Anja Kannja

Zwei mit Eins


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zu stellen. Trotz ihres Unmuts über so viel Unvernunft schwiegen sie. Als wir wieder nach Hause zurückkehrten, luden sie uns nun öfters zu sich ein. Jeden Monat ein oder zwei Tage, nicht nur in den Ferien. Sie konnten uns nicht wirklich helfen, aber sie machten uns die Zeit, die wir bei ihnen verbringen durften, unvergesslich schön. Und mein Bruder und ich sahen, dass es möglich war, eine gute und liebevolle Ehe zu führen. Sie wurden zu unseren Vorbildern. Oft wünschte ich mir insgeheim, dass sie es unseren Eltern verbieten würden, so miteinander umzugehen. Aber das konnten sie natürlich nicht.

      Damals begann unsere Mutter, über unsere Situation nachzudenken. Ich bin der Meinung, dass ihr in dieser Nacht bewusst wurde, dass es wohl besser wäre, das Weite zu suchen, bevor etwas Schlimmeres passieren würde. Aber wie immer folgte die große Versöhnung. Das Zerschlagene wurde wieder gekittet. Und es sollte noch eine Zeit lang dauern, bis sich die Ängste meiner Mutter bewahrheiteten. Das Unvermeidliche trat ein.

      Es war eine Nacht wie viele, und doch war es nicht irgendeine Nacht! Es war kalt, Schnee bedeckte die Straßen und Gassen, dicke Flocken vollführten lustige Schattenspiele im Licht der Laternen. Ruhiger, schöner Schneefall. Ich liebte Schnee! Aber wir konnten ihn nicht genießen, mein Bruder und ich, denn der Streit meiner Eltern war anders als sonst. Lauter, heftiger, impulsiver. Nagender! Unser Gefühl mahnte uns, vorsichtig zu sein, aufzupassen.

      „Dreh das Licht ab“, sagte er mit strenger Stimme. „Damit er nicht sieht, dass wir noch wach sind. Vielleicht beruhigt er sich wieder.“

      Ich gehorchte und schaltete das Licht aus. Da war es wieder, dieses Herzklopfen, das ich so hasste. Die Angst, die sich wie ein Feind in meine Glieder schlich, um mich zu mahnen: Sei auf der Hut, du bist zu klein und kannst dich nicht wehren, lauf weg, wenn es sein muss! Er ist unberechenbar! Schweigend saßen wir in unseren Betten und lauschten angespannt – vor und zurück wippend. Einfach nur so dazusitzen im Finsteren, war das Schlimmste. Eingehüllt in böse Vorahnungen, auf das Unabwendbare wartend. Das laute Kreischen meiner Mutter verhieß nichts Gutes. Sie provozierte ihn. Es war kaum zu ertragen, diese Angst und das Wissen, nichts tun zu können, wenn er auf sie losginge. Wir brauchten nicht im selben Raum wie unsere Eltern zu sein, um zu sehen, was da passierte. Unsere kindliche Phantasie trug die Bilder für uns zusammen.

      „Was meinst du, wird er ihr wehtun?“, flüsterte ich mit zittriger Stimme.

      „Ich weiß es nicht, sei still“, entgegnete mein Bruder flüsternd. „Und hör auf zu weinen.“ Das Licht der Straßenlampe verriet ihm die Tränen in meinen Augen. „Wir müssen Mama helfen, wenn sie uns braucht. Wir haben keine Zeit für dein Geheule. Reiß dich zusammen!“, ermahnte er mich.

      Aber meine Tränen ließen sich nicht aufhalten. Mein Inneres schrie: Lauf weg! Lauf einfach weg! Wie ich meinen Vater in diesen Momenten hasste! Und meine Mutter erst, weil sie einfach nie den Mund halten konnte. Immer legte sie noch eins drauf, und noch eins.

      Ein dumpfer Schlag, dann hörten wir sie schreien. Mein Bruder sprang auf.

      „Nicht! Lass mich! Du tust mir weh!“, schrie sie.

      Mein Bruder lief rastlos im Zimmer auf und ab, seine Fäuste geballt vor Zorn. Er war gerade mal elf Jahre alt, auf mich aber wirkte er wie ein Mann!

      „Ich hab es satt“, zischte er zornig. „Dieses Schwein! Komm, wir holen Hilfe!“

      „Wie denn?“, weinte ich leise.

      „Komm, wir klettern aus dem Fenster. Wir laufen zur Telefonzelle und rufen die Polizei! Die werden es dem Schwein schon zeigen!“

      Hastig zog er sich seinen Pullover über den Kopf. Mein Herz schlug noch lauter. War es denn so ernst?

      Oh mein Gott, dachte ich, anziehen, ich muss auch was anziehen! Noch bevor ich diesen Gedanken fertigdenken konnte, hörten wir wieder Schreie. Wir wussten, es galt, keine Zeit zu verlieren, sonst würde was Schlimmes geschehen. Panik zeichnete unsere Gesichter. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, öffnete mein Bruder das Fenster und sprang ins Freie.

