Anja Kannja

Zwei mit Eins


Скачать книгу

und Verdrängen, im Beruhigen Beschwichtigen und Beschützen. Wir kannten Armut, Hunger, Gewalt und Vorwände. Jede Menge Vorwände, die für unsere Eltern der Grund waren, sich nicht zu trennen. Wir waren auffällig: mein Bruder zu laut und aggressiv, ich zu leise und schüchtern. Er vorlaut und hartnäckig, ich ängstlich und träge. Er räusperte sich unentwegt, ich nässte ein und war ständig krank. So schoben wir uns durch die Jahre der Einsamkeit, gefangen in einer Kindheit, in der wir nicht sein wollten, aber aus der es kein Entfliehen gab. Uns gegenüber hob unser Vater nicht ein einziges Mal seine Hand. Körperlich hatten wir von ihm nichts zu befürchten, aber war das besser?

      Als mein Bruder schließlich die erste Chance sah, die sich ihm bot, um diese Hölle zu verlassen, war er weg. Das Elternhaus seiner Freundin. Er war sechzehn Jahre alt, als er seine Freiheit erlangte. Ich war überglücklich. Endlich hatte er seinen Frieden gefunden. Aber nun war ich allein. Mein großer Bruder war weg. Ja, er hatte mich ausgelacht, wenn ich ins Bett gemacht hatte, und ich hasste ihn dafür, ab er war auch immer derjenige gewesen, der da gewesen war, wenn ich Angst gehabt hatte. Wer war nun da?

      Eine Fügung zum Guten war für mich, dass wir in diese Baracke gezogen waren. Denn diese grässlichen, jämmerlichen Menschen jagten mir eine solche Angst ein, wenn sie streitend und grölend im Hof saßen, um sich den Alkohol mit meinem Vater zu teilen, dass ich mutig wurde. In mir bäumte sich Widerwille auf. Täglich stellte ich mein Leben infrage. Es war wie eine Rebellion, die da in mir angezettelt wurde: Mach es wie dein Bruder. Er hat es auch geschafft. Ich dachte an die schönen Tage, die wir bei unseren Großeltern verbracht hatten, an meine Großmutter, die mir ihre Hilfe angeboten hatte. Ich stellte es mir so herrlich vor, gemütlich an ihrem Tisch zu sitzen und mit den beiden zu lachen und zu plaudern.

      War es mir zu verübeln, dass ich es ein für alle Mal satt hatte, vertröstet zu werden, um weiterhin Zeugin dieser kranken Verbindung zu sein? Stille Leidende in einem Drama. Wie tief konnten wir noch fallen? War es nicht schon genug? Was konnte noch kommen?

      Ich war es müde, ständig helfen zu wollen, wo es keinen Sinn machte. Und während ich in dieser Nacht so dalag, nachdem ich diesen Abschiedsbrief an meine Mutter verfasst hatte, entschied ich, all meinen Mut zusammenzunehmen und zu gehen. Die Bilder vor Augen, die mein bisheriges Leben geprägt hatten. Und irgendwie war da diese Hoffnung, so wie damals in dieser Nacht, als wir durch die Kälte liefen. Vielleicht wird jetzt alles gut? Ich gehe am Samstag zu Großmutter und Großvater, ja, am Samstag. Dann wird alles gut!

      Es war ein wunderschöner Tag, dieser Samstag, an dem ich mein Vorhaben in die Tat umsetzte. Der Himmel war so blau, als wollte er mir zeigen: Ich habe mich an diesem, deinem Tag besonders schön für dich gemacht.

      Entschlossenen Schritts verließ ich die Wohnung meiner Eltern, trat hinaus auf die Straße. Nur nicht umdrehen, dachte ich aufgeregt. Alles war still. Die Stadt schlief noch. Schnell lief ich durch die vielen Gassen, die mich nach knapp einer halben Stunde zu der Landstraße bringen würden, die mich geradewegs in ein neues Leben führen würde. Dieselbe Straße, auf der meine Eltern 1969 gegangen waren – voller Hoffnungen. Welche Ironie des Schicksals! Jetzt ging ich sie entlang, um all dem Gehofften und Geglaubten, das sich nie erfüllt hatte, zu entfliehen.

      Die Morgensonne wärmte mich, und ich erinnere mich noch, dass sich meine Aufregung legte. Ich fühlte mich so unendlich frei. Das Abenteuer rief, so wie ich es in der Kinderserie „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ gesehen hatte. Zwei ungestüme Burschen, die durch die Welt zogen. Jetzt wird alles gut!

      Dazwischen meldete sich mein schlechtes Gewissen, weil ich gerade die Schule schwänzte. Ich beschwichtigte mich selbst, denn im tiefsten Inneren wusste ich: Großmutter macht das schon. All die Tage zuvor hatte ich meinen Abschied, dieses Gehen auf der Landstraße, durchgespielt, um mir Mut zu machen, es auch wirklich zu tun. Jetzt war ich einfach nur stolz auf mich. Tapfer brachte ich einen Kilometer nach dem anderen hinter mich. Plötzlich durchfuhr mich ein beängstigender Gedanke. Was, wenn mich meine Mutter suchen würde? Sie könnte mich auf dieser Straße auflesen. Nein, so ein Blödsinn. Sie glaubt doch, ich sei in der Schule. Aber es ließ mir keine Ruhe. Und wenn sie meinen Abschiedsbrief früher liest?

