Peter Rogenzon

Verbotene Zone


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schlugen die Flammen hoch in den Himmel, und so konnte auch Gott nicht verborgen bleiben, dass man seine „zweite Kreuzigung“ gesühnt hatte: Kein Jude war übrig geblieben.

       Am nächsten Sonntag in der Stadtpfarrkirche wusste der Priester genau, was er zu sagen hatte: Der Ausbruch des Feuers war für ihn das erwartete göttliche Strafgericht, mit dem die Juden für ihren Frevel gebüßt hatten.

      Hier endet die Überlieferung der Ereignisse, und das Schicksal des Ritters und seiner Nachkommen verliert sich im Nebel der Geschichte.

      Die Wallfahrtskirche aber, die damals zur Sühne errichtet worden war, überdauerte die Jahrhunderte und Jahr für Jahr pilgerten die Gläubigen zu diesem Gnadenort, um das Gelübde ihrer Vorfahren zu erfüllen. Und sie betrachteten dabei die vielen Bilder, auf denen die Hostienschändung und das folgende göttliche Strafgericht dargestellt waren.

      Erst vor wenigen Jahren nahmen Kunstbeflissene, die die Kirche besichtigten, Anstoß an den Bildern. Und tatsächlich geschah etwas, was man nur ganz selten miterleben kann: Die Kirche zeigte 50 Jahre nach dem Holocaust, den sie durch ihren Antisemitismus mit verschuldet hatte, ein Einsehen und ließ die Bilder so übermalen, dass der Hostienfrevel nun nicht mehr den Juden, sondern ganz allgemein Übeltätern zur Last gelegt wurde.

      Ob einmal eine Kirche errichtet wird zur Sühne für all das, was man den Juden angetan hat?

      5. Das Wunder

      Wie muss man eigentlich beschaffen sein, wenn man den Beruf eines Pfarrers ergreift? Betrachten wir hier einmal diejenigen, die sich wirklich aus Berufung dafür entschieden haben, „Arbeiter im Weinberg des Herren zu werden“, wie die Kirche in der ihr eigenen Sprache zu sagen pflegt. Sind diese Menschen nicht ein wenig naiv, wenn sie glauben, dass sie ihren Beruf ein Leben lang ausüben können, ohne jemals an der Existenz Gottes zu zweifeln? Auch wenn ihnen ihr Glaube in jungen Jahren als völlig unerschütterlich erscheint, hält doch das Leben für sie Schicksalsschläge und andere Überraschungen bereit, die alles Bisherige über den Haufen werfen: So ist es bei einem katholischen Priester oft nur eine kleine Frau, die ihn in unlösbare Konflikte mit der Amtskirche bringt. Manchmal kann es aber auch passieren, dass jemand nur so da sitzt, über seinen Gott nachdenkt und sich beispielsweise fragt: Bin ich vielleicht nur Christ, weil ich in Bayern geboren und so erzogen wurde, wie es hierzulande eben üblich ist, und wäre ich nicht mit derselben Überzeugung Moslem, wenn ich in Damaskus aufgewachsen wäre? Und wenn es schon Moslems, Buddhisten, Christen usw. gibt: Ist das nicht Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch eigentlich überhaupt nichts weiß und nur Sehnsucht danach hat, sich in seinen Nöten an ein göttliches Wesen wenden zu können? So denkt manch einer wie jener Dichter:

       Oh Gott!

      Klapperstorch und Osterhase,

      Krampusse und Nikolase –

      Alle sind sie nur erfunden,

      Sind mit der Kindheit mir entschwunden.

      Und Lieber Gott, was ist mit dir?

      Bist du noch da? Dann zeig es mir!

      Und wenn Gott dann kein Zeichen gibt: was tut ein Pfarrer, wenn er Zweifel hat?

      Genug der Vorbemerkungen! Schauen wir uns doch einmal an, wie es einem jungen Pfarrer in Schatzburg ergangen ist. In der dortigen alten gotischen Kirche steht eine der „schönen Madonnen“, wie der Fachausdruck für die vollendeten Meisterwerke aus der Blütezeit jener Kunstperiode lautet. Was das Besondere an der Schatzburger Madonna ist: Sie weint an Mariä Empfängnis. Und deshalb pilgern an diesem Tag Tausende von Gläubigen zu ihr, um zu schauen, ob sich das Wunder wiederholt. Für den Fall, dass die Madonna einmal nicht weinen sollte, gibt es die schlimmsten Prophezeiungen: Krieg, Hunger, Seuchen, Krisen...

      Besonders fromme Pilger kommen sogar zu Fuß aus Polen, weil ihre Vorfahren hier einmal ihr Geld als Erntehelfer verdient hatten.

