Mira Birkholz

Dolúrna


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peregrinus.“

      „Jawohl, Herr Professor! Vielen Dank für die Aufklärung!“

      Hazel legte die Hand auf die Brust und verbeugte sich vor Connor.

      „Können Sie mir bitte gnädigst den Zusammenhang zwischen Wanderfalken und unserem Ziel erläutern?“

      „Falken weisen den Weg.“

      Verständnislos schaute sie Connor an.

      „Das sind sehr komplexe Vorgänge. Es ist schwer zu erklären. Man muss die Vögel lange studiert haben.“

      „Ach ja“, erinnerte sich Hazel, „du bist ja auch Biologielehrer. Und die wissen bekanntlich Dinge, von denen kleine Schülerinnen nicht einmal zu träumen wagen!“

      „Genau!“, lachte Connor und schloss damit das Thema ab.

      „Komm‘, lass uns hier aussteigen, Hazel! Wir müssen in südlicher Richtung gehen, die Sonne im Gesicht.“

      Connor befreite seinen großen Körper aus der Enge des Kleinwagens und reckte sich genüsslich.

      „Welche Sonne? Ich sehe nur graue Wolken!“, beschwerte sich Hazel und vermied den Blick auf seinen straffen Körper.

      „Die Sonne ist immer da! Auch wenn du sie jetzt nicht sehen kannst.“

      „Das weiß ich auch“, schimpfte sie, „schließlich bin ich nicht ganz dumm!“

      Die braunen Haselaugen sandten helle Blitze aus.

      Connor lachte.

      „Ich wollte dich nicht beleidigen, Hazel. Ich wollte dir nur von der Sonnenverehrung der Kelten erzählen. Vom Wiedererwachen des Lichts und der Wiedergeburt des Lebens im tiefsten Winter. Deshalb habe ich gesagt, die Sonne sei immer da, so wie auch deine Seele...“ Connor unterbrach sich selbst. Hazel runzelte die Stirn.

      „Komm‘, lass uns einfach losgehen“, entschied er, setzte den Rucksack auf und reichte Hazel versöhnlich die Hand.

      „Also gut, folgen wir der Spur der Falken und der ewigen Sonne!“

      Zu ihrer Linken lag die Fahrbahn und dahinter das hügelig ansteigende Land, das als Gras- und Weideland für Rinder- und Schafherden diente und von weitläufigen Heideflächen umgeben war. Zur Rechten erstreckte sich unendlich grau und aufgewühlt das Meer. Salzige Luft stieg ihnen in die Nasen. Ein leichter Fischgeruch.

      „An klaren Tagen kann man dort drüben Islay erkennen“, erklärte Hazel, die Connor beweisen wollte, dass sie sich wenigstens in der Kintyre umgebenden Inselwelt auskannte. Mit dem Finger wies sie in nordwestlicher Richtung.

      „Und da hinten in der Ferne, mehr im Südwesten, liegt Rathlin Island. Das ist schon Irland. Wusstest du, Connor, dass der Mull of Kintyre der nahegelegenste Ort Großbritanniens zum irischen Festland ist?“

      Stolz sah sie ihn von der Seite an. Ein leichter Wind spielte in seinen Locken, während seine Lippen ein Lächeln umspielte.

      „Ich habe darüber gelesen. Genaugenommen ist das irische Festland, von dem du sprichst, allerdings auch noch ein Stück Großbritanniens...“

      Hazel verdrehte theatralisch die Augen.

      „Ja, Herr Oberlehrer, ich weiß, dass es sich um Nordirland handelt, das zu Großbritannien gehört! Hältst du mich eigentlich für dumm, weil ich ‚nur in einer Gärtnerei‘ arbeite und nicht studiert habe?! Glaubst du, ich hätte keinen Schulabschluss gemacht? Denkst du, ich kann nur ein paar Pflänzchen verkaufen, die ich mit Glück benennen kann?!“

      Connor sah sie traurig an und griff nach ihrem Arm, doch Hazel riss sich wütend los.

      „Immer glauben alle Leute, ich bin total bescheuert, nur weil ich bei der Arbeit kein Kostüm oder ein schickes Kleid trage. Nur weil ich nicht in so einem piekfeinen Büro sitze und wichtige Konferenzen abhalte oder in feiner Seidenbluse den Leuten Kredite andrehe!“

      Aufgebracht beschleunigte sie ihren Schritt. Doch Connor stoppte sie, indem er von hinten ihre Taille griff. Die Lederjacke lag fest in seinen Händen, und behutsam drehte Connor die zappelnde Hazel herum. Mühsam gelang es ihm, sie festzuhalten. Sie atmete heftig und sah stur an ihm vorbei, während sie die Arme stramm vor der Brust verschränkte.

