Anja Kannja

Zwei mit Eins


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fiel mir mein lang gehegter Herzenswunsch ein, den ich nie verwirklichen konnte, weil er enorm zeitintensiv ist. Immer schon wollte ich alles, was ich so erlebt habe, niederschreiben! Ich packte also die Gelegenheit beim Schopf, öffnete eine Datei auf meinem Computer, auf der schon seit fünfzehn Jahren meine Tagebucheintragungen abgespeichert sind, um sie gleich wieder zu schließen. Denn was da stand, das wollte ich eigentlich nicht lesen. Waren es doch Eintragungen aus einer Zeit, in der es mir nicht so gut ging wie heute. Aber es ließ mir keine Ruhe mehr. Und so setzte ich mich hin und begann zu schreiben.

      Jetzt, wo mein Text fertig vor mir liegt, bin ich froh darüber! Wirklich froh, meinen Herzenswunsch erfüllt zu wissen. Dieses Buch soll nicht dazu dienen, die Welt zu retten. Aber es ist eine Geschichte, die ich erzählen möchte, weil ich glaube, dass sie auch für andere interessant und hilfreich sein kann! Auf jeden Fall aber verlangt dieser Abschnitt meines Lebens nach Aufmerksamkeit. Denn ich hab mir mal fest vorgenommen, die Welt all mein Erlebtes wissen zu lassen, ganz einfach um anderen damit zu helfen. Und was ich mir einmal vornehme, das mache ich auch! Ob es wirklich interessant ist, das können nur andere Menschen beurteilen, aber ich für mich weiß, dass es wohl an der Zeit ist, mir einen Verlag zu suchen.

      Es war eine unglaublich spannende Sache für mich und auf jeden Fall wertvoll für meine Tochter, denn die hat nun schon mehrere Monate Ruhe vor mir! Was ja so gesehen auch Sinn und Zweck der ganzen Übung war! Im Übrigen ist mir so nebenbei, zum Trost für alle anderen in meiner Altersgruppe, auch noch bewusst geworden, dass man mit vierundvierzig noch kein Tattergreis ist, der alles hinter sich hat. Gibt es doch jede Menge zu erledigen! Zum Beispiel mal die Pubertät verdauen und sich Gutes tun!

      Ich hab also mit der Arbeit an diesem Buch zwei Fliegen auf einen Schlag getroffen! Zum einen geht’s mir jetzt blendend, und zum anderen habe ich erkannt, dass ich auf dem letzten Foto, das meine Tochter und ich gemacht haben, gar nicht so schlecht aussehe für mein Alter. Na ja, ich würde mal sagen: „Genial, finden Sie nicht?“

      Und nur für den Fall, dass dieses Buch tatsächlich seinen Weg geht, was ich mir jetzt und hier wünsche, will ich nicht verabsäumen, mich dafür zu bedanken, dass Sie es gekauft haben und auch tatsächlich lesen wollen. Möge es Ihnen gefallen! Ich zitiere meinen Bruder: „Dann habe ich gewonnen!“

      P. S.: Hab jetzt auch eine wunderschöne rote Brille!

      Auftakt ins Ungewisse

      Meine Geschichte beginnt, wie so viele Geschichten beginnen: mit den Worten Liebe und Glaube. Es ist eine Geschichte, die sich leider viel zu oft wiederholt auf dieser Welt. Eine Geschichte, die das Ende eines viele Jahre andauernden Leids erzählt. Ihre Hauptdarsteller sind ein Mann Mitte dreißig, dunkles Haar, kleines Bäuchlein, überdurchschnittlich intelligent, ausgesprochen attraktiv, charmant und humorvoll, und eine hübsche junge Frau, gescheit, charismatisch, voll Energie, Charme und Zuversicht. An der Hand hält sie einen kleinen Jungen, fünf Jahre alt. Bildhübsch, aufgeweckt und spitzbübisch. In der Tragetasche ein Baby, sechs Wochen alt, blondes, schütteres Haar, einfach süß!

      Voller Erwartungen gehen die beiden am 16. Juli 1969 eine Landstraße entlang, die sie zu dem Vater des jungen Mannes führen wird. Sie lieben sich, diese zwei Menschen, haben einander ewige Treue geschworen. Wollen immer füreinander da sein und jedes Hindernis überwinden. Sie haben eine weite Reise hinter sich, haben eine Grenze überschritten, in ein vielversprechendes Land. Für das es sich lohnt, alles zurückzulassen, was sie haben, um ein neues, gutes Leben zu beginnen. Sie gehen dahin, voller Zuversicht und Hoffnung, nicht ahnend, dass er sich nicht erfüllen wird, ihr Traum vom großen Glück! Sie werden scheitern – an den schwierigen Umständen, die ein fremdes Land mit sich bringt, an den Eltern, die sie nicht richtig unterstützen werden, an der Härte des Lebens, das ihnen in Wahrheit keinen Fehler verzeiht, sondern ihnen jeden einzelnen gnadenlos vor Augen führt. Mit den besten Absichten gehen sie in ein Leben, das es nicht wert ist, auch nur einen Meter dafür zu gehen. Aber das wissen sie nicht, und so sehen sie lachend in eine Zukunft, die geprägt sein wird von Betrug, Verrat, Alkohol, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Armut und zu guter Letzt vom Zerfall einer Familie, die aus ganz besonderen Persönlichkeiten besteht. Menschen mit Charisma, Intelligenz und Mut! Ehrliche Menschen mit dem Herz am richtigen Fleck, die es sich verdient hätten, glücklich zu sein, aber an ihren eigenen Unzulänglichkeiten scheitern werden, weil sie sich nicht die Zeit nehmen werden, über ihre Ängste, Schwächen, Bedenken, Nöte und Wünsche zu reden!

