Mira Birkholz

Dolúrna


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Plateau hinauf spritzte. Erst dann bemerkte Hazel, dass der Tropfen eine Träne war, die aus Connors Auge lautlos in den weichen Sand gefallen war. Er sprach kein Wort. Langsam sah er auf. Seine schwarzen Wimpern bildeten einen nassen Kranz um die blauen Augen, in denen das Feuer erloschen war, und Hazel spürte eine unbändige Macht nach ihrem Herzen greifen.

      Nach einer langen Pause räusperte Connor sich und sprach: „Haselnussblätter.“

      Verwirrt blickte Hazel ihn an.

      „Haselnussblätter sind auch im Tee.“

      Hazel nickte wortlos.

      „Die Haselnuss hatte für die Kelten eine besondere Bedeutung“, begann Connor leise zu erzählen. „Sie bauten aus dem Holz Werkzeuge und leider auch Waffen, ebenso Zäune und Fischreusen. Die Hasel stand als Symbol für Fruchtbarkeit und Wohlstand, für Reichtum und Unsterblichkeit. Besonders aber für Klugheit. Das Verspeisen ihrer Früchte nämlich verhalf zum Erwerb von Weisheit.“

      Hazel hörte gespannt zu. Der Wind pfiff nach wie vor, der Falke rief eeek-eeek, und das Meer rauschte, aber sie nahm nur noch Connors Stimme wahr, die nah an ihrem Ohr von vergangenen Zeiten berichtete.

      „Der Jahreskreis des keltischen Volkes wurde unterteilt in bestimmte Zeiträume, denen spezielle Baumarten zugeordnet waren. Die Zeit der Haselnuss fiel in den März und in den September. Neun Vollmonde nach der Sommersonnenwende im Juni und neun Vollmonde nach der Wintersonnenwende im Dezember, an denen das Licht über die Finsternis siegt, beginnen die Tage der Haselnuss. Menschen, die in den Tagen der Haselnuss geboren sind, wurden gezeugt, als die Sonne ihren Höhepunkt erreicht hatte oder aus der finsteren Erde wieder geboren wurde. Diese Menschen sind eng verbunden mit der Zahl Neun und dem Neunerrhythmus, der auch die Zahl Drei beinhaltet.“

      Connor schaute sie an.

      „Haselnussgeborene Menschen sind verständnisvoll, ehrlich und tolerant. Sie besitzen neben großer Intelligenz auch eine stark ausgeprägte Intuition, die es ihnen ermöglicht, hinter die sichtbare Welt zu blicken.“

      Connor machte eine Pause und trank einen Schluck Tee.

      „Die Aufgabe haselgeborener Menschen ist es“, fuhr er fort, „das Konkurrenzdenken auszuschalten, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, Toleranz zu fördern und den Weg der Zärtlichkeit zu gehen. Frieden zu schaffen in der Welt.“

      Eindringlich sah er in Hazels braune Augen, die begonnen hatten zu leuchten. Mit rotglühenden Wangen saß die junge Frau ihm gegenüber und lauschte fieberhaft seinen Schilderungen.

      „Der Haselnussstrauch ist eine Pionierpflanze. Und so sind auch die haselnussgeborenen Menschen Pioniere auf dem gewaltfreien Weg zum Weltfrieden. So wie Mahatma Gandhi. Oder Jesus.“

      Hazel sprach kein Wort. Wie gebannt sah sie auf Connors weiche Lippen, denen Worte der Liebe entsprangen, der Liebe für die ganze Welt.

      Endlich trank auch sie vom Tee, der nichts von seiner wärmenden Kraft verloren hatte, obwohl er längst abgekühlt war.

      „Warum erzählst du mir das, Connor?“, hauchte sie.

      Ein Lächeln umspielte seinen Mund.

      „Weil du in den Tagen der Haselnuss geboren bist. Hazel.“

      Mit offenem Mund starrte sie ihn an.

      „Woher weißt du das?“

      Connor schwieg.

      „Ich habe am 27. März Geburtstag!“, erklärte sie überwältigt.

      „Drei mal neun sind siebenundzwanzig. Und neun geteilt durch drei sind drei.“

      „Connor, wann bist du geboren?“

      „Am 27. September.“

      Er lächelte und erwartete ihre Rechenaufgabe.

