saßen. Sie spürte wieder die Gemütlichkeit und Wärme in diesem Karree, die nicht nur von den ersten Sonnenstrahlen im Jahr ausging.

      „Franz, Sara, Francesca, Josef“, seufzte sie. Es drückte in der Magengegend. Francesca war in Johannas Augen die Mutter gewesen, die sie sich immer gewünscht hatte, auch wenn sie vor ihrem großen, gütigen Herz und ihrem Temperament immer zurückschreckte - es war ihr nicht geheuer. Ihre Art war ihr zu unvertraut. Francesca verfügte über eine große Kraft und Stabilität, über ein kaum zu erschütterndes