Anja Kannja

Zwei mit Eins


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hineinkommen durfte! Und wehe, wenn es das Falsche war! Nicht mal ich, wo ich doch seine Puppe war, durfte da einen Fehler machen.

      „Alles biologisch“, verkündete er leidenschaftlich. Hob die Hand und lief mit seinem alten, schäbigen Strohhut, den er sich fest über den Kopf zog, um damit besonders komisch auszusehen, durch den Garten. „Ja! Alles biologisch!“

      An diesen geheiligten Misthaufen grenzte der Obstgarten. Unzählige Obstbäume mit allem, was das Herz begehrte. Kirschen, Zwetschgen, Äpfel, Birnen, Nüsse, alles, was gut und saftig war. Natürlich nur erlesenste Sorten! Keine Pressobstbäume! Denn man wähle genau, was man sich in den Garten pflanze, bitte! Im verstecktesten Winkel befand sich die Senkgrube. Und selbst die war zu einem Alpengärtchen umfunktioniert. Sorgsam ausgesuchte, besonders dekorative Steine, mit Edelweiß und Enzian, Schneerosen, Arnika und was weiß ich noch allem Seltenem bepflanzt. Dazwischen Minigartenzwerge und Rehe, alles harmonisch abgestimmt.

      Von Mai bis Oktober fand man meine Großeltern nur arbeitend im Garten. Man konnte sie nicht sehen, versteckt zwischen den hoch wuchernden Pflanzen, von denen jede einzelne das Herz eines Gärtners höher schlagen ließ, aber hören konnte man sie.

      „Mutti, hast du Durst? Ich bring dir was!“

      „Nein danke, Papa, aber machen wir eine Pause?“

      Sie besprachen immer alles im Garten, die zwei. Natürlich laut, versteht sich, sodass der übernächste Nachbar auch noch alles verstand, was es da so zu bereden gab. Ob sie nun Fisolen ernteten oder Zucchini, Kraut, Kartoffeln oder Suppengemüse, Kürbisse, Erbsen oder Petersilie, Schnittlauch oder Maggikraut, Ribiseln, Stachelbeeren oder Erdbeeren, all diese Gaumenfreuden fanden sich auf zweitausend Quadratmetern.

      Für mich war dieses Fleckchen Erde das Paradies! Und nun durfte ich hier sogar wohnen. Was für ein Glück! Doch immer wieder tauchte die nagende Frage auf: Ob ich es mir wohl erlauben durfte, das alles zu genießen? Aber irgendwann erlaubte ich es mir schließlich – und genoss ihn, meinen Garten Eden!

      Die Träume, die mich des Nachts oft verstört aufwachen ließen, hörten auf. Ich hatte kein Verlangen mehr, mich in den Schlaf zu wiegen, denn das übernahm nun die Pendeluhr für mich. Und ja, ich durfte auch meine Großeltern lieben, so wie ich sie immer schon geliebt hatte, ohne eines Verrats an meinen Eltern schuldig zu sein. Dazu kam, dass es für mich immer Arbeit gab, auch das brachte mich auf andere Gedanken. Ob Hasen füttern, mähen, Ribisel pflücken, Schnaps brennen, Arnika ansetzen, Kraut für den Winter schneiden. Arbeit, Arbeit, Arbeit! Und als Belohnung ein toller Ausflug irgendwohin. Eis essen, Fußball spielen auf einer Alm, wandern oder einfach nur bei einer deftigen Jause gemeinsam plaudern und lachen.

      Es war diese Harmonie, die die zwei lebten und von der ich nun ein Teil geworden war. Und ich lernte, dass es sie gab, die Liebe. Die in allen Liedern besungen wird. Meine Großeltern lebten sie in einer Schlichtheit, die man nur genießen konnte. Ihr Geheimrezept dafür war Humor. Kein Wunder also, dass ich die ersten schulischen Erfolge zu verzeichnen hatte. Was mich selbst am meisten wunderte. War es dieses ruhige Leben, das den Erfolg mit sich brachte? War ich gar nicht so dumm, wie ich immer gedacht hatte? Den ersten Einser auf eine Mathematikschularbeit konnte ich einfach nicht glauben. Welcher Wandel sich doch in meinem Leben vollzogen hatte! Die Schule, der Ort, an dem man sich ausschläft? Den man halt besucht, weil es so sein muss? Das war einmal.

      Ich war die längste Zeit ein Sonderling gewesen. Die Dicke, die keiner mag. Die man verspottet, auslacht und ignoriert. Ich weiß noch, dass ich meine Mitschüler stets verteidigt, freigesprochen hatte, wenn sie mich lächerlich gemacht hatten. Sie wussten ja nicht, wie ich lebte und warum ich so war, wie ich eben war. Komisch. Ich war die Einzelgängerin, die bei schulischen Veranstaltungen, die etwas kosteten, nie dabei war, weil wir das Geld nicht hatten, und plötzlich war alles anders. Ich durfte auf Landschulwoche mitfahren. Die mit Abstand genialsten Tage meines damaligen Lebens. Meine Mitschüler waren richtiggehend irritiert. Da war plötzlich eine Anja, die lachte, Scherze machte. Wir hatten Spaß, und da fiel es mir so richtig auf, wie schön es war dazuzugehören, denn das hatte ich all die Jahre zuvor gar nicht erst angestrebt. Auch die Einstellung meiner Lehrer mir gegenüber änderte sich. Schließlich hatten sie nun auch eine Ansprechperson, die meine Interessen vertrat, die ein gepflegtes Erscheinungsbild hatte und freundlich war – meine Großmutter. Mit der man ein Problem sachlich und in Ruhe besprechen konnte. Das stimmte die Lehrer mir gegenüber verständnisvoller. Mein Klassenvorstand, der mich nicht mochte, musste einlenken und hörte auf, bei meinen mündlichen Prüfungen gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. So als wäre ein Fünfer die einzige Note, die ich verdiente. Was mir enorme Erleichterung verschaffte. Ich besserte mir alle Noten aus.