      „Du bist auch eine Haselnuss! Und was für eine!“, strahlte sie.

      „Und nicht nur das, Hazel“, murmelte er leise und biss sich auf die Lippen.

      „Wie meinst du das?“

      Forschend sah sie ihn an, doch er biss hastig von seinem Käsebrot ab.

      „Ist dir noch etwas aufgefallen, Hazel?“, fragte er schließlich, als er den großen Bissen hinuntergeschluckt hatte.

      „Ja, sofort!“ Sie lachte. „Das ist wohl mehr ein Zufall, oder?“

      „Nichts ist Zufall, Hazel! Alles gehört zu einem großen Plan, den es zu erfüllen gilt. Vielleicht haben deine Eltern dich Hazel genannt, weil sie es tief im Inneren gespürt haben oder es wurde ihnen eingegeben, damit du selbst eines Tages dahinterkommst, was deine Aufgabe im Leben ist.“

      „Glaubst du wirklich, dass alles vorbestimmt ist?“

      „Ganz fest!“

      „Und wer entwirft diesen großen Plan, von dem du sprichst?“

      Connor zögerte.

      „Sag schon!“ drängte Hazel ihn.

      „Die Götter.“

      „Welche Götter?“, fragte sie ängstlich und dachte an Fairtheoir Túláin und seine Leidenschaft, Schädel zu sammeln.

      „Die Götter sind überall. In jedem Fels, in jedem Berg, in den Sümpfen, in Quellen, Seen und Flüssen. Besonders auch in den Wäldern, ja, in jedem einzelnen Baum!“

      In der Enge des Höhleneingangs fiel es Connor schwer, seine weit schweifenden Handbewegungen auszuführen, mit denen er die Götter in ihrer Allgegenwart bestätigte.

      „Die Götter der Flüsse und Seen galten einst als Lebensspender, denn das Wasser war heilig. Um sie wohlwollend zu stimmen, wurden ihnen häufig wertvolle Gegenstände geopfert, die man in der Neuzeit in Seen und Sümpfen gefunden hat.“

      Vor ihrem inneren Auge erschienen Hazel golden glänzende Gefäße, die in gläsernen Vitrinen ausgestellt Museumsbesuchern Rätsel aufgaben.

      „Weiterhin hatten die Götter die Macht über Erfolg oder Misserfolg der Ernte“, fuhr Connor euphorisch fort, „sie hatten Einfluss auf die Fruchtbarkeit von Boden, Mensch und Tier. Und sie galten als Vermittler zwischen Erde und Jenseits. Denn wie du bestimmt weißt, Hazel, glaubten die Kelten an Reinkarnation.“

      Prüfend blickte Connor in zwei weit geöffnete braune Augen.

      „Das Leben war ein endloser Zyklus von Vergehen und Wiederauferstehen. Deshalb war auch die Erde, in der die Toten begraben waren, heilig. In ihren Gräbern wurden ebenfalls Gegenstände gefunden, aber nicht als Opfergabe für die Götter, sondern als Beigabe für das nächste Leben. Stell dir vor, Hazel“, Connors Augen leuchteten strahlender denn je, „bei den Kelten gab es keine Vorstellung von der Hölle. Jeder gelangte ins Jenseits, und die Seele lebte immer weiter. In einem anderen Körper.“

      Begeistert sah er Hazel an.

      „Aber die Seelen, die Fairtheoir Túláin gefangen hält, können nicht in einem anderen Körper weiterleben, oder?“

      „Ich schätze, ja“, mutmaßte Connor. „Das muss schlimm für sie sein.“

      „Dann müssen wir sie befreien!“, schlug Hazel vor.

      „Und uns den Groll des Felsengotts zuziehen?“

      „Wenn du ihn mit dem Stein besänftigst?“

      Connor überlegte.

      „Vielleicht.“

      Lange Zeit sprachen sie nicht, bis Hazel laut dachte.

      „Wenn aber all diese Götter den großen Plan für jeden Menschen entworfen haben, warum ließen sie dann die armen Toten dort unten in die Höhle gehen, um den Kessel zu stehlen? Warum sollten sie für immer verdammt sein?“

      „Vielleicht