Gaby Beiersmann

Yoga rette sich wer kann


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auch ganz unterschiedlichen Ausdünstungen? Eine grausame Vorstellung, die Luna eine Gänsehaut bereitete.

      Wie schnell konnte man beim Badeurlaub an Strand oder Pool schließlich die Liege wechseln, das Handtuch verrücken oder das Weite suchen? Wie gut ließ sich beim Spaziergang mit dem Hund im Wald ein einsames Eckchen finden? Und wie gut sind doch die Menschen erst im Skiurlaub eingehüllt? Und wie luftig ging es schließlich im Radurlaub zu oder beim Wandern durch die herrliche Bergfrische? Aber hier? Hier, so befürchtet sie, würde es in jeder Hinsicht kein Entrinnen geben.

      Sie analysiert rasch die Belüftungssituation im Raum und seufzt erleichtert auf: Eine riesige freundliche Fensterfront öffnet den Raum in Richtung Meer. Wahrscheinlich galt es jeweils den letzten Atemzug der Meditationsübung abzuwarten, bevor ihr süßes Häuschen oder der Strand wieder Rückzug bieten konnten. Und wenn nun alle anderen Mitglieder im Kurs ebenso krasse Charaktere wie Agnes und Sabine waren? Sie wirft ihrer Freundin Maggie einen Blick zu. Diese grinst aufmunternd, was Luna ein wenig beruhigt. Ach ja, auf wen auch immer sie nun treffen würden, das gemeinsame Erleben würde sie sicher noch zu humorvollen Erkenntnissen führen. Das ist für Luna in diesem Augenblick ebenso sicher wie auch tröstend.

      Sabine, die sich direkt die Matte neben Diana ausgesucht hat, macht den Anfang. Weit gegrätscht auf der Matte stehend, schüttelt sie mit ihrer unglaublich atlethischen Figur abwechselnd den linken und den rechten Fuß aus, ganz so wie ein Profi-Fußballer, der sich für das Spiel warm macht. Dabei fährt sie sich ein wenig nervös mit der Hand durch den Bürstenschnitt und berichtet in schönstem rheinländischen Dialekt, dass sie neunundreißig Jahre alt ist, eigentlich nicht regelmäßig Yoga praktiziert, aber kein Jahr verstreichen lässt, ohne einen Yogaurlaub bei Diana zu buchen.

      Agnes schließt sich direkt an und macht es kurz. Sie kommt aus Unna und braucht einfach Abstand von ihrem Büroalltag. Ende der Durchsage. Mehr erfährt die Runde nicht, was ganz nach Lunas Geschmack ist.

      Etwas verschüchtert mit nach unten gesenktem Blick macht Marion aus Ostfriesland weiter. Mit kaum hörbarer Stimme erklärt sie, dass sie sich auf Yoga freut, sich aber wegen des Essens sorgt, da sie keine Fructose verträgt. Diana nickt ihr verständnisvoll zu und blickt dann 'rüber zu Pia. "Puuh, eine düstere Aura", denkt Luna.

      Pia ist sehr dünn und wirkt ausgezehrt. Unter ihren Augen machen sich tiefgraue Schatten breit. Sie berichtet in aller Kürze, dass sie aus Osnabrück kommt und gerade eine Meniskus-OP hinter sich hat. Luna zwingt sich, schnell alle weiteren über Pias womöglich düsteres Leben aufkommenden Vorstellungen aus ihrem Kopf zu vertreiben.

      Mit fröhlicher Stimme und einem ansteckenden Lachen macht Barbara aus Frankfurt weiter. Barbara erklärt, dass sie sich ebenfalls einmal im Jahr eine besondere Belohnung gönnt. Im vergangenen Jahr war es der Trommelkurs in Marokko, davor Eiswandern auf Island und nun müsse es einfach das Kontrastprogramm - Yoga auf Sylt - sein.

      Susanne aus dem Allgäu hat warme Augen und trägt ein Kopftuch über zwei geflochtenen Haarzöpfen. Luna stellt sich vor, dass sie von einem Bauernhof kommt und gerade die Kühe gemolken hat, als Susanne Preis gibt, dass sie Juristin und gerade erst mit dem Flugzeug gelandet ist. Mit abgehetzt klingender Stimme bedauert Susanne, dass ihre Freundin, die Staatsanwältin, kurzfristig absagen musste.

      Dann ist Julius an der Reihe, das einzig männliche Mitglied der Truppe. Luna schätzt ihn auf Mitte bis Ende zwanzig. Er ist durchaus eine attraktive Erscheinung, hochgewachsen, schwarzes dichtes Haar, Drei-Tage-Bart und kommt aus Hamburg. Luna hat gesehen, wie ihn Nora, die sich sogleich als seine Mutter vorstellt, zuvor in den Raum geführt hatte. Julius ist blind, was die Gruppe betreten mit einem kurzen Schweigen zur Kenntnis nimmt. Ein Quotenmann und dann auch noch blind. Lunas wildeste Gedanken wollen gerade wieder mit ihr durchgehen, als Julius Mutter in der beinahe ehrfürchtigen Stille das Wort ergreift. "Ihr wundert euch sicher und fragt euch gerade, was macht ein Blinder hier in einem Yoga-Kurs auf Sylt?" Die Stille scheint noch stiller zu werden. "Nun, ich will es euch gerne verraten: Wenn einem Menschen ein Sinnesorgan nicht zur Verfügung steht, dann versucht der Körper automatisch, dieses Defizit mit den anderen Sinnen auszugleichen. Diese Kompensation lässt sich durch gezieltes Wahrnehmungstraining soweit ausbauen, dass die fehlende Sinnesfunktion beinahe vollständig ersetzt werden kann."

