Charlotte Emma Haberland

Johannas Reise


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Francesca ihr näher kommen. Francesca hatte Zeit, konnte auf ihre Schwiegertochter warten, aber die Geschichte wartete nicht: bevor sich Johannas Herz für Francescas Fürsorge öffnete, trennte die Kristallnacht die beiden Familien.

      Johanna wurde klar, dass sie sie nach dem Krieg einfach vergessen und, wie zu ihrer Schwester, anscheinend einen Vorhang zwischen ihr altes Leben in Schwerin und das neue in Hamburg gezogen hatte. „Es war nicht meine Absicht. Überhaupt nicht“, zitternd streicht sie über das Foto, „es ist mir einfach passiert. Ich habe euch einfach vergessen!“

      Ihr Zeigefinger hielt auf Franz' Fotografie inne, zärtlich umfuhr sie seine Figur. Das Bild von Franz war bislang nur in ihrem Gedächtnis aufbewahrt gewesen, sie hatte sich nicht getraut, sein Foto anzuschauen. „Wie schön sein Gesicht aussieht. Das hatte ich ganz anders in Erinnerung. Die schwarzen Locken und die schwarzen Augen. Das Lachen. Sara hat all das von ihm geerbt.“

      Johanna schmunzelte; neben ihr, der hochgewachsenen, dürren Blonden, wirkte er wie ein kleiner, untersetzter Italiener aus den 50er-Jahre-Schlagerfilmen. Früher war ihr das so nicht aufgefallen. Franz war in der Tat Halbitaliener: Seine Mutter kam aus Grado, sein Vater aus Bremen. Wie die beiden sich kennenlernten, ist eine Geschichte für sich.

      Franz hatte sehr viel von seiner Mutter: vom Aussehen bis zum lebensfrohen Temperament. Gepaart mit dem väterlichen Eigensinn wurde daraus ein hartnäckiger Optimismus, der sie beide blindlings in die Katastrophe führte.

      Johanna und er lebten heute noch zusammen, sie war sich sicher, wenn die Zeiten andere gewesen wären.

      Franz Grünberg war Jude. Konvertierter Jude. Das war seine Versicherung – dachte er damals.

       'Ach, und da war noch etwas', dachte sie, 'es tat immer noch weh.' Das wurde Johanna wieder einmal bewusst. 'Da war ja noch viel mehr gewesen, als dass Franz nur ein konvertierter Jude war. Wenn es nur darum gegangen wäre – aber nein …!' Sie brach ab und schaute Franz in die Augen, die sie auf dem Foto anstrahlten: „Soviel Kraft, soviel Freude. Er hätte nur noch ein paar Wochen aushalten müssen. Dann hätten wir es überstanden gehabt“, flüsterte sie. Vorsichtig nahm sie die Fotografie hoch und schmiegte sein Bild an ihre Wange. Sie Schloss die Augen und neigte ihren Kopf zur Seite und wog ihn sanft hin und her, als hätte sie ein Neugeborenes auf dem Arm oder als könnte sich das Bildnis plötzlich in Nichts auflösen.

      'Was war eigentlich genau passiert? Auf einmal war er nicht mehr da.' Sie erinnerte sich, wie hilflos sie damals war, alleine mit ihrer Tochter, ihr Mann verhaftet, niemand wusste, was aus ihm werden würde. Sie hatte bis heute keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. 'Hatte ich Schuld daran?', sie hielt das Bild vor sich und schaute ihn ernst an, 'hatte ich nicht gut genug aufgepasst, war ich doch irgendwo unvorsichtig gewesen?'

      Diese Fragen hatte sie sich damals immer und immer wieder gestellt. Sätze, die spiralförmig ihren Schlaf aufsuchten und ihn zerstörten. Sätze, die nachts kamen, weil sie sie tagsüber nicht gebrauchen konnte, weil sie für ihre Tochter da sein musste und weil das Leben weiterging. Und irgendwann, nachdem viele Jahre vergangen waren und sie sich wieder an den Alltag eines Lebens gewöhnt hatte, traf sie jemanden, der erzählte ihr vom Sich-selbst-Vergeben. Und es vergingen wieder viele Jahre, bis sie verstand, was gemeint war. Bis zum heutigen Tage hatte sie das geübt und erst vor ein paar Wochen hatte es aufgehört, an ihr zu nagen: Sie hatte sich und allem vergeben. Fast allem.

      Vergessen konnte sie Franz dennoch nicht. Als die Nachricht seines Todes kam, konnte sie es nicht glauben. Tief in ihr wollte sich etwas nicht damit abfinden. Sie hätte ihn gerne wiedergesehen. Heimlich fing sie an, ihn zu suchen. Anmerken lassen hat sie sich vor ihrer Familie nichts; sie biss die Zähne zusammen, hat es so hingenommen und nach vorn geschaut. Ihre Tochter tat damals dasselbe, das wunderte sie schon. Sie schien ihrer Mutter in nichts nachstehen zu wollen.

