Bernd- Andreas Ulke

CUBANO PANKOW


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quietschender Wisch über die Scheibe. Doch diese hat von außen bereits eine dünne Eisschicht angesetzt. Etliche Minuten und genau drei Paar Schuhe später wird Helena durch sanfte karibische Töne aus ihrer Lethargie geholt. Es sind die typischen Salsa Klänge ihrer Heimat, die da von nebenan aus dem Wohnzimmer dringen.

      Eine klare Vorstellung zeichnet sich vor Helenas regem Geiste ab: Martin, der Lehrer, mit einer Zigarette im Mund, gerade eine Weinflasche öffnend, ihre Mutter, ihn dabei fröhlich beobachtend, ebenfalls rauchend, in ihrem Hemd, das aussieht wie Wildleder, lässig im Schneidersitz an den Ofen gelehnt.

      Die beiden wären ihr sicherlich nicht böse, würde sie sich jetzt noch ein wenig zu ihnen gesellen. Aber sie möchte sie lieber allein lassen.

      So geht sie ins Badezimmer und widmet sich einer Zeremonie, die sie ganz allein für sich entdeckt hat, mit der sie sich so manchen Abend schon für ihre unermüdliche Aufgeschlossenheit ihrem neuen Leben gegenüber belohnt hat. Sie öffnet den Hahn der Badewanne, das Wasser poltert los, im Boiler flammt es mit einem dumpfen Fauchen auf, und schon bald duftet es nach Schaum. Helena taucht sobald ein, ins heiße, wohlwollende Nass, ist von riesigen Schaumhügeln umgeben.

      Minuten später poltert das Wasser noch immer lautstark in den Korpus der Wanne, da sind Helenas Lider schon sehr schwer. Eine große Uhr hängt an der Wand mit alten Kacheln, von denen sich die eine oder andere schon gelöst hat. Das Gehäuse beschlägt. Der große Zeiger dahinter macht einen weiteren Satz in Richtung Nacht.

      Draußen diese klirrende Kälte, das heiße Bad hier unten, im goldenen Schein.

      Helena ist noch einmal ganz selig und dankbar bevor sie einschläft. Den Geschmack des neuen Lebens auf der Zunge, die Heimat im Herzen, so angenehm und spannend hatte sie sich das neue Leben vor wenigen Monaten nicht vorstellen können.

      Der Boiler flammt noch mal auf, der große schwarze Boiler, wie ein guter Geist wacht er über das schlafende Mädchen im Korpus der Wanne. Das Wasser läuft in den Überlauf, fließt durch das kleine Gitter in die verborgene Welt dahinter. Es rauscht die Rohre hinab, schräg nach unten, fließt dann wieder fast eben durch ein Rohr, welches in den Speicher unterhalb des Kartoffellladens führt und dort entlang der Decke verläuft.

      Der Junge Eduard schaut in diesem Moment kurz zu dem Plätschern hinauf. Dann widmet er sich wieder voll und ganz seiner Lektüre. Ein Plattenspieler dudelt dort, wo der Junge Eduard gerade ist, leise vor sich hin. Kerzen flackern. Eine Stehlampe, ein kleiner Gasheizer. Ausgemustertes Mobiliar erweckt den Anschein einer wohnlichen Einrichtung. Bücher und lose Schriften sind überall in diesem seltsamen unterirdischen Ort verteilt. Technische Zeichnungen hängen an der Wand, Lagepläne, Fotos vom Grenzstreifen. Eine antike Truhe steht am Ende des Raumes, fast im Dunkeln verborgen. Der alte Speicher unter dem Kartoffelladen gleicht einer mysteriösen Kommandozentrale. Zumindest aber wurde er zu einem geheimen Rückzugspunkt umfunktioniert.

      Eduard klappt das Buch zu. Er muss daran denken, wie er damals als Kind unter der Bettdecke Comics aus dem Westen gelesen hatte. Während die Luft immer stickiger wurde, folgte er gebannt mit einer Taschenlampe Superhelden auf bunten Seiten, war ganz und gar eins mit der Geschichte.

      Auch jetzt, im Speicher unter dem Kartoffelladen, ist er wieder mal in seine eigene geheimnisvolle Welt abgetaucht. Von der Außenwelt abgeschirmt widmet er sich nicht nur seinen Träumen, sondern lässt sie sozusagen auf dem Reißbrett und mit mutigem Kalkül Schritt für Schritt Wirklichkeit werden. Wenn er für sein waghalsiges Unterfangen eine zündelnde Idee hat, dann meist hier unten. Er nimmt sich während der Aufenthalte in seinem Versteck aber Zeit, sich auch mal in bloßen heroischen Fantasien zu weiden, stolz auf das bisher Geleistete zurückzublicken oder schwärmend zu studieren, wie die Superhelden des richtigen Lebens aussehen.

