Charlotte Emma Haberland

Johannas Reise


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Hände lagen auf Saras Brust, sie spürte ihren regelmäßigen Atem, ohne ihn dabei wirklich zu fühlen. Etwas hatte sich zwischen sie geschoben. Eine dünne, unsichtbare Wand. Sehr plötzlich war sie gekommen – wahrscheinlich hat es in Bremen angefangen. Johanna wusste sich nicht zu helfen. Verwirrt drehte sie sich von Sara weg und hoffte, dass diese Erscheinung mit der Zeit von allein verschwände.

      Der Abreisetag aus Schwerin schien ihr schon Jahrzehnte her zu sein. Tatsächlich waren es nur fünf Jahre, die sie seitdem an verschiedensten Orten verbracht hatten. Seit dieser Zeit hatte sie Franz versteckt halten müssen, nachdem er von der Front zurückgekommen war. Er war Jude. Konvertierter Jude. Das spielte aber irgendwann keine Rolle mehr. Er war in Lebensgefahr und Sara schien, so sah es Johanna, dabei ein unkalkulierbares Risiko für sie alle darzustellen. Deshalb schärfte sie ihrer Tochter ein, nie zu viel von ihnen zu erzählen. Schon gar nicht Fremden gegenüber. Oder Freunden, die viel wissen wollten. Sich zu öffnen, konnte tödlich sein. Mit einem falschen Wort konnte alles auffliegen. Am besten, sie hatte gar keine Freunde. Nach und nach übernahm Johanna die vollständige Kontrolle über Saras Leben. Es gehörte zu ihrer täglichen Predigt, dass Sara zwar höflich sein sollte, mit Fremden aber nur das Nötigste reden durfte – wenn überhaupt: „Wenn jemand nach deinem Vater fragt, dann sag ihm, du hast keinen Vater mehr. Der ist vor ein paar Jahren gestorben, oder so. Denk dir irgendetwas aus!“, sagte sie dann zu ihr. Um Sara selbst sorgte sie sich erst, als von Evakuierungen sogenannter Mischlingskinder die Rede war. Überwältigt von ihrer Angst, ließ sie Sara noch weniger Freiheiten: 'Sara hat feine Antennen', dachte sie, 'zu fein für diese Welt. Das wird sie eines Tages kaputtmachen. Ich muss sie bei mir behalten und ihr sagen, wo es langgeht. Sie wird sonst in der Welt untergehen. Und wer weiß, was wir jetzt für eine Welt kriegen werden.'

      Plötzlich fuhr sie hoch: „Wer ist da? Was war das?“ Johanna drehte sich zum Eingang und tastete sich langsam vor. Etwas raschelte draußen. Sie hielt den Atem an. Sie lugte durch einen Spalt und horchte in die Stille hinein. 'Haben sie mich doch gefunden?' Sie war auf alles gefasst, innerlich wie äußerlich. In den Jahren der Alarmbereitschaft hatten sich ihre Sinne enorm geschärft. Sie war wachsam. Bereit zum Angriff oder zur Flucht. Das Rascheln hatte aufgehört. „Wahrscheinlich eine Maus.“ Allmählich ließ die Spannung in ihrem Körper nach.

      Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm sie die Stille der Nacht sehr bewusst wahr. Sie kroch zurück und legte sich wieder neben ihre Tochter. 'Der Krieg ist zu Ende!', dachte sie.

      Da war sie wieder, die Vergangenheit. Eng verknüpft mit der Klinik. Sie wollte endlich schlafen: 'Nicht jetzt!' Sie biss die Zähne zusammen, ihre Hände zitterten. 'Nie wieder will ich daran erinnert werden. Zeit meines Lebens nicht.' Sie versuchte die hochsteigenden Bilder zu unterdrücken. Dann wurde das Zittern stärker. 'Zu viele Gedanken, zu viele Bilder, alles durcheinander.' Fetzen, Fragmente. Vergangenes wie Gegenwärtiges. Eine wilde Flut, die sie nicht stoppen konnte. 'Ich habe immer wieder gehofft, dass das Sterben bald ein Ende nimmt, dass irgendetwas passiert und dann Schluss ist damit. Nichts geht ewig, dachte ich damals, und wenn es einen Gott gibt, dann kann er nicht auf Dauer wegschauen.' Sie ekelte sich vor sich selbst. Sie konnte sich nicht mehr ansehen. 'Ein Häufchen Dreck, das seinen Dienst tun muss.' Inzwischen rein mechanisch und abgestumpft. Sie hasste sich für das, was sie tat. Vor allem konnte sie Sara nicht mehr unter die Augen treten. Ihre unschuldigen Kinderaugen bereiteten ihr Angst und Schmerz. Sie mochte ihrer Tochter nicht mehr nahe sein. Johanna betete damals jeden Abend. Sie entdeckte ihren Glauben wieder. Das gab ihr Halt und Kraft zum Durchhalten für eine kurze Zeit.