      Wieder einmal nahte Mariä Empfängnis: Der ganze Ort war in Aufregung, denn jeder war in irgendeiner Form an der Gestaltung des Fests beteiligt. Der katholische Frauenbund schmückte den Altar, der Gartenbauverein stellte am Ortseingang ein großes Tor aus Blumen auf, die Feuerwehr richtete etliche Wiesen als Parkplätze ein... Kurzum: kaum einer stand abseits. Am aufgeregtesten war der junge Pfarrer, der nun zum ersten Mal die große Messe feiern sollte. Er war einer derjenigen, die sich ihren Glauben bis ins Erwachsenenalter so bewahrt haben, wie er ihnen von den Eltern und im Religionsunterricht beigebracht worden war. Daran hatte letztlich auch das Theologiestudium nichts geändert, sondern die intensive Beschäftigung mit den kirchlichen Lehren hatte sogar noch zu einer Vertiefung seiner religiösen Überzeugungen geführt. Der junge Pfarrer hatte daher auch keinen Zweifel daran, dass er an einem echten „Gnadenort“ tätig war, was er dementsprechend natürlich als besondere Gnade Gottes empfand.

      Wie es bei Wundern halt einmal so ist: Es gab auch hier rational denkende Wissenschaftler, die mutmaßten, wie das Wunder von Schatzburg zu erklären sei: Sie meinten beispielsweise, die vielen Menschen in der kühlen Kirche würden ziemliche Mengen von Feuchtigkeit ausdünsten und davon würde sich ein größerer Teil an der Madonna niederschlagen, was mit der Bemalung zu tun haben könnte. Der junge Pfarrer hatte dies in einer Predigt vor dem großen Festtag als „Atheistengewäsch“ bezeichnet und darüber geklagt, dass in unserer aufgeklärten Zeit viele Menschen einfach nicht an Wunder glauben wollten, auch wenn sie diese mit eigenen Augen sehen würden. Wie seine Vorgänger hatte auch er es abgelehnt, die Madonna von Experten genauer untersuchen zu lassen:

      „Die Madonna gehört in die Kirche, nicht aber in die schmutzigen Hände von Ketzern und Skeptikern.“ Mit diesen markigen Worten beendete er seine Predigt.

      An Mariä Himmelfahrt läuteten wieder einmal alle Glocken und riefen die Gläubigen zum Gottesdienst. Tausende strömten herbei. Weil die Kirche den Ansturm gar nicht fassen konnte, standen die meisten draußen und verfolgten an den Lautsprechern den Ablauf der Messe.

      Der junge Pfarrer, der sich zur würdigeren Gestaltung des Ereignisses zwei frühere Kommilitonen zum Konzelebrieren eingeladen hatte, stand am Altar im Nebel des Weihrauchs, der aus der Schar von Ministranten aufstieg. Unverwandt starrte er auf die Madonna, die mit ihrem Kind über dem Altar thronte und kühl – oder sollte man sagen: entrückt – auf ihn herab lächelte: von Tränen keine Spur.

      Der Pfarrer hatte zwei Predigten vorbereitet je nachdem, ob die Madonna weinen würde oder nicht. Nun also befasste er sich mit den vielen Bedrohungen, denen die Menschen ausgesetzt seien und warf die Frage auf, welche von diesen sich nun nach dem Ausbleiben des Wunders realisieren würde: Da helfe nur noch beten, beten und nochmals beten, sagte er zum Schluss. Die Menschen waren bedrückt und gingen – Gebete murmelnd – in einer langen Schlange an der Madonna vorbei, um zu schauen, ob nicht vielleicht doch eine Träne...

      Im nächsten Jahr brach tatsächlich eine große Wirtschaftskrise über das Land herein, die auch den einzigen größeren Arbeitgeber in Schatzburg mit in den Abgrund riss. Und sogar die überregionalen Zeitungen berichteten darüber, dass diese Katastrophe von der „Jungfrau von Schatzburg“ voraus gesagt worden sei.

      Inzwischen arbeitete der junge Pfarrer an einem Buch mit dem Titel: „Das Wunder von Schatzberg“. Er durchforschte die alten Aufzeichnungen der Pfarrei, in denen genau aufgezeichnet war, wann das Tränenwunder stattgefunden hatte und wann es ausgeblieben war. So hatte sich beispielsweise der 2. Weltkrieg dadurch angekündigt, dass die Jungfrau nicht geweint hatte.

      „Merkwürdig!“ dachte der junge Pfarrer: „Eigentlich hätte es doch umgekehrt sein müssen: Warum weint die Gottesmutter nicht gerade dann, wenn sie damit eine Katastrophe ankündigen will?“

      Noch merkwürdiger kam der Pfarrer aber vor, dass die Jungfrau im Verlauf der Jahrhunderte langen Geschichte bei zwei seiner Vorgänger keine einzige Träne vergossen hatte. Das Volk führte das darauf zurück, dass die Gottesmutter die beiden nicht leiden konnte, und so hatte man im Lebenswandel der beiden so lange gesucht, bis man