      Kurzerhand entschied ich mich, die Landstraße zu verlassen und die letzten fünf der insgesamt vierzehn Kilometer durch den Wald zu gehen. Ich kannte jeden Stein auf diesem Weg, so oft waren wir ihn in all den Jahren gegangen. In der Nacht, um zu flüchten, oder am Tag, wenn es an der Zeit war, ein paar Tage mit den Großeltern zu verbringen. Ich liebte ihn, diesen leicht ausgetretenen, romantischen Waldweg. Uralte Bäume ließen ihre starken Wurzeln über ihn wachsen. Die vielen Blumen am Wegrand. Das junge Gras, das mir so saftig hellgrün entgegenlachte. Behaftet von Millionen Tautropfen, die wie kleine Diamanten in der Sonne glitzerten, als sie von einer sanften Brise angestupst wurden. Es machte mir Mut, die stille, vertraute Landschaft zu durchwandern. Ja, ich genoss es, war es doch mein großer Tag, an dem ich mich zum ersten Mal traute, das Richtige zu tun. Aber war es auch wirklich richtig? Ich verbot mir die Gedanken, die mich zum Zweifeln gebracht hätten, und zwang mich, nicht weiter darüber nachzudenken. Der letzte Teil meiner Reise führte mich über eine kleine Brücke, unter der ein Bächlein floss. Da machte ich Rast. Ich bewunderte die Blätter der Dotterblumen, die am Bachufer wucherten. Ich war glücklich. Glücklich, weil ich mich getraut hatte. Ich stellte mir erwartungsvoll die Ankunft bei meinen Großeltern vor, gespannt, wie sie wohl reagieren würden. Und so legte ich diese letzten Meter freudig zurück, in Erwartung eines guten Frühstücks, weil ich schon richtigen Hunger hatte. Ein schmaler Weg mit kleinen Kieselsteinen, die mich durch die Felder zu der Wohnsiedlung am Waldrand führten.

      Schon von Weitem sah ich die zwei überdimensional großen Pfingstrosenstöcke, die im Vorgarten des Hauses meiner Großeltern standen, und mir in Rot und Weiß deuteten, näher zu kommen. So als wollten sie mich begrüßen! Immer schon standen sie an dieser Stelle, hießen mich Jahr für Jahr aufs Neue willkommen. Es war mir so vertraut, dieses Knusperhäuschen, wie es mein Großvater so liebevoll nannte, sein Zuhause.

      Ein hübsches, kleines Haus mit einem steilen dunkelroten Dach, das einen wunderbaren Kontrast zu der weißen Hausmauer und dem dunkelbraunen kleinen Balkon im ersten Stock schuf. Alles lud einfach ein, sich dort wohlzufühlen. Immer näher kam ich, immer schneller wurden meine Schritte, die meine Freiheit bedeuteten. Gleich war ich an der Gartentür. Was sollte ich sagen? Sollte ich anläuten oder einfach reingehen? Ich läutete an, um sie nicht zu erschrecken. Meine Hände zitterten ein wenig, als ich auf die Glocke drückte, die einen so schönen melodiösen Klang hatte. Mein Herz schlug schneller, ich spürte die Aufregung, wie sie in mir hochkroch, als sich die Tür öffnete. Da stand sie, meine Großmutter, im Nachthemd. In ihrem weiß-rosa geblümten Nachthemd, das sich immer so weich anfühlte, wenn ich auf ihrem Schoß saß und mein Gesicht auf ihre Brust legte, um ihre Nähe zu genießen. Diese Frau, die immer ein Lächeln für mich hatte und an deren Seite ich mich stets geborgen fühlte. Fünfzehn Jahre war sie jünger als mein Großvater. Eigene Kinder hatte sie nie gehabt. Eine hübsche Frau. Streng, aber liebenswert. Fleißig, genau und korrekt. Ganz anders als mein Großvater, aber absolut die Richtige für ihn. Sie gab den Ton an, so wirkte es zumindest oft, aber auf eine wunderbar liebevolle und natürliche Art. „Was denkst du, Vati, könnten wir nicht?“, sagte sie immer zu ihm. Jetzt stand sie vor mir, und ich spürte, wie lieb ich sie hatte!

      „Ja, Anja!“, stieß es aus ihr heraus. „Was machst denn du hier?“ Verstört griff sie nach dem Schlüssel für das Gartentor.

      „Ist etwas passiert? Wo kommst denn du her? Bist du allein?“, wollte sie wissen, als sie über die vier Stufen zu mir an den Zaun eilte.

      „Ich bin von zu Hause weggegangen, um jetzt mal bei euch zu bleiben. Darf ich bitte reinkommen?“, brachte ich gerade noch heraus, da sich plötzlich Zweifel an meiner Entscheidung regten. Was, wenn sie alles nur so gesagt hatten, um mir Mut zu machen, mich in Wahrheit jedoch gar nicht bei sich haben wollten?

      „Na, was ist das denn für eine Frage?“, entgegnete sie warmherzig und zerschlug mit diesen Worten sofort meine Ängste. „Komm rein, wart, ich sperr schon auf!“

      In der Zwischenzeit war auch mein Großvater aufgetaucht.

      Aufgeregt