      „Komm schon, na mach!“, hörte ich ihn rufen. „Komm, trau dich, wir müssen schnell machen. Spring, ich fang dich auf.“

      Ich war auf das Fenster geklettert.

      „Ich trau mich nicht, es ist so hoch!“, flehte ich meinen Bruder an.

      „Doch, du musst!“, befahl er.

      Also überwand ich mich und ließ mich langsam hinab, an der Hausmauer entlang, um sicher in seine Arme zu gleiten. Der feste Boden unter den Füßen gab uns die Gewissheit, laufen zu können. Wir rannten, so schnell uns unsere Beine trugen. Angetrieben von Panik und Verzweiflung.

      „Schneller“, keuchte mein Bruder und streckte mir seine Hand entgegen, um mich zu ziehen, weil ich nicht so schnell laufen konnte wie er. Meine Füße schmerzten. Erst als ich runtersah, wurde mir klar, dass wir keine Schuhe anhatten. Barfuß hetzten wir durch die menschenleeren, mit Schnee bedeckten Straßen, über den Bahnübergang, hinunter zu der Seitengasse, an deren Ende die Telefonzelle stand, die unserer Mutter das Leben retten würde.

      Ist es nicht schon zu spät, schossen mir die Gedanken durch den Kopf.

      „Lieber Gott, mach, dass wir es schaffen“, hörte ich mich plötzlich beten.

      Mein Bruder hatte einen Schilling aus der Hosentasche gezogen, ihn in den Automaten geworfen und gewählt.

      „Helfen Sie uns, schnell“, schrie er nach Luft ringend, als sich die Polizei am anderen Ende der Leitung meldete.

      „Er bringt sie sicher um! Bitte kommen Sie und helfen Sie meiner Mutter!“ Zügig erklärte er, wo wir zu Hause waren, um kurz darauf erleichtert den Hörer einzuhängen.

      „Komm, wir müssen zurück, die Polizei kommt gleich!“

      Während wir wieder durch die Nacht liefen, barfuß durch den Schnee, alleingelassen mit unserer Angst, wussten wir, dass es richtig gewesen war, Hilfe zu holen. Endlos weit schien der Weg, den wir zurücklegen mussten. Ob wir schnell genug gewesen waren? Und wenn ja: Ob sich nun wohl was ändern würde?

      In dieser Nacht wurde unser Vater zum ersten Mal in ein Krankenhaus eingeliefert. Ich werde diesen Anblick nie vergessen. Die Angst, die ich um ihn hatte, als ihn die uniformierten Männer mit Gewalt aus der Wohnung zerrten. Warum hatte ich Angst um ihn? Ich war doch froh, dass sie uns halfen, die Polizisten. Wenn ich ihn aber doch so lieb hatte!

      Lautstark schrie er um sein Recht: „Das können Sie nicht mit mir machen, ich werde Sie verklagen!“ Er drehte sich um, und ich sah in diese hasserfüllten, drohenden Augen. Wie ein wildes Tier versuchte er, um sich zu schlagen.

      Außer sich vor Wut schrie er meine Mutter an: „Ich bring dich um, du Schlampe! Ich bring dich um!“

      Als meine Mutter, gezeichnet von dem Erlebten, die Eingangstür schloss, war es, als hätten wir den Dämon vertrieben. Leiser wurden die Schreie, bis sie schließlich verstummten. Er war weg. Gott sei Dank!

      Stille Betroffenheit legte sich über unsere Familie. Wohl war es für uns schrecklich zu wissen, dass unser Vater nun im Krankenhaus war, aber wir spürten auch Erleichterung und Hoffnung. Nun, da die Öffentlichkeit eingeschaltet worden war, musste sich doch was ändern. Und es sah tatsächlich so aus, als könnten sich meine Eltern für einen Neuanfang erwärmen. Mein Vater entschuldigte sich bei uns, meinem Bruder und mir, und versprach, sich zu ändern. Er werde sich bemühen, uns ein guter Vater zu sein. Was in dieser Nacht passiert sei, würde nie mehr geschehen. Die Scheidung, die meine Mutter unverzüglich eingereicht hatte, wurde nicht vollzogen. Eigentlich froh, aber auch ein wenig enttäuscht, weil wir unser Vertrauen verloren hatten, mein Bruder und ich, wollten wir Taten sehen. Keine Worte. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und so gaben auch wir unser Bestes.

      Doch es sollte sich nichts ändern. Die Jahre vergingen, ließen uns hoffen, dann wieder verzweifeln, und sie lehrten uns, alles geduldig zu ertragen, bis wir so groß wären, um es uns selbst richten zu können. Aber wann käme diese Zeit, und würde ich es dann auch wissen, wenn es so weit wäre? Die Zeit, diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen.

      Wir