      Dann geschah etwas Seltsames mit ihr: Ein oder zwei Wochen vor der Flucht aus Tiegendorf glaubte sie dann tatsächlich, ihr Handeln, das Sterbenmachen, sei rechtens. Es gäbe tatsächlich unwertes Leben. Sie wusste, sie wurde langsam verrückt. In ihr verschoben sich die Werte: Recht und Unrecht, ethisch und unethisch, Wahrheit und Lüge. Was war das Richtige? Johanna bekam immer mehr Angst vor ihrer Tochter. Sara verdiente sie nicht mehr als Mutter. Wie sollte sie ihr das erklären? Sie bekam eine höllische Angst vor der Wahrheit, die sich gewiss irgendwann aufdecken und zu ihrer Tochter gelangen würde. 'Ich habe Schuld! Was wird aus uns werden? Wie soll man leben, nachdem man sich daran gewöhnt hat, zu überleben? Wie werden wir diese Schuld abbezahlen? Ich schäme mich, eine von diesen Deutschen zu sein!'

      Aber jetzt, im Mai 1945, in diesem Moment, da draußen in dem kleinen Unterschlupf, begannen sich die Dinge in ihr, ganz langsam zwar, wieder in die richtige Wertung zu drehen. Sie fand langsam wieder zu sich selbst. Das spürte sie. Und langsam begann der ersehnte Schlaf.

      Da ließ sie ein kurzer, stechender Schmerz in der Herzgegend noch einmal aufwachen. Es war die Nacht des 3. Mai 1945, als es in ihrem Herzen zog und etwa zur gleichen Zeit die Cap Arkona in der Lübecker Bucht unterging.

      Aber etwas früher, zeitgleich mit dem Rascheln, das sie draußen gehört hatte, fand auch Lucas Matelot nach langem Suchen endlich einen Platz für die Nacht.

      Kapitel 2

      „Ich bin Franziska. Am zweiten Juni 1965 wurde ich als einziges Kind meiner Mutter Sara Matelot in Hamburg geboren. Meinen Vater habe ich nicht kennengelernt; ich war sozusagen ein Versehen - eine kurze, intensive Reise meiner Mutter in das Leben. Aber ich glaube, sie liebt mich trotzdem.

      Heute bin ich fünfundzwanzig Jahre alt und möchte endlich zu Hause ausziehen. Seit meinem zehnten Lebenstag wohne ich mit meinen Großeltern und meiner Mutter in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung. Mit elf Jahren bekam ich ein eigenes Zimmer. Meine Oma hatte sich durchgesetzt. Das Wohnzimmer blieb unser gemeinsames Zimmer; unser Treffpunkt. Opa fand das sehr wichtig.

      Seit ich auf der Welt bin, arbeitet meine Mutter im Supermarkt an der Kasse. Aufgewachsen bin ich also mit meinem Opa Lucas und meiner Oma Johanna. Wenn die beiden keine Zeit für mich hatten, war ich häufig bei Kindern aus meiner Klasse zum Mittagessen und zum Spielen. Am liebsten wäre ich aber mit meiner Mutter zusammen gewesen, das muss ich zugeben.

      Vor fünf Jahren starb mein Opa an Herzversagen und die Zimmeraufteilung wurde im vorletzten Jahr neu gemischt: so bekam dann doch jeder von uns sein eigenes, großes Zimmer. Ich war froh. Das halbe Zimmer war mir längst zu klein geworden. Seitdem treffen wir uns nur noch in der Küche oder im Bad. Wir sind jetzt eine Art Wohngemeinschaft, deren Mitbewohner sich kaum sehen. Das liegt sicherlich auch an meinem Schichtdienst. Ich werde Hebamme. Letztes Jahr im April habe ich mit der Ausbildung begonnen. Meine Oma ist Schuld daran, sie hat mich angesteckt: Erzählte sie mir Geschichten von werdenden Müttern und ihren Babys und vom Wunder des Lebens, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Er wurde weich, die Augen leuchteten, sie wirkte um Jahre jünger. Das hat mich beeindruckt.

      Meine Mutter sehe ich seit dieser Zimmeraufteilung kaum noch. Sie sitzt am liebsten in ihrem Zimmer. Ich glaube, sie hat es sich sehr schön eingerichtet, dafür hatte sie immer schon ein Händchen. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich einen Korbsessel und einen Couchtisch hineingestellt hat, mintgrün mit Blumendekor vielleicht. Sie liebt Blumen, am meisten violette Hornveilchen.

      Ich habe ihr Zimmer nicht gesehen. Es ist ihre Welt, sagt sie. Niemand hat es bisher gesehen. Wenn sie dort drin ist, muss ich erst anklopfen oder einen Zettel unter der Tür durch schieben. Sie öffnet dann, aber ein Vorhang versperrt mir die Sicht nach innen.

      Nachrichten auf kleine Zettel zu schreiben, scheint für sie eine gute Form des Austauschs zu sein. Sollte sie eines Tages ein eigenes Handy besitzen, wird sie sich uns nur noch per Textnachricht mitteilen, fürchte ich.

      Früher war sie geselliger, wenn auch nur etwas.

      Eigentlich wurde es immer schlimmer mit ihr seit Lucas' Tod. Opa scheint vieles zusammengehalten zu haben. Er war ein toller Mensch, finde ich. Ich habe bei seiner Beerdigung Rotz und Wasser geheult. Ich glaube, Oma und Mutter hat sein Tod auch sehr getroffen – doch ihre Trauer ließen sie sich kaum anmerken und gingen bald wieder zum normalen Tagesgeschehen über. Die Jahre danach passierte nicht mehr viel Aufregendes.

      Bis jetzt: Die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze und Omas achtzigjähriger Geburtstag fielen