Anja Kannja

Zwei mit Eins


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miteinander gesungen haben. Mein Vater spielte immer mit meinem Bruder Gitarre, und Mama und ich sangen dazu. Damals, als alles noch so halbwegs in Ordnung war. Zumindest hatten wir ein schönes Zuhause und genug zu essen.

      Ich hatte auch viele Freunde und einen Hund namens Gigi. Einen schwarz-weißen wunderschönen Spaniel. Ich bekam Gigi zum Geburtstag geschenkt. Wir fuhren zu diesem Bauernhof, wo sie mit ihren Geschwistern im Innenhof herumtollte. Als ich sie sah, war für mich alles klar: Das ist mein Hund!

      Wir waren echte Freunde, Gigi und ich. Ich war viel mit ihr unterwegs und lehrte sie lustige Dinge. Sie war mein Ein und Alles.Mein Vater hat sie für eine Flasche Wein verkauft, als wir delogiert wurden. Seit diesem Tag hasse ich meine Eltern. Ich hasse sie dafür, dass sie nichts auf die Reihe bringen. Ich hasse sie, weil mein Bruder nicht mehr bei mir ist, und ich hasse sie, weil wir so leben, wie wir leben, und weil mich kein Mensch grüßt und ich zum Abschaum dieser Stadt gehöre, obwohl ich nichts getan habe!

      Auf der anderen Seite: Ich mag meine Eltern, ja, das tue ich, und ich helfe ihnen auch, so gut ich halt kann. Ich mache sauber, gehe einkaufen, mache die Aufgabe, bin artig, aber sie sehen das gar nicht. Sie sind so mit sich selbst beschäftigt, denen würde es gar nicht auffallen, wenn es mich nicht gäbe.

      Oma hat mir das letzte Mal, als sie uns besucht hat, gesagt, dass ich jederzeit anrufen könne, wenn ich was brauche. Sie habe mit Opa gesprochen und ich könne bei ihnen wohnen. Ich bräuchte es nur zu sagen, dann würden sie mich zu sich holen. Ich bekäme das Zimmer der Urgroßeltern und dürfte mir die Möbel aussuchen. Ein eigenes Zimmer mit Balkon! Denn mit zwölf dürfe man entscheiden, wo man wohnen möchte. So heißt es im Gesetz. Sie sei beim Jugendamt gewesen und habe sich erkundigt. Und ich werde doch bald dreizehn. Und eins weiß ich genau: Hier möchte ich nicht bleiben! Ich habe immer einen Schilling für die Telefonzelle eingesteckt. Wenn Papa wieder durchdreht, dann ruf ich an. Er sieht weiße Mäuse. Vorgestern hat er mit dem Radiowecker nach mir geworfen, weil er dachte, auf mir sitzt eine. Ich hatte solche Angst!

      Heute am Abend kommt mein Bruder wieder. Er kommt mich ab und zu besuchen, um zu schauen, wie es mir geht. Das letzte Mal hat er gesagt, dass er mich vielleicht zu sich holt. Aber ich kann meine Eltern nicht allein lassen. Die brauchen mich ja! Trotzdem: Ich mag nicht mehr hier sein, und ich freu mich schon auf ihn. Er ist mein Beschützer, mein großer Bruder eben. Vielleicht bringt er mir wieder Schokolade mit, so wie das letzte Mal. Er hat ganz leise ans Fenster geklopft, und ich bin zu ihm hinausgeschlichen. Ich hab mich so gefreut, dass er da war. Er hat nicht auf mich vergessen! Warum muss alles so sein?

      Warum können wir nicht leben wie die „Waltons“? Die schaffen immer alles. So werde ich einmal leben! Eine kleine Farm, fünf Kinder, einen lieben Mann, mit dem ich mich gut verstehe, und alle sind glücklich. Genauso werde ich einmal leben, das weiß ich. Das schwöre ich hier und heute! Ich werde es besser machen als meine Eltern. Ich werde immer genug zu essen haben, arbeiten gehen und nie mit meinem Mann streiten! Ganz bestimmt nicht!

      Was, wenn ich von hier weggehe? Dann brauchen meine Eltern sich nicht mehr um mich zu kümmern. Vielleicht schafft es Mama dann, Arbeit zu finden. Dann muss sie mich auch nicht mit dem Moped zur Schule führen. Sie hat keine Strümpfe, und es ist immer so kalt in der Früh. Na ja. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich zu Oma gehe. Dann kann sich Mama von Papa scheiden lassen und woanders hinziehen. Sicher bekommt sie ohne mich schneller eine Wohnung mit Bad und Klo!

      Und wenn ich wirklich gehe? Wie soll ich das anstellen? Ich schreibe einen Abschiedsbrief und gehe am Samstag nicht zur Schule, sondern zur Oma. Es ist nicht weit. Aber das gäbe sicher Ärger! Nicht in die Schule gehen, geht gar nicht! Aber wenn Oma mich bei der Lehrerin entschuldigen würde, dann wäre die sicher nicht lange böse auf mich. Die Frau Lechner versteht das bestimmt. Die mag mich. Die legt sicher ein gutes Wort für mich bei meinem Klassenvorstand ein …

      Dieser Tag im Mai, an dem ich auf der Schaukel saß, die spielenden Kinder beobachtete und so unendlich traurig war, war zweifelsohne einer der wichtigsten Tage in meinem Leben. Denn an diesem Tag sollte ich eine Entscheidung treffen. Die einzig richtige. Und es war mir im zarten Alter von dreizehn so klar wie heute mit vierundvierzig, dass sich wohl alles ändern würde.