      Eduard sitzt mit geschlossenen Augen da, das Buch noch zusammengeklappt in seinen Händen haltend. Er sieht einen glühenden Heißluftballon durch den finsteren Nachthimmel schweben, einen, der minuziös, von langer Hand geplant und im Verborgenen konstruiert wurde. Von Menschen, die einen Traum verfolgten und ihn umsetzten.

      Den Traum, aus der Umschließung in die Freiheit zu entkommen.

      Ehrfürchtig liest der Junge noch einmal den Stempel auf dem Einband des Buches:

       Leihgabe. Amerikanische Gedenkbibliothek. Blücherplatz 1, 1000 Berlin 61

      Westberlin.

      Danke, Derrick, denkt Eduard und ist zufrieden angeregt. Er sieht auf seine Uhr.

      Es wird Zeit, gleich eine kleine Maskerade zu vollziehen. „Wir wollen doch den grauen Männern keine Gelegenheit bieten, die Tauben beim gemeinsamen Turteln zu erwischen, wohlmöglich noch, ein paar hübsche Aufnahmen von uns zu machen. Und wie ich dich kenne, Derrick, wirst du aus dem Staunen nicht mehr rauskommen.“

      Eduard durchfährt ein freudiges Prickeln, so etwas Hochmut und Aufregung in einem. Er sieht rüber zur geheimnisvollen Truhe.

      Über deren Schloss befindet sich das Antlitz eines hämisch grinsenden Clowns. Den Schlüssel dazu, der das gleiche Motiv trägt, hat Eduard stets an einem weit gefassten Lederband um den Hals zu hängen. Er verbindet seine beiden Welten miteinander, glaubt er. Die alltägliche und die verborgene, in der er sich jetzt gerade befindet, in die er immer dann abtaucht, wenn er an seinem umfangreichen, höchst brisanten Projekt arbeitet.

      Er nimmt einen Schluck aus einer Goldkroneflasche, setzt die Nadel von der Schallplatte und schaltet ein kleines Radio an. Eine junge Männerstimme singt gerade einen Vers, im Hintergrund agieren Rhythmen, die gut zu der verborgenen Welt passen, so fremd sind sie, so magisch, pulsierend und belebend.

      „…Habt Mut, seid stark und seid bereit

       die Mauer fällt im Kopf, bald ist´ s soweit

       alles eine Frage nur der Zeit“

      Eduard dreht sogleich lauter, ein kleines, gut kalkuliertes Stück. Dann schreitet er, sich leicht zu den Wogen der Musik bewegend, zu der Truhe hinüber, nimmt das Band mit dem Schlüssel ab und schließt auf. Er sieht einen Moment nach unten auf den Schatz, der sich ihm aus dem Innern der Truhe offenbart, tanzt dann wieder zur Musik, dreht sich einmal um die eigene Achse. Jetzt zaubert er aus der Truhe ein Kleidungsstück hervor, bewegt sich sodann wie ein Tänzer passend zur Musik durch den niedrigen Raum, schleift das Kleidungsstück dabei hinter sich her. Er schlüpft in eine glitzernde Bluse, in Stiefel mit Absätzen, seine dunkelblonden Haare verschwinden unter einer dunkel schimmernden Langhaarperücke, er benutzt Lippenstift, Rouge, Mascara, betrachtet sich sodann zufrieden im staubigen Spiegel.

      Seine Stimme klingt nun femininer, melodiöser.

      „Jean- Claude, … mein geliebter Mentor. Du solltest stolz auf mich sein.“

      Dieses exotische Wesen, welches dort unten bei Kerzenschein und skurriler Musik sein geschminktes Gesicht bewundert, die Lippen schürzt, die Perücke zurechtrückt und hier und da etwas an der Kleidung richtet, ist nicht etwa ein Transvestit, eine gute Laune der Natur.

      Es ist einfach nur Eduard. Nur dass der jetzt eben wie ein Mädchen aussieht. Und er weiß, dass ihn so, vermutlich nicht mal sein eigener Bruder erkennen würde.

      Noch ein ordentlicher Schluck aus der Goldkrone Flasche, ein paar Spritzer West- Parfum, die Verwandlung komplett, geht es durch das Kellerlabyrinth, unter vielen Häuserblöcken entlang.

      Eduard ist stolz auf sein Versteck. Der Speicher unter dem verwaisten Kartoffelladen, ist kaum jemandem bekannt, und um den unheimlichen Laden wird meist ein großer Bogen gemacht.

      Perfekt.

      Der Junge, der jetzt wie ein Mädchen aussieht, nimmt einen kleinen Draht zur Hand.

      Wenn man den Dreh raus hat, die Verbindungstüren zu öffnen weiß, scheint die Verschachtelung endlos, strecken sich die katakombenartigen Gänge wie Flussadern aus unter dem Pankower Straßenland. Ein Verschlag reiht sich dabei an den nächsten, oft nur gefüllt mit Kohlebriketts, manchmal aber auch mit uralten Relikten. Vieles ist abgedeckt und erscheint