      Nachdem sie die Nachricht von Franz' Tod erreichte, entschloss sie sich Lucas Matelot zu heiraten.

      Es ist ja praktisch, einen Mann im Haus zu haben, dachte sie damals, alleine für all die handwerklichen Arbeiten ist das durchaus sinnvoll. Vor etwa fünf Jahren starb Lucas. Herzversagen. Ganz plötzlich. So plötzlich, wie er in ihr Leben getreten war, so plötzlich verschwand er auch wieder. Er führte ein Schattendasein, war genügsam. Seiner Stieftochter war er ein sehr guter Vater. Sara konnte sich mit ihm austauschen, er kannte ihre Sorgen und Freuden und teilte sie mit ihr. Johanna ging damals wieder in der Klinik in den Schichtdienst und war froh, dass sich jemand um ihre Tochter kümmerte. 'Alles war gleichbleibend bei ihm, wie eine stillstehende, graue Sauce. Von Veränderungen hielt auch er nicht viel, da passten wir ganz gut zusammen', erinnerte sich Johanna. Von einem Franzosen, so hatte Johanna gehört, geht Leidenschaft aus. Gerade, was die Liebesdinge betrifft.

      Aber das war bei Lucas, dem geflüchteten Franzosen, ganz und gar nicht der Fall. Er hatte absolut keine Lust. Und so kam es auch zu keinem weiteren Kind.

      Sie legte die Fotos und Briefe wieder zurück in die Schatulle, verschloss sie und schob sie von sich weg, zur Mitte des Tisches. Dann legte sie ihre Hände in den Schoß und lehnte sich zurück. „Da kommt heute noch was auf mich zu“, seufzte sie, „Franziska wird nicht locker lassen.“

      Aber wenn sie nach Schwerin gefahren werden wollte, um dort vielleicht (der Gedanke machte sie immer ganz kribbelig) zufällig Franz zu begegnen, dann musste sie ihrer Enkelin alles erzählen. Es war wie eine Art Handel.

      Vieles war in Vergessenheit geraten, tauchte aber mit dem Nahen des Gespräches wieder auf, die Erinnerungen und Eindrücke wurden intensiver.

      Es quälte sie aber noch eine andere Sorge: 'Bald, da wird es wieder soweit sein', dachte sie, 'dann kommt wieder die Welle!'

      Die Welle ist Johannas Name für die starke Niedergeschlagenheit, die sie seit 45 Jahren jedes Mal in

      der Zeit zwischen der letzten April- und der ersten Maiwoche erfasste. Seit sie im Ruhestand ist, also seit gut zwanzig Jahren, wurde diese Welle von Jahr zu Jahr stärker. Im letzten Jahr war es geradezu eine Monsterwelle, da rettete sie nur noch ein Arzt vor dem Ertrinken.

      Und jetzt, mit dem beginnenden Frühjahr, war es wieder soweit. Darauf war Verlass!

      Johanna stand auf, verließ ihr Zimmer und ging ins Bad. Sie wollte sich noch ein wenig zurechtmachen, schließlich erwartete sie in zwei Stunden Besuch.

      Kapitel 4

      Franziskas Mutter ist ein Mensch für sich. Das konnte man nicht anders sagen. Begegnete man ihr als Fremder, erschien sie freundlich, ja, man konnte sogar von einer gewissen Offenheit sprechen. Lernte man sie näher kennen, spürte man, wie schnell ihre Stimmung kippen konnte, und ihre Offenheit hielt meist nur den ersten Tag der Begegnung. Sie wurde unruhig, begann die Menschen um sich herum zu bewerten und ließ sich nie ganz auf sie ein. Es schien ihr zuviel zu werden. Nähe zuzulassen war ihr kaum möglich, Gefühle waren ihr suspekt, bei sich selbst und bei anderen. Ihre Sprache war sachlich, von Vernunft gesteuert, ihre Mimik und ihre Gestik waren überschaubar. Als hielte sie sich selbst in Grenzen: Ihre Stimme kehlig, heiser und permanent gelangweilt. Komplimente waren ihr unangenehm. Dabei hatte ihre Mutter schon immer viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt. Insgeheim war Franziska als Kind stolz auf ihre schöne Mutter, mit ihren schwarzen, lockigen Haaren, den dunklen Augen und der grazilen Figur. Doch selbst von ihrer Tochter verbat sie sich strikt jedes Kompliment.

      Nicht-auffallen-wollen, das war auch ein Begriff, der zu Sara passte. Sie wirkte oft verloren, ja fast wurzellos. Wie ein Vogel, der zu früh aus dem Nest gefallen war.

      Franziska wollte schon seit langem wissen, weshalb sich ihre Mutter so sehr gegen diese Reise wehrte.

      Ungefähr seit dem Mauerfall schwebte etwas Unausgesprochenes, Verborgenes in der Luft des Hauses Grünberg-Matelot. Und die Stimmung war dementsprechend miserabel, besonders bei ihrer Mutter.

      Noch vor ein paar Jahren hatte sich Franziska von solchen Stimmungen,