      Meine Großeltern stellten für mich eine Diät zusammen. Kauften mir ein Fahrrad und Laufschuhe. Und von da an wurde gelaufen, Rad gefahren, das Abendessen wurde gestrichen, und schon bald verlor ich meine Schutzhülle. Sechzehn Kilo nahm ich in zwei Jahren ab und fühlte mich besser denn je. Endlich passte ich in modische Kleidung, um auch in diesem Punkt bei meinen Freundinnen keine Probleme mehr zu haben. Wie unglaublich schön, ganz normal zu sein! Einfach nur leben und sich um nichts Existenzielles kümmern müssen. Kein Streit, keine Gewalt, viel Spaß und noch mehr Geborgenheit. Meine Großeltern gaben mir ein richtiges Zuhause, und ich war ihnen dankbar dafür!

      Kein einziges Mal kam es vor, dass meine Großeltern, ohne mir eine Nachricht zu hinterlassen, fortgingen. Auf dem Tisch lag immer ein Kärtchen, auf dem stand, wo sie gerade waren. „Hallo, Puppe“, konnte ich dann lesen, und ich wusste, ich gehörte dazu. Alles wäre perfekt gewesen, wären meine Eltern dabei gewesen!

      Meine Trauer um sie schlug um in Hass. Damit tat ich mich wesentlich leichter. Ich sah die vielen Unterschiede, die es im Leben meiner Großeltern und dem meiner Eltern gab. Beinahe täglich hörte ich von meinen Großeltern, was meine Eltern nicht alles falsch gemacht hätten. Heute sehe ich vieles mit anderen Augen, zumal ich erst jetzt weiß, dass meine Mutter den Abschiedsbrief nie gelesen hatte und eigentlich alles ein eigennütziges Spiel meiner Großmutter gewesen war. Aber damals tat es mir weh, wenn die beiden schlecht über meine Eltern sprachen, auch wenn ich ihnen insgeheim recht geben musste. Ständig in meiner Gefühlswelt hin und hergerissen, zwang ich mich, alles zu verdrängen. Das ging so weit, dass ich einmal auf die Frage, wo denn meine Eltern seien, antwortete: „Die sind tot, ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen!“ Erst als ich alle sterben ließ, fand ich meinen Frieden. Ja, es war ein schweres Jahr, dieses erste. Aber es war auch ein gutes Jahr. Meine Mutter sah ich nur ein einziges Mal. Sie kam in die Schule. Ich wäre ihr liebend gern um den Hals gefallen und hätte ihr gern freudestrahlend von all den schönen Dingen erzählt. Wie gut es mir ginge und wie sehr ich sie vermisste, aber ich konnte es nicht. Kühl und reserviert stand ich vor ihr, aus Angst, sie könnte mir all das wieder wegnehmen. Aus Furcht, ich müsste zurück in diese furchtbare Welt, aus der ich gegangen war. Sie sagte mir damals, dass sie die Scheidung eingereicht hätte, sich eine Wohnung suchen würde, und dann könnte ich wieder nach Hause kommen. Unfreundlich wies ich sie ab: „Das glaub ich dir nicht. Mach mal, dann werden wir schon sehen.“ Enttäuscht ging sie damals aus meinem Leben. Erst zwei Jahre später sah ich sie wieder. Da hatte sie es geschafft. Stand auf eigenen Beinen. Was mich heute noch freut angesichts all dessen, was sie erlebt hatte! Aber damals hatte es für mich keine Bedeutung mehr.

      Das erste Jahr war um, und es ging um die Frage, was ich denn werden wollte. Krankenschwester, das wäre es gewesen. Doch ich dachte noch immer, dass ich zu dumm für eine weiterführende Schule sei. Also wählte ich ohne zu zögern meinen Traumberuf Nummer zwei: Köchin und Kellnerin. Meine Großeltern entschieden, mit mir in eines der besten Restaurants der Umgebung zu fahren, um mich dort vorzustellen. Es war alles so einfach! Keine verstohlenen Blicke, keine Abneigung, aufgeschlossene Menschen, die mir entgegengingen, wo ich auch hinkam. Meine Großeltern waren zwei ausgesprochen gut situierte Leute, die sich gut kleideten, immer einen perfekten ersten Eindruck vermittelten und auch sonst kein nennenswertes Problem hatten. Sie waren wohlhabend, da sie es unter anderem verstanden, am richtigen Platz zu sparen. Ich lernte viel von ihnen. Es waren Welten, die ich da an Veränderung erlebte. Ja, es war wie in einem Zeugenschutzprogramm, in dem einem eine völlig neue Identität gegeben wird. Nichts