      Julius Miene ist während der Ausführungen gänzlich unbewegt. Luna findet, dass er einen richtig guten Pokerspieler abgeben würde - wenn er denn sehen könnte. Nora hat die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Sternensaal. Gebannt hängen die Frauen an ihren Lippen. Eine Mutter, die für ihren erwachsenen Sohn spricht, der zwar blind ist, aber doch wohl reden kann, oder? "Yoga ist für den Julius das perfekte Wahrnehmungstraining. Alle Sinne sind angesprochen, das Gleichgewicht wird ebenso trainiert wie alle Muskeln und Bänder. Und die Insel Sylt ist für ihn als Stadtmensch das perfekte Kontrastprogramm. Die Geräusche sind hier vollkommen anders und das eröffnet ihm ein weites Spektrum neuer Erfahrungen." Nora hat ihre Ausführungen beendet. Es herrscht immer noch andächtige Stille. Keiner mag etwas sagen.

      "Ilka! Möchtest Du fortfahren?", fordert die Yogalehrerin daher ohne weitere Kommentierung die Frau auf, die gleich neben Julius sitzt. Ilka, so erfährt die Runde, ist Kellnerin aus Berlin, die sich gerade von ihrem Freund getrennt hat und sich wie sie sagt in einer Umbruchphase befindet. Auch ihr nickt Diana verständnisvoll zu.

      Neben ihr hockt Heike aus Hamburg. Heike muss weit über fünfzig sein, ist aber eine außergewöhnliche Erscheinung. Strahlendes Gesicht, lange blonde Haare, mit nur wenigen Silbersträhnen durchzogen und eine bombastische Figur. Heike sagt, dass sie gerade ihre Ausbildung zur Yogalehrerin macht.

      Und dann ist da noch Mona aus Thüringen. Sie hockt in einem blütenweißen Nicky-Trainingsanzug, der ihrer Figur hervorragend schmeichelt, auf der Matte und erscheint wie die Neuauflage von Barbie mit kurzem Haar. Schlank, wunderschön, warme Stimme. Einfach bezaubernd. Im Schneidersitz umfasst sie jedoch mit ihrer rechten Hand ihren linken Knöchel. Luna schaut verstohlen an diese Stelle, die Mona verdeckt und schämt sich sogleich dafür, als Mona weiter ausführt, dass sie sich gerade von einem lebensbedrohlichen Unfall erholt und diese Reise von ihrer Familie geschenkt bekommen habe.

      Mit Martina aus Nürnberg geht die Vorstellungsrunde weiter. Sympathische Erscheinung, geschätzte Endvierzigerin in topgepflegtem Zustand, körperlich und was das Outfit betrifft. Sie berichtet, dass sie schon ihr ganzes Leben lang sportsüchtig und gerade dabei sei, durch Yoga einen Weg zu mehr Gelassenheit zu finden, indem sie lerne die eigenen körperlichen Grenzen anzuerkennen.

      Dann sind Maggie und Luna an der Reihe. Maggie macht es kurz. Sie stellt sich als Freiberuflerin aus dem Münsterland, Natur- und Sportbegeisterte vor, die Yoga vor allem von DVDs kennt. Luna ergänzt ihren Part noch um den Faktor Hundeliebhaberin und beide machen mit ihren Statements vor der Gruppe keinen Hehl daraus, dass sie diese Yogawoche als gemeinsamen Urlaub erleben wollen. Daraus, so denkt Luna, sollen doch die anderen selbst folgern oder eben nicht, wie wichtig ihnen die Gruppe ist.

      „Pipi machen wir jeweils nach unseren Asanas, also nach unserer Übungsreihe und vor der Abschlussmeditation“, erklärt ihnen ihre Yogalehrerin, die sich mit „Diana Lóna“ vorgestellt hatte, nun zum Abschluss ihres zwanzig-minütigen Einführungsmonologs. Maggie und Luna schauen sich bedeutungsvoll an. Körperliche Entleerung auf Kommando – na, ob das ihr Ding ist?

      Diana erfüllt auf den ersten Blick jedes Klischée, das Maggie und Luna über Yogalehrerinnen kennen: Po-langes, leuchtend rotes, mit Pflanzenfarbe gefärbtes Haar, chice Gymnastikkleidung im Zwiebellook, zwei Paar Socken übereinander getragen. Gleich neben ihrer Yogamatte liegt eine Jutetasche, aus der sie CDs, Laptop, eine Stoppuhr, ein Glöckchen, die Teilnehmerliste und weitere Zettel auspackt. Aus dem Inneren der Tasche luken außerdem vollwertige Gewürze heraus. Die Haut ist braungebrannt. Wie kann es auch anders sein, denn schließlich hieß es, Diana sei das ganze Jahr auf den schönsten Inseln der Welt unterwegs, um Yoga zu unterrichten.

      Das Gesicht, und das kommt Maggie und Luna gleich vom ersten Augenblick an merkwürdig vor, ziert ein auffälliges, permanentes Gute-Laune-Lächeln. Keine andere Gefühlsregung scheint in ihrer Mimik Platz zu haben. Die Mundwinkel gleichmäßig von links nach rechts jeweils bis an die Ohrläppchen gezogen, doziert Diana, demonstriert Übungen,