Mira Birkholz

Dolúrna


Скачать книгу

der für die Kinder ein Vorbild sein sollte. Und dann erst seine Kleidung! Wie ein Cowboy aus Wildwest hatte er neulich am Hafen gestanden! Fehlten nur noch das Pferd und der große Cowboyhut. Für den Sheriff-Stern würde es wohl nicht reichen, denn ob so einer wie dieser Halbwilde in der Stadt für Ordnung sorgen könnte, wagte Mrs. MacFarlane zu bezweifeln. Zumal er scheinbar nicht einmal den Anstand und den christlichen Glauben besaß, am heiligen Sonntag die Kirche zu besuchen!

      „Auf Wiedersehen, Mrs. MacFarlane. Der Herr segne Sie!“, sprach plötzlich Pfarrer McGowan und reichte ihr die Hand, die neben dem schwarzen Talar ungewöhnlich blass erschien. Der Herr Pfarrer verbrachte ja auch wenig Zeit an der frischen Luft. Jeden Tag saß er eifrig lesend und schreibend in seiner Amtsstube. Selbst durch die feinmaschige, weiße Gardine konnte Mrs. MacFarlane seinen dunklen Umriss erkennen, wenn er sich über den Schreibtisch beugte oder vor dem hohen Bücherregal stand. Auch sein Gesicht wirkte blass. Bläulich unterlaufen schimmerte die dünne Haut unterhalb seiner Augen, so dass es aussah, als wäre er in eine Schlägerei geraten. Die Augen selbst waren von einem wässrigen Blau, das nur zu leuchten begann, wenn er vor der Gemeinde stand und predigte. Das blonde Haar hatte bereits an Fülle verloren, und Mrs. MacFarlane stellte mit Genugtuung fest, dass die Zeit auch an dem Gottesmann nicht ohne Spuren vorbeiging.

      „Auf Wiedersehen, Pfarrer McGowan“, sprach sie artig, während die alte Mrs. Kingsley an ihrem Arm ihm wortlos die Hand reichte.

      „Auf Wiedersehen, Mrs. Kingsley. Der Herr segne Sie!“

      Seit ihr Mann gestorben war, sprach die alte Dame kaum noch ein Wort. Doch das störte Mrs. MacFarlane nicht. Sie brauchte jemanden, der ihr zuhörte, und das tat diese bereitwillig. Auf Matthew war kein Verlass. Der war mit den Gedanken immer ganz woanders, wenn seine Frau aus der Stadt heimkam und ihm berichtete, dass der alte Nolan gestorben war, Mr. und Mrs. Adams sich getrennt hatten oder die junge Lily Hamilton gesehen wurde, wie sie knapp bekleidet durch ihre Wohnung gelaufen war. Für Skandale war er einfach nicht empfänglich. Matthew verkroch sich ständig in seiner kleinen Werkstatt hinter dem Haus und werkelte an den Gartengeräten herum oder versorgte die letzten wenigen Schafe, die ihnen noch geblieben waren.

      Das Schlimmste an Matthews Verhalten allerdings war seine neue Angewohnheit, nachmittags am Weidezaun zu stehen und sich mit dem fremden Nachbarn zu unterhalten, wenn der aus der Schule kam. Sie schwatzten über den Garten und angebliche klimatische Veränderungen, die nicht aufzuhalten waren. Lieber sollte Matthew die Zeit nutzen, um den Zaun zu reparieren, anstatt hinüberzusteigen und sich vom Gerede dieses Fremden anstecken zu lassen. Wer wusste, welch seltsame Ideen er ihrem armen Ehemann aufdrängte? Mit seiner merkwürdigen Gartenanlage und dem mehr als verdächtigen Verhalten. Vom Küchenfenster aus hatte Mary nämlich beobachtet, wie Mr. Wood seine Bäume streichelte und umarmte! Das war doch nicht normal! Wer weiß, was er noch mit ihnen anstellte?! Oh, lieber Gott, daran wagte sie nicht zu denken! Und wehe, er probierte seinen Hokuspokus an Matthew aus!

      Um sich ihres Ärgers zu entledigen, lief Mary MacFarlane seither noch häufiger hinüber zu ihrer Nachbarin Mrs. Kingsley, die klein und grau in ihrer Küche hockte und schon darauf brannte, sich Marys Geschichten anzuhören. Was sollte sie sonst auch tun? Allein in dem alten Haus. Gerne opferte Mary sich und unterhielt die gebrechliche alte Dame.

      Noch lieber allerdings traf Mary sich mit ihren Freundinnen zum Tee, denn die hatten regelmäßig neue Geschichten auf Lager, die viel anregender waren als das Schweigen von Mrs. Kingsley. Besonders Margaret war immer bestens informiert. Und damit keine Neuigkeit ihre weit geöffneten Ohren und Augen verfehlte, hatten die Freundinnen beschlossen, sich am Sonntag im Gottesdienst gleichmäßig über die Bankreihen zu verteilen.

      Endlich trat Mary aus der dunklen Kirche hinaus an die frische Luft.