      „Hazel“, sprach er eindringlich, „Hazel, beruhige dich!“

      Sanft strich er eine wilde Haarsträhne aus ihrer Stirn. Die braunen Augen blickten trotzig.

      „Wer hat dich so verletzt?“

      Connors Stimme klang leise und mitfühlend.

      Fragend sah sie ihn an.

      „Wer hat dich glauben lassen, du müsstest jedem Menschen beweisen, dass du etwas wert bist? Dass du stark und klug bist. Wer hat je daran gezweifelt?“

      Hazel schluckte und sah zu Boden. Wie konnte es sein, dass dieser Mann, den sie heute zum dritten Mal traf, sie besser kannte als jeder andere, vielleicht sogar besser als sie sich selbst?! Wie hatte er sie so schnell durchschauen können? Besaß er eine Art Röntgenblick für Gefühle und Charaktereigenschaften? Ahnte er auch etwas von David?

      „Du musst es mir nicht sagen“, klang Connors Stimme nah an ihrem Ohr. Er roch nach Aftershave.

      „Es tut mir leid, Hazel. Ich wollte dich nicht belehren. Und schon gar nicht verletzen. Es war dumm von mir und kleinlich. Ich möchte nicht, dass du traurig bist.“

      „Ich bin gar nicht traurig!“

      In Hazels Augen schwammen Tränen.

      Niemals hatte David sie weinen sehen. Zu sehr war sie darauf bedacht gewesen, ihre Verletzung vor ihm zu verbergen. Geschauspielert hatte sie, so getan, als ob sie ihn sowieso nicht mehr wollte. Und David hatte sich täuschen lassen. Das hatte Hazel eine kleine Genugtuung verschafft, jedoch nicht die Wunde zu schließen vermocht, die David ihr zugefügt hatte. Bei Connor funktionierte es nicht. Er sah einfach durch Hazel hindurch und erinnerte sie daran, dass unter ihrem Schutzpanzer aus frechen Bemerkungen und wilder Kampfbereitschaft eine Sensibilität schlummerte, die ihr schon ein Leben lang zu schaffen machte.

      Plötzlich schlossen sich zwei Arme um sie, und Hazel versank in der Umarmung dieses großen Mannes, der sie fest an seine Brust drückte, damit sie ungesehen weinen konnte.

      Wind kam auf und blies große Wellen auf den Strand, wo sie unter lautem Grollen brachen und zurück ins Meer stürzten. Connors Jacke flatterte laut an Hazels Ohr. Über ihren Köpfen stieß ein Vogel helle Schreie aus. Eeek-eeek-eeek. Vermutlich ein Wanderfalke. Wies er ihnen den Weg?

      Mit dem Handrücken wischte Hazel die Tränen aus ihrem Gesicht.

      „Ich möchte mit dir die Höhle finden“, sprach sie gegen den Wind, und Connor nickte.

      Wortlos wanderten sie die Straße entlang, die sich parallel zur Küstenlinie schlängelte. Am Meeressaum verlief ein schmaler Sandstrand, der in regelmäßigen Abständen von tosenden Wellen überflutet wurde. Mit lautem Krachen stürzten sie gegen die Felsen, die an dieser Stelle jedoch nur vereinzelt in das Meer ragten. Sicherlich bargen sie keinen Platz für eine Höhle.

      Durch den Wind angetrieben erwachten die dicken grauen Wattewolken aus ihrer Lethargie, trennten sich zäh von einander, schoben sich langsam vorwärts auf das Land zu und ließen ein milchiges Licht durchscheinen, das auf die stete Gegenwart der Sonne hinwies. Selbst an diesem düsteren Frühherbsttag. Nun segelten auch Möwen über ihren Köpfen, tanzten mit dem Wind und kreischten. Vor Freude? Vor Hunger? Wer wusste das schon? Vielleicht Connor, der fest die Falken im Auge behielt, die ständig ihren Weg kreuzten und eine für Hazel unverständliche Sprache sprachen, welche ihrem Begleiter scheinbar geläufig war wie Englisch, Französisch und Gälisch. Konzentriert beobachtete er ihren Flug an der Küste entlang, sah von Zeit zu Zeit in den Himmel, dorthin, wo die Sonne gegen die Wolken kämpfte und sich langsam behaupten konnte.

      Immer heller