Bernd- Andreas Ulke

CUBANO PANKOW


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dem Kopfsteinpflaster, zwischen all den alten Koffern und Taschen saß sie, in ihrem Blümchenkleid und ihren weißen Stoffschuhen, die schon gar nicht mehr so weiß waren. Hatte Eduard sie jemals gefragt? Wie es ihr ergangen war, kurz nach der Ankunft? Hier, im Norden der größten Stadt der Republik, im düsteren Nirgendwo, wohlmöglich noch dahinter? Ein messerscharfer Schnitt muss das gewesen sein. Ein Kontrast wie schwarz und weiß, der berüchtigte Sprung ins kalte Wasser. Dann der Einzug ins Souterrain, direkt neben dem Kartoffelladen.

      Die Spukgeschichten.

      Der Junge Eduard kann beruhigen. Seine Helena ist ganz bestimmt kein Kind von Traurigkeit. An ihr beißt selbst er sich so manches Mal die Zähne aus, verkündet er stolz und verliert sich eine Weile in liebreizenden Gedanken. Beide mustern sich sodann schweigend, durch den Schleier des Zigarettenrauches hindurch, der in der Luft hängt wie das unausgefochtene Streitgespräch.

      Das Grammofon knistert vor sich hin. Das tut es schon, da hatte längst noch kein Eduard in Mädchenkleidung an der Tür geklingelt. Jetzt richtet sich der Mann mit den gezupften Augenbrauen auf, schreitet in seinen seidigen Pantoffeln etwas wankend übers Parkett und nimmt die Nadel von der Platte.

      „Schnee.“, ruft Eduard sodann mit seiner temperamentvollen Art durch das riesige Zimmer mit Stuckdecken. Und das geschieht nicht von ungefähr. Jean- Claude braucht einen Moment, um aus der Tiefe seines Wodka getrübten Gedankensees aufzutauchen.

      „Was?“, ruft er von hinten.

      „Sie liebt den Schnee. Wusstest du das?“

      Nach dem missglückten Auftritt von vorhin ist es nun an der Zeit, noch einmal anzusetzen.

      Schließlich hat Jean- Claude es ganz richtig geahnt. Eduard ist gekommen, um von seinem neuen Fluchtplan zu berichten. Aber der hätte es besser wissen müssen. Es bedarf dafür keinem Imponiergehabe. Sondern Feingefühl und aufbauender Worte. Einer sanften Einleitung, die zugleich deutlich macht, wie sehr sie in einem Boot sitzen.

      „Unsere Helena liebt also den Schnee, sagst du.“, krächzt die krächzende Stimme, „Es passt zu ihr. Nun, davon hatte sie ja vor ein paar Monaten eine ganze Menge.“

      „Wann hat es eigentlich angefangen?“ fragt Eduard und betont seine Worte dabei als spräche er über etwas ganz Bedeutsames.

      Die Spinne baut ihr Netz.

      „Was, zu schneien?“, fragt die begehrte Beute ganz ahnungslos und widmet sich ein weiteres Mal der Hausbar, eine Batterie von Flaschen, deren Hälse im honigfarbenen Licht des Salons ein wenig schimmern.

      „Nein, Jean, ich meine, wann hat das ganze angefangen? Irgendwie, stell dir vor, wir schreiben bald Geschichte. All diese Zusammenhänge. Der Weg, den wir gehen, insbesondere der, den ich nun gehen möchte. Wenn das auf eine, ja, wie erzählte Geschichte zusammengefasst würde. Dann müsste sie praktisch einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende haben. Okay, der Höhepunkt steht unmittelbar bevor, das kann ich dir sagen.“

      „Und das Ende kommt schneller als du denkst. Wobei wir wohl wieder beim Thema wären.“

      „Nein, Jean- Claude. Das Ende ist offen. Es ist noch nicht bestimmt. Du kannst mir helfen, dass es gut wird. Und das wirst du auch. Dann trägt all das noch mal richtig Früchte. In einem grandiosen Finale. Auch für dich.“

      „Nein!“, widerstrebt es Jean- Claude. Er sieht große Gefahren.

