Anja Kannja

Zwei mit Eins


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Frühstück für das junge Fräulein?“

      Ungläubig, aber erfreut meinte er: „Na ja! Hungern muss bei uns keiner, nur hereinspaziert, junge Dame.“

      Und mit einer einladenden Handbewegung und einem freundlichen, wenn auch fragenden Lächeln zeigte er nach drinnen. Erleichtert über die Reaktion der beiden fiel ich meiner Großmutter in die Arme, und ohne dass ich es wollte, schossen mir die Tränen in die Augen.

      „Na, komm, mein Mädchen.“ Sie umarmte mich und drückte mich fest an sich. „Ist ja gut“, beruhigte sie mich und streichelte mir über den Kopf, „komm rein, na, komm schon. Wir gehen mal was essen.“

      Sie schob mich behutsam Richtung Treppe. „Hast du Hunger, sag schon, hast du Hunger?“

      Sie fasste mich am Kinn und schob mein Gesicht nach oben. Ich sah in ihre Augen. War so unendlich dankbar, dass ich hineindurfte, und ja, ich hatte einen riesigen Hunger. Mit Tränen in den Augen lachte ich ihr ins Gesicht: „Ich bin immer hungrig, das weißt du ja.“

      Der Bann war gebrochen. Mit tiefer Erleichterung ging ich die Stufen hinauf, hinein in dieses Haus, das für mich seit eh und je der Inbegriff von Sicherheit und Frieden war. Im Dauerbrandofen der kleinen Küche brannte schon ein wärmendes Feuer. Wie ich dieses Haus doch liebte und diese Menschen, die es bewohnten.

      „Komm, setz dich“, sagte meine Großmutter.

      Wie immer war alles ordentlich aufgeräumt und sauber.

      Das Tischtuch war glatt gestrichen, zwei Jausenbretter lagen auf dem Tisch. Meine Großmutter hatte wohl gerade für das Frühstück decken wollen, als mein Läuten sie dabei unterbrochen hatte.

      „Vati, gib ein Brett her für die Anja, ich hab ja nur zwei aufgedeckt.“

      Sie drehte sich zu mir: „So, und jetzt erzähl mal, was ist denn passiert und woher kommst du? Aber alles schön der Reihe nach.“

      Mein Großvater setzte sich wortlos zu uns an den Tisch. Als ich mit den zaghaften Worten „Na ja, ich bin heute Morgen weggegangen, weil ich es zu Hause einfach nicht mehr aushalte“ begann, wurden ihre Blicke traurig. Sie wussten wohl, dass es nichts Gutes sein würde, was ich zu berichten hatte. Gefasst hörten sie mir zu, als ich von all dem Erlebten der letzten Zeit erzählte. Von meinem Vater, meines Großvaters Sohn, der den ganzen Tag im Hof saß und mit den beängstigenden Kreaturen Unmengen an Rotwein trank, getrieben von der Wahnvorstellung, weiße Mäuse zu sehen, die ihm nachts den Schlaf raubten. Aufgefressen von der Angst, dem General, den es nur in seiner Phantasie gab, nicht rechtzeitig einen salutierenden Gruß zu entbieten. Von seinen krank gesoffenen fahlen Augen, die wie riesige Räder aus einem mausgrauen, alt wirkenden Gesicht hervortraten und in die Dunkelheit stierten. Was sie wohl alles sahen? Auf jeden Fall nichts von dem, was tatsächlich passierte. Als ich an diesem Morgen das Haus verlassen hatte, war mein Vater nur ein Schatten seiner selbst. Nichts war mehr übrig von dem einst so sympathischen, lustigen, kräftigen jungen Mann. Ein Häufchen Elend, das gebeutelt von Angst, Schweiß und Krankheit, mit dünnen Beinchen und dickem Bauch sein jämmerliches, ungepflegtes Dasein fristete. An der Seite einer Frau, die, gebrochen durch ihn, immer noch auf ihn einredete.

      „Gut, dass du gekommen bist“, meinte mein Großvater und legte seine warme, weiche Hand auf meine Schulter. Wie geborgen und sicher ich mich in diesem Moment fühlte. Wie schon lange nicht mehr! Traurig frühstückten wir und überlegten gemeinsam, wie es denn nun weitergehen sollte. Es war klar, dass ich bei meinen Großeltern bleiben würde. Aber wie nun wirklich weiter, das wussten wir alle drei noch nicht.