      Liebes Tagebuch!

      Ich sitze auf einer Schaukel in einem verwahrlosten Hof. Mein Blick ist auf den Sportplatz gerichtet, und ich höre die Schreie und das Lachen der vielen Kinder und Jugendlichen, die dort Fußball spielen. Eigentlich sollte ich mitmachen, Spaß haben, laufen, doch es ist mir so gar nicht danach. Diese Kinder, sie sind nicht meine Welt. Überhaupt ist nichts in meinem Leben so, wie ich es gerne hätte. Ich werde bald dreizehn, bin viel zu dick, habe keine Freunde, und mein Bruder, den ich über alles liebe, wohnt bei seiner Freundin. Er ist ausgezogen, vielmehr nicht mitgezogen mit meiner Mutter, meinem Vater und mir in diesen Albtraum von einer Baracke, in der wir jetzt leben. Eine Einzimmerwohnung in einem völlig verfallenen ebenerdigen Haus aus der Nachkriegszeit. Kein Fließwasser, nur ein Brunnen im Hof, ein Klo am Gang, das wir uns mit Menschen, die ich nicht kenne und vor denen es mir graut, teilen! Ein Plumpsklo, vor dem mir ekelt, wenn ich nur daran denke, es benützen zu müssen. Und dann ist da diese Waschküche. Eine alte, verfallene Scheune, in der sich ein Kessel und eine Badewanne befinden. Das ist mein Bad, und ich benütze es gemeinsam mit all den anderen, die mir so zuwider sind, dass ich es keinem Menschen sagen kann. Dabei bade ich so gern! Wenn ich mir vorstelle, dass die Frau, die uns gegenüberwohnt, in der gleichen Wanne sitzt wie ich, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Sie ist so fett, dass sie bei jedem Schritt keucht. Schütteres, langes, schwarzes Haar, das ihr schlampig ins Gesicht hängt. Ihre Fingernägel schwarz vor Dreck, und sie riecht nach Alkohol und Schweiß. Sie trägt immer ein Strandkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, schwarze Gummischlapfen, die Fersen völlig verhornt, mit dicken Rissen. Ich gehe ihr aus dem Weg.

      Eigentlich bin ich einmal ein freundliches Mädchen gewesen, habe immer gegrüßt und jeden angelacht. Doch ich kann nicht mehr grüßen und lachen schon gar nicht. Ich empfinde nur Angst, wenn ich in die zahnlosen Gesichter blicke, die den ganzen Tag im Hof sitzen, bei einem Doppler Wein, sich lallend anschreien und den Tag verstreichen lassen, ohne auch nur die geringste Aufgabe zu haben. Sie arbeiten nicht, diese Menschen. Wo doch jeder arbeiten geht! Unsere Baracke ist umringt von wunderschönen Wohnanlagen, alle mit Balkonen, mit Blumen, die in bunten Farben zu mir her lachen. Wie gern würde ich in der einen Wohnung dort im zweiten Stock wohnen! Bestimmt ist sie wunderschön, mit einem hellen Wohnzimmer und einem schönen Bad. Wenn ich dort wohnen könnte, das wäre schön! Nicht so wie in diesem Ghetto, in dem ich jetzt lebe. Es ist wie ein böser Albtraum, ich schäme mich dafür. Wenn ich in die Schule gehe, mache ich immer schnell, um bis zur Hauptstraße zu kommen, denn dort weiß niemand mehr, wo ich herkomme. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft grüßt mich keiner mehr, denn ich bin das Kind aus der Baracke. Da vorne aber danken mir die Leute, wenn ich sie grüße. Weil sie es nicht wissen …

      Ich vermisse meine beste Freundin Doris, die am anderen Ende der Stadt wohnt. Ihre Eltern fanden den Umgang mit mir nicht mehr so gut und meinten, wir sollten uns mal eine Zeitlang nicht treffen. Ich kann es gut verstehen, weil nicht mal ich das alles hier gut finde. Und ich wünschte, ich könnte davonlaufen, weit weg von diesem Leben, das nur Armut, Verachtung und Alkohol kennt!

      Gestern Nachmittag hat mir ein Bursche aus der Nachbarsiedlung Drogen angeboten. Natürlich hab ich sie nicht genommen, weil man so etwas nicht nimmt. Aber wie kommt der überhaupt auf die Idee? Ich bin kein Mädchen, das Drogen nimmt! Was soll ich hier eigentlich?

      Ich habe ein Problem: Mein Vater besäuft sich täglich – von morgens bis abends. Und meine Mutter beschimpft ihn den ganzen Tag lang. Warum sie das tut, weiß eigentlich niemand, denn er kriegt doch eh nichts mehr mit.

      Er war einmal ein sehr kluger Mensch, der in der Entwicklung von Maschinen tätig war. Ein lieber Vater, den ich sehr gern hatte, aber Mama und er stritten ununterbrochen miteinander, und irgendwann