      „Kommen Sie, Mrs. Kingsley, wir stellen uns hier an die Seite. Da können wir ganz genau beobachten, wer aus der Kirche kommt.“

      Forsch schob sie die kleine Person an den Wegesrand, der vom dunkelgrünen Laub mehrerer Rhododendren eingefasst war. Deutlich waren die braunen Fruchtstände zu erkennen, die ringförmig im dichten Blattwerk standen und an vergangene Frühlingstage erinnerten. Hier müsste auch einmal der Garten gepflegt werden, überlegte Mrs. MacFarlane und knipste mit Daumen und Zeigefinger eine braune Samenkapsel ab. Aber dafür war wohl kein Geld vorhanden. Missmutig schaute sie auf das Kraut, das sich zwischen den Sträuchern ausgebreitet hatte. Wenn sie hier etwas zu sagen hätte, sähe der Kirchgarten anders aus!

      Doch nun richtete sie ihren Blick auf die Kirchenbesucher, die nacheinander Pfarrer McGowan die Hand reichten und unter leisem Lachen oder in ein vergnügtes Gespräch vertieft das Gotteshaus verließen.

      Der alte MacLeod stützte sich schwerfällig auf seinen Gehstock. Na, der sollte mal nicht so tief in die Flasche schauen, dann könnte er auch besser gehen! Und seine Frau schien schon wieder dicker geworden zu sein! Mrs. MacFarlane schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick deutlich über die rundliche Metzgerin schweifen, die mit einer engen beigefarbenen Jacke wie einer ihrer berühmten Haggis aussah. Innerlich kicherte Mrs. MacFarlane über ihren Vergleich mit der runden Wurst.

      Auch einige Lehrer konnte Mary nun entdecken. Allen voran Mrs. Montgomery, seriös wie immer, im dunkelblauen Kostüm und mit perfekt gekämmter Frisur und gepflegtem Teint. Daran sollte sich die gesamte Schule ein Vorbild nehmen! Leicht neigte sie ihren blonden Kopf vor dem Pfarrer und schritt stolz davon.

      Anders Mr. Guthrie, der kleine stämmige Schulleiter. Sein braunes Haar wirkte frisch gewaschen, aber wie konnte jemand, der solch eine Position inne hatte, mit Jeans und Freizeitjacke zur Kirche gehen?! Seine Frau schien das nicht im Geringsten zu stören, trug sie doch selbst derbe Halbschuhe und eine rote Jacke, die schon länger die Waschmaschine nicht mehr gesehen hatte. Lachend legte Mr. Guthrie den Arm um ihre Schulter und winkte noch einmal dem Pfarrer zu, der inzwischen Familie Gallagher verabschiedete. Zwei entzückende Töchterchen hatten sie. Beide trugen hübsche Kleidchen, eines in Rosa, das andere in Violett, dazu weiße Kniestrümpfe und ordentlich geflochtene Zöpfe. Brav standen sie an die Beine ihres Vaters gelehnt und sahen ehrfürchtig hinauf zu Pfarrer McGowan, der ihnen segnend die Hand auf die Köpfe legte. Mr. Gallagher arbeitete in der Bank, und seine hübsche schlanke Frau erledigte die Hausarbeit und erzog die Mädchen. Schon als Kinder hatten Eva und George zusammen gespielt, erinnerte sich Mary. Beide waren hier aufgewachsen, genau wie sie selbst auch.

      Keine Spur war zu sehen von der wilden Miss Blackwell, der burschikosen Gärtnerin, die sich regelmäßig mit dem jungen Fischer Ben Cochrane herumtrieb. Ein einziges Mal hatte Mary die beiden in der Kirche gesehen. Damals vor zwei Jahren, bei der Trauerfeier für Mr. Cochrane senior. Eine tragische Geschichte. Das Meer hatte nicht nur sein Boot genommen, sondern auch sein Leben. Doch das schien ihm sowieso nicht mehr viel wert gewesen zu sein, seit seine Frau an Krebs gestorben war. Unter Depressionen soll er gelitten haben. Kein Wunder, dass sein Sohn zu einem Außenseiter geworden war. Bestimmt hatte er deshalb angefangen zu trinken. Das tat er ja reichlich auf seinem Boot, munkelte man. Selbst Hazel Blackwell nahm gerne mal einen ordentlichen Schluck Whisky. Wohin sollte das noch führen?! Lieber sollten sie eine Familie gründen und sich dem gesellschaftlichen Leben im Ort anpassen. Und dazu gehörte auch der sonntägliche Gang zum Gottesdienst!

      Matthew erschien in der großen Kirchentür. Klein und rund stand er vor dem großen schlanken Pfarrer. Seine roten Wangen glänzten frisch rasiert, und das graue Haar hatte er sorgfältig nach hinten gekämmt. In seinem braunen Sonntagsanzug und den polierten Lederschuhen sah er um Jahre jünger aus, stellte Mary fest. Wie verabscheute sie seine alten grauen Hemden und die grüne Cordhose, die er zu Hause immer trug. Und erst die schmutzige Tweedmütze, die er schon vor ihrer Hochzeit getragen hatte. Damals war er allerdings ein schmucker junger Farmer gewesen, der sie mit frischem Lammfleisch umworben und ihr schließlich ein sicheres Heim geboten hatte. Schlank und kräftig war er gewesen und hatte volles hellbraunes Haar gehabt. Und immer ein freundliches Wort für sie. Davon war nicht viel übrig geblieben. Wortkarg zog er sich nach dem Frühstück meist in den Schuppen zurück, um zur nächsten Mahlzeit hungrig zurückzukehren. Seine Kleidung ließ zu wünschen übrig, ebenfalls sein Benehmen bei Tisch. Aber wenigstens badete Matthew regelmäßig, damit er seine Frau am Sonntag in die Kirche begleiten konnte, ohne