      Eigentlich habe ich mir noch nie überlegt, was die beiden in diesem Moment wohl gefühlt haben müssen, sie zeigten tiefes Mitgefühl und öffneten ihr Herz, um mich aufzunehmen. Welchen Schmerz durchlitt mein Großvater wohl, als es nichts mehr zu hoffen und leugnen gab, weil die ganze Wahrheit aus dem Mund eines Kindes zu seinem Herzen vordrang. Jahrelang hatte er den Verfall meines Vaters und seiner Familie mitverfolgt, statt Aufschwung und Freude zu erleben. „Ein Fass ohne Boden“, wie er es oft ärgerlich formulierte. Er hatte geholfen, wo er seiner Meinung nach helfen konnte, um zu der ernüchternden Gewissheit zu gelangen, dass alles umsonst und sein Sohn ein Versager war. Ein Säufer, der keine Zukunft mehr hatte. Taumelnd sollte er sich noch zwanzig lange Jahre durchs Leben schleppen, einen Fuß hinter sich nachziehend, weil sein Gehirn keinen geraden Gang mehr zuließ. Insgesamt sechzehnmal auf Entzug, getrieben vom niemals endenden Verlangen nach Alkohol, weil er sonst wahnsinnig werden würde! Würdelos und abwesend durch die Straßen ziehend, um am Straßenrand, von verachtenden Blicken gestraft, zu schlafen. Ohne medizinische Versorgung. Alle seine Zähne riss er sich selbst aus, und als er mit einer brennenden Zigarette einschlief, da stand sein Bett lichterloh in Flammen. Sein ganzer Oberschenkel war verbrannt. Das Fleisch wucherte aus dem Bein. So schleppte er sich durch den Tag, ertrank die Schmerzen im Wein. Die Menschen wichen ihm aus, weil er nach Urin stank, sein Körper war schwarz vor Dreck. Einmal schlugen ihn junge Burschen in einer Unterführung zusammen, weil er in ihren Augen Abschaum war. Brachen ihm seine Knochen, um ihm hundert Schilling zu entwenden. Was war übrig von diesem hochintelligenten Menschen, der einmal ein so lustiger, liebenswerter, ehrlicher Mann gewesen war?

      Das Ende eines Trinkers kommt langsam und schmerzhaft. Vaters Ende war nicht schön. Als ihn die Leberzirrhose zwei Jahre lang peinigte. Ohne Schmerzmittel. In diesem letzten Abschnitt seines traurigen Daseins bestimmte der Teufelskreis, dem er zeit seines Lebens den Vorrang gegeben hatte, sein Handeln. Trank er, hielt er es nicht aus vor Schmerzen, trank er nicht, war es dasselbe. Als sein Leben durch einen Schlaganfall endete und ich an seinem Totenbett stand, da waren seine Augen nicht friedlich geschlossen. Sie waren gezeichnet von Angst. Mein Herz tat weh. Es weinte: Papa, ich hab dich geliebt. Ich hab so oft auf dich gewartet. Ich bin so gern auf deinem Schoß gesessen. Hab es so geliebt, dein Lachen und die Art, wie du mich umarmt hast. Warum hast du dich nicht für mich entschieden? Ja, du konntest mit Mama nicht, aber warum bist du nicht einfach gegangen? Warum hast du auf mich vergessen?

      Was, wenn er damals bereits gewusst hätte, wie sein Leben einmal enden würde? An diesem verhängnisvollen Abend, als ihn die Polizisten zum ersten Mal ins Krankenhaus brachten. Als wir so voller Hoffnung in die Zukunft blickten, mein Bruder und ich! Hätte er dann auch diesen Weg gewählt? Ich weiß es nicht.

      Jetzt, wo ich hier so sitze und alles niederschreibe, drängt sich mir unweigerlich eine Frage auf. Haben wir als Erwachsene nicht an jedem Tag unseres Lebens die Wahl? Kam er jemals an diesen Punkt, an dem man sich fragt, ob das der richtige Weg ist?

      Aber die Zeit nimmt diesen bohrenden Schmerz mit sich, dieses Warum, das sich in ein „Papa, ich danke dir, dass du mir das Leben geschenkt hast!“ verändert. Was für ein Glück!

      Heute weiß ich, dass Kindheit ein begrenzter Abschnitt ist, weil man irgendwann die Chance bekommt, sich das Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu richten. Und wann immer sie auch kommen mag, diese Chance, sie kommt, und dann muss man sie nützen! Auch wenn einem die Angst „Tu’s nicht“ ins Ohr flüstert, weil man ja gar nicht weiß, was das überhaupt heißt, was das ist, ein schönes Leben. Kennt man doch nur das eine, das man bis jetzt gelebt hat. Aber es muss sein, man muss sich entscheiden. Denn es kann nur besser werden!

      Drei Stunden später wussten wir, wie es weitergehen sollte. Denn es traf das ein, was ich nie zu denken gewagt, geschweige denn gewollt hätte.

      Meine Mutter freute sich kein bisschen über meinen Entschluss. Und sie hatte meinen Abschiedsbrief nicht gelesen. Krank vor Sorge, wo ich denn sein könnte, war sie mich suchen gefahren, und Stunden später stand sie wütend vor dem Haus meiner Großeltern.

      „Komm sofort raus!“, brüllte sie. „Wie fahren nach Hause!“

      Mein Herz raste, als ich durchs Küchenfenster sah, wie sie da hysterisch vor dem Zaun herumrannte. Ich wollte nicht zurück. Ja, ich wollte bei ihr sein, aber nicht dort, wo wir wohnten. Ja, ich liebte meine Mutter, aber ich wollte auch endlich meine Ruhe haben. Und nein, ich konnte nicht mit ihr gehen. Ich heulte und zitterte, wurde genauso hysterisch wie sie.

      „Bitte, lasst mich hierbleiben“, flehte ich, allein in der Küche, meine Großeltern beobachtend, wie sie mit ihr stritten.

      „Nein,