      „Doch.“, kontert Eduard selbstsicher. „Aber bleibt die Frage nach dem Anfang. Wann war der Anfang, wann nahmen die Geschehnisse tatsächlich ihren Lauf?“

      Jean- Claude grübelt eine Weile.

      „Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe.“

      „Das tust du, alter Freund, keine Sorge.“

      „Eine Geschichte, meinst du…“

      „Die Geschichte. Unsere. Überleg doch mal, was für krasse Ereignisse uns die letzten Monate umgeben.“

      „Für die meisten sind wir immerhin selbst verantwortlich.“

      „Deshalb ja. Es ist unsere Geschichte. Unser Handeln. Wer und was uns umgibt. In einem bestimmten Zusammenhang. Was jetzt ist, was war, und was noch kommen wird.

      Jean- Claude nickt leicht irritiert.

      Wieder hat er sich von Eduard um den Finger wickeln lassen. Aber er kann nicht widerstehen. Es ist alles auch nach seinem Geschmack.

      „Also. Das Mädchen kann man da nicht außen vor lassen.“

      Eduard grinst.

      „Ich sehe, du weißt genau, worauf ich hinaus will.“

      „Da gibt es dich, da gibt es sie. Da gibt es mich …und, nun ja, diesen…“

      „Derrick. Es gibt auch andere Personen.“

      „Die gibt es gewiss. Und von so manchen hast du offenbar nicht die geringste Vorstellung.“

      „Ich rechne immer mit ihnen.“ sagt der Junge ganz geradeaus.

      „So gut kannst du gar nicht rechnen, mein Freund.“

      „Die schaffen wir schon. Komm…Weiter.“

      Jean- Claude denkt nach.

      „Da ist noch das Haus.“

      Eduard ist ganz aufgebracht.

      „Genau. Es spielt eine wichtige Rolle. Fast eine Schlüsselrolle.“

      „Der Kartoffellladen.“

      „Spuk. Es spukt im leeren Kartoffellladen.“

      „Der deinen Eltern mal gehörte.“

      „Und in dem sie noch immer ihr Unwesen treiben. Die Leute glauben es.

      Zumindest einige.“

      Jean- Claude schenkt sich nach.

      „Sie sind naiv. Die sind es ja gewohnt, dass man ihnen Dinge erzählt, die sie hinnehmen müssen.“

      „Geisterspuk im leeren Kartoffelladen. Mainzelmännchen auf Plakaten. Der Sender… Nun hilf mir doch.“

      „Die Plakate kleben überall in der Stadt. Ich musste mir schon eine zweite Druckmaschine besorgen. Es formiert sich. Die Bewegung.“

      „Wann war das mit den Jungs vom Sender? …Zu Sylvester.“

      „Ja. Aber ich denke, du kannst vorher einsteigen.

      Die Geschichte, von der du sprichst, ging vorher los.“

      „Aber wann?“

      Beide überlegen.

      „Als du Helena kennen gelernt hast.“, schlussfolgert Jean- Claude und ist schon wieder am einschenken.

      „So direkt mit dem Kennen lernen? Sagen wir ein paar Wochen vorher. Kurz vor Weihnachten. Das trifft es besser.“

      „Da hast du deinen Schnee. Viel Schnee.“

      „Ja. Schnee! Es schneit nur so vom Himmel herab!“, schwärmt Eduard und tänzelt schon fast durch die Pariser Wohnung, „In den dicksten Flocken!“

      „Kennst du dieses Souvenir? Diese Glaskugel mit der kleinen Stadt drinnen? Wenn du sie schüttelst, schneit es darin, dann schneit es über dieser kleinen Stadt innerhalb der Kugel.“

      „Eine Schneekugel!“, ruft der Junge angetan, „Genau, da tobt dann ein richtiger Schneesturm drinnen!“

      Jean- Claude lächelt. Er lächelt sein trauriges, melancholisches Lächeln, ist ganz in seiner Welt angekommen.

      „Wenn du dich fallen lässt in Gedanken, dich dem einfach hingibst. Wenn du also ganz genau hinsiehst, dann erkennst du vielleicht sogar wie die Lichter aus den kleinen Wohnungen funkeln.“

      Der Junge Eduard nickt zustimmend und pustet Zigarettenrauch aus.

      Auch