Anja Kannja

Zwei mit Eins


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mussten wir damals die Firmenwohnung räumen, und das zog meinen Eltern den Boden unter den Füßen weg. Es war wie eine Lawine, die sie unter sich begrub und ihnen die Luft zum Atmen nahm. Im Nichts gelandet, verbrachten mein Bruder und ich die erste Woche bei meinen Großeltern, bis meine Eltern eine Bleibe für uns vier gefunden hatten. Aber ohne Geld lässt sich nun mal nichts Ordentliches auftreiben, und so mieteten sie sich im Sommerhaus eines höchst dubiosen Ehepaars ein. Zahlten eine horrende Miete, die im Gegenzug nichts zu bieten hatte, denn das Haus hatte keine Heizung. Nur vorübergehend sollte es sein. Eine Notlösung eben. Rasch wollten sie sich wieder Arbeit suchen – und ein schönes Zuhause! Aber der Winter zog ins Land, und es war der kälteste seit Jahren mit Temperaturen bis zu minus dreißig Grad. Die Eiskristalle glitzerten auf den Wänden. Wir schliefen in Schianzügen. Baden oder Duschen war nicht möglich. Wir wuschen uns in der Küche, aber auch nur so lange, bis die Wasserleitung eingefroren war. Dann musste das Wasser in Kübeln herangeschafft werden, für das der Vermieter auch noch extra verlangte. Das Geld reichte nicht aus. Nudeln, ein bisschen aufgepeppt, waren schon ein Festtagsmenü. Dabei war meine Mutter eine gute Köchin, aber was ließ sich aus nichts schon zaubern? Die Not brachte meine Eltern zum Schweigen. Hatten sie sich zuvor um alles Mögliche gestritten und geschlagen, so schwiegen sie sich nun an. Was blieb, war der unausgesprochene Vorwurf: Du bist an allem schuld!

      Ich war damals zehn Jahre alt. Es machte mir nichts aus, zu hungern, nein, ich wäre sogar arbeiten gegangen, wenn ich es gekonnt hätte. Ich war meinen Eltern nicht böse. Auch dann nicht, wenn sie sich das Leben zur Hölle machten. Weil ich dachte, es läge wohl auch an mir.

      In der Schule war ich nie gut gewesen. Sie war für mich einfach nicht wichtig, die Schule. Nur ein Ort, an dem man sich ausschlief und Zeit verbrachte, weil es eben so sein musste. Ja, ich bemühte mich zu lernen, aber ich konnte mir einfach nichts merken. Zu sehr war ich von Beginn an mit meinen Eltern beschäftigt: Was wohl wieder sein wird, wenn ich nach der Schule nach Hause komme? Worum sie sich wohl heute Nacht wieder streiten werden? Ich hatte Angst! Und die Schule war für mich eine Qual. Meine Eltern stritten sich deswegen, weil für meine Mutter Bildung so wichtig war.

      „Sie kann ja nicht lernen, weil in diesem Haus keine Ruhe ist!“, schrie sie.

      Wie die Katze, die sich in den eigenen Schwanz beißt, drehte sich dieser Kreisel aus Vorwürfen, Erniedrigungen und Hass. Trieb meine Eltern dazu, neue Gründe für einen neuen Streit zu suchen – und zu finden.

      Mein Bruder dagegen war ein guter Schüler. Er hatte einen ruhigen Start gehabt, war er doch um fünf Jahre älter als ich, und zu seiner Einschulungszeit hatte es zwischen meinen Eltern noch keine so heftigen Reibereien gegeben. Von diesem Grundstock konnte er zehren. Wohl fiel es ihm genauso schwer, mit den Eskapaden meiner Eltern zurechtzukommen, die ein stetiges Auf und Ab von Versöhnung und Streit bedeuteten, doch es gelang ihm besser als mir. Er genoss die Gunst meiner Mutter: weil er doch ein so guter Schüler und Musiker war. Während ich kläglich an den Klavierstunden scheiterte, entpuppte er sich als ein Genie. Er spielte auf seinem Bass und auf allem Möglichen, sein Talent war schier unerschöpflich. Ja, er war ein Genie, und ich liebte es, ihm zuzuhören. Aber manchmal beneidete ich ihn auch um die Aufmerksamkeit, obwohl ich spürte, dass das von mir nicht richtig war. Gönn ihm doch das Lob, er hat es sich ja verdient, dachte ich dann. Er übte und übte und bekam von allen Anerkennung. Nur von dem, der ihm wichtig war, von meinem Vater, bekam er sie nicht.

      Unser Familienlager splittete sich in zwei Hälften. Da war ich. Die Kleine, die dem Druck nicht standhielt und offensichtlich daran scheiterte. Ich wurde zu Papas Liebling, der mich stets verteidigte, sah ich ja aus wie er, lachte wie er und überhaupt – ganz der Vater!

      „Die Lehrer sind unfähig!“, brüllte er meine Mutter an. „Geh in die Schule, sprich mit ihnen, sie ist nicht dumm.“ Und meine Mutter begann, die Lehrer zu beschimpfen, was mir endgültig den Strick drehte. Meinen Bruder dagegen beachtete Vater kaum, da der sich zu unserer Mutter hingezogen fühlte. Verständlich, benützte sie ihn doch auch als ihren Beschützer und um ihn gegen den Vater auszuspielen.