      An diesem Abend schrieb ich den Abschiedsbrief, nachdem ich mit meiner Mutter wieder einmal die Diskussion vom Zaun gebrochen hatte, sich doch von meinem Vater scheiden zu lassen. Aber wie schon so oft zuvor verwies sie auf bessere Zeiten, die kommen würden, und meinte, meinen Vater gerade jetzt nicht im Stich lassen zu können. Aber sie würde es tun, irgendwann einmal, ganz bestimmt. Dann würden wir unsere Ruhe haben. Ich schrieb also, dass ich mich entschieden hätte, zu meinen Großeltern zu ziehen. Damit sie es leichter hätte, ihr Leben zu ordnen, Arbeit zu finden, sich von meinem Vater zu trennen. Dass ich ihr alles Gute wünschte und ein braves Kind sein würde.

      Ich nahm ihr unseren Streit an diesem Abend so übel, weil ich es einfach nicht verstehen konnte, dass ich ihr nicht mehr wert war als die ständigen Ausflüchte. Ich weiß noch, dass ich mir dachte, dass ich alles tun würde, um meinen Kindern ein ruhiges Leben zu bieten. Auf gar keinen Fall würde ich bei einem Menschen bleiben, der nur Versprechungen machte und keine einzige hielt. Dreizehn Jahre lang. Bei einem Menschen, dem eine Flasche Wein lieber war als seine Familie!

      Lang lag ich in dieser Nacht noch wach, geplagt von meinem schlechten Gewissen. Es war nicht in Ordnung, dass ich meine Eltern im Stich lassen wollte. Aber es sollte ja nicht für ewig sein. Es war einfach unerträglich für mich, mit all diesen angsteinflößenden Menschen Tür an Tür zu wohnen. Und es war auch nicht mehr zu leugnen, dass wir es als Familie in der Form nicht mehr schaffen konnten. In den Augen meiner Mutter sah ich nur mehr Verzweiflung, Hilflosigkeit. Sie hatte sich selbst aufgegeben. Sie kam aus gutem Hause. Ihre Eltern waren wichtige Mitglieder der Gesellschaft, wohlhabend und einflussreich. Bildung hatte einen hohen Stellenwert in der Familie. Sie sprach mehrere Sprachen, nur die ihres neuen Landes nicht, und so fand sie keinen Anschluss, und ihr großes Potenzial blieb ungenützt. Niemals hätte Mutter ihren Eltern die ganze Wahrheit über ihr trauriges Leben erzählt, geschweige denn um Hilfe gebeten, aus Scham und falschem Stolz. War sie doch mit meinem Vater in dieses fremde Land gegangen, das um so vieles besser war als ihr Heimatland – um es zu schaffen. Mit den besten Absichten, sich hinaufzuarbeiten, um im gleichen Wohlstand wie ihre Eltern zu leben. In einem Land, das ihnen alle Möglichkeiten bot, um ihren Traum zu verwirklichen.

      Mutter hatte die Rechnung ohne Vater gemacht, der alles anders sah. Er war ein Mensch, dem es an Selbstdisziplin mangelte. Wohl war er anfangs guter Dinge, durchaus gewillt, sein Bestes zu geben, aber er konnte das, was er sich vornahm, nie verwirklichen. Zu groß war die Verführung, dem lockeren Leben zu unterliegen. Sorglos und fahrlässig frönte er all den schönen Dingen, die das Leben zu bieten hatte. Aber es war ein Drahtseilakt ohne Sicherungsseil. Er war davon überzeugt, dass seine Intelligenz ausreichte, um das lose Treiben, das er bei seiner Arbeit und in der Freizeit an den Tag legte, zu kaschieren. Langsam, aber sicher wurde er zum Alkoholiker. Trotz vieler Verwarnungen trank er am Arbeitsplatz und posaunte immer wieder hinaus, dass seine Firma ohne sein Hirn nicht überleben könnte. Wer sonst als er sollte die Maschinen entwickeln, die nach seinen Plänen gebaut wurden!

      Als ihm seine Überheblichkeit und Dummheit, die nur auf der Annahme basierte, dass wohl seine Eltern, die ebenfalls sehr angesehene Mitarbeiter dieser Firma waren, ohnedies alles richten würden, den Absturz bescherten, riss er uns mit in die Tiefe. Ich glaube nicht, dass er sich dessen bewusst war. Wie tief Menschen sinken können und vor allem wie schnell! Als ihm die bittere Realität die Augen öffnete, ihm zeigte, dass auch Arbeitgeber nicht unbegrenzt mit sich spielen lassen, verfiel er in einen Zustand der Starre. Noch mehr als vorher ertränkte er sein mahnendes Gewissen in Schnaps und Wein, nun aber nicht mehr in lustiger Gesellschaft, sondern als Abhängiger, einsam, allein, zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich meine Eltern noch leicht aus der Schlinge, die sich um ihren Hals gelegt hatte, befreien können. Aber es fehlte ihnen die Kraft. Der Mut, sich die Fehler einzugestehen und gemeinsam einen neuen, besseren Weg zu suchen.

      Für mich war die Lösung all dieser Probleme einfach und klar: aufhören zu trinken, aufhören zu streiten, arbeiten gehen, sparen und gut leben. Ich konnte einfach nicht verstehen,