      Wir waren also eine in sich zerrissene Familie, und doch waren mein Bruder und ich in Zeiten der Not immer füreinander da. Nachts, wenn wir nicht schlafen konnten, flüsterte er: „Fürchtest du dich?“

      „Ja“, entgegnete ich verstört.

      „Versteck dich unter der Decke, das hilft!“

      Und ich zog mir die Decke über den Kopf. Und tatsächlich – es wirkte. Ich hatte das Gefühl, ich wäre in einer Art Höhle, die mir Schutz bot.

      Wenn ihm meine Mutter Schokolade kaufte, teilte er sie mit mir, denn ich ging immer leer aus. Ich fiel ihm auf die Nerven, wie es halt so ist bei Geschwistern, die fünf Jahre auseinander sind, aber er brachte es nicht fertig, sich abzugrenzen, denn in Wahrheit waren wir allein und hatten nur uns. Er zeigte mir, wie ich mich beruhigen konnte, wenn mich die Angst des Nachts frieren ließ. Er drehte sich im Liegen hin und her. Unablässig. Das beruhigte ihn und wiegte ihn in den Schlaf. Ich dagegen kniete mich im Bett hin, presste die Stirn auf die Matratze, schaukelte vor und zurück. Unsere Betten quietschten im Duett, was unseren Eltern mehr als deutlich zu verstehen gab, dass wir unter ihren Streitereien litten. Aber es war nur ein neuer Grund, um aufeinander loszugehen, wie die Hähne im Ring. Mein Bruder und ich bemühten uns auszugleichen, was so schief stand, aber natürlich konnte uns das nicht gelingen.

      Ich war oft krank. Das Problem waren meine Ohren, sie wollten wohl den Streit nicht mehr hören. Die meiste Zeit des Jahres litt ich an Mittelohrentzündungen und konnte natürlich nicht in die Schule gehen. Ja, meine Rolle war die des schwarzen Schafes, das einen dicken Pelz aus Schuldgefühlen mit sich herumtrug. Wenn ich nur besser lernen würde!

      Nur beim Essen erhielt ich Lob, weil ich doch so eine brave Esserin war. Also aß ich, um meiner Mutter Freude zu machen, um ihre Anerkennung zu gewinnen. Doch das machte mich dick. Unansehnlich fett. Und so trug ich neben dem Pelz aus Schuldgefühlen auch noch einen dicken Bauch mit mir herum, der meine Schulkollegen veranlasste, mich auszuspotten. Ich wurde zur Außenseiterin und verharrte still und beharrlich in dieser Rolle, die mir wie auf den Leib geschrieben schien. Ich verdiente es ja, ausgelacht und beschimpft zu werden, weil ich doch zu dumm zum Lernen und Klavierspielen war.

      Aber ich mampfte nicht nur, wenn ich Hunger hatte oder gefallen wollte, sondern es machte mich auch ruhiger – immer wenn ich Angst hatte.

      „Na, isst die Dicke schon wieder?“, hänselte mich mein Bruder.

      „Lass mich in Ruhe, du Idiot“, pöbelte ich zurück.

      Idiot war noch das lieblichste Wort, das uns über die Lippen kam, meinem Bruder und mir, hörten wir doch tagein, tagaus nur die schlimmsten Schimpfwörter, die sich meine Eltern an den Kopf warfen.

      Die Wutausbrüche meines Vaters wurden im Laufe der Jahre immer heftiger. Längst schon wussten alle Nachbarn, wie es bei uns ablief. War ja nicht zu überhören. Als der Staubsauger dann beim Fenster rausflog, auch nicht mehr zu übersehen.

      Ich schämte mich, denn langsam nahm ich wahr, was wir eigentlich waren: Wilde, die keine Manieren hatten, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte. Nur nicht anstreifen. Rein optisch waren wir noch eine hübsche Familie, adrett gekleidet, aber der Rest war dem Zerfall geweiht! Das machte mich unendlich traurig. Trotzdem liebte ich meine Eltern. Ich hätte alles getan, um sie versöhnt zu sehen. Ich kam drauf, dass es nicht gut war, sorglos Essen ins Klo zu schütten, das zuvor teuer eingekauft worden war. Und ich sah, dass es nicht gut war, ständig neuen Alkohol für meinen Vater zu besorgen, der ihn dann wieder ausrasten ließ. Aber ich ging und holte ihm welchen. Er schickte mich zum Kaufmann, um Bier und Zigaretten zu holen. Ich war sicher noch keine sieben Jahre alt. Ich folgte und brachte ihm das Teufelszeug, um seinen Unmut nicht zu schüren. Wenn ich zurückkam, küsste er mich, und ich durfte mich auf seinen Schoß setzen, war ich doch sein Ein und Alles. Seine Einzige, sein Mausi! Was für ein elender Teufelskreis! Noch hatte mein Vater, jung und kräftig, die Energie, den wilden Mann zu spielen. Aber seine Wahrnehmung litt zusehends unter all dem. Die ersten Spuren von Krankheit begannen sich zu manifestieren, und als er eines Nachts alles kurz und klein schlug, da war für uns drei die Zeit gekommen zu flüchten.