Andreas Bernrieder

IHP Last Hope: Epicinium


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Zivilisten: 467 – Zahl durch Soldaten getöteter Zivilisten: 389‘ 467, mehr als acht Mal so viele Überlebende.

      Naomi war überzeugt, dass ihr Plan der Einzige war, der einen so hohen Anteil an Zivilisten rettete. Die Pläne ihrer Mitschüler waren bei weitem nicht an ihr Ergebnis herangekommen, aber wie sie befürchtet hatte gereichte ihr das nicht zum Vorteil, nein die anderen sahen sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. In einigen blitzte der Zorn, der Hass, die Wut, in anderen die Angst. Sie war zu radikal gewesen.

      Sie drehte sich zum Professor, wartete auf die Erlaubnis auf ihren Platz zurück kehren zu dürfen, aber Kirginja sagte nichts. Er hatte seine Hände verschränkt, während die Finger aufeinander klopften und schien in tiefen Gedanken versunken. Er regte sich selbst dann nicht, als die Schulglocke ertönte und die ersten Studenten den Klassenraum verließen. Naomi konnte ein paar Gesprächsfetzen auffangen. „Massakriert die Leute, die sie schützen soll.“ „… genau wie ihre Mutter“ „sollte nicht mit uns studieren dürfen.“ Als letzte verließ Naomi den Raum, ihre Schultern niedergedrückt von dem Gewicht ihrer Sorgen. Sie bemerkte nicht, dass Professor Kirginja sich regte und ihr einen langen, nachdenklichen Blick hinterherwarf.

      Zwischenspiel: Die Wächter

      Schulter an Schulter standen sie dort und blickten in die Dunkelheit. Rücken an Rücken standen ihre Kameraden und blickten ins Licht. So bildeten die Wächter eine der Barrieren zwischen den zwei Teilen des Schiffes.

      Dem Teil der Lebenden und dem Teil der Toten.

      Die stillen Wächter waren zu erkennen an ihren Uniformen. Sie alle trugen eine Uniform, so schwarz, wie das All, das die IHP Last Hope umgab. Dieses Schwarz wurde gebrochen, von der Insignie, die strahlend weiß auf ihrer rechten Brust schimmerte. Auf dem weißen Grund lugte ein schwarzes C hinter der grauen Silhouette der Last Hope hervor.

      Die Grenze, auf der die Wächter standen, verlief durch das gesamte Schiff. Seit fast 200 Jahren bewachten sie diese unsichtbare Linie. Sie würden hier wachen, bis diese Grenze fiel. Die Frage war nur, ob sie bestimmten, wann diese Grenze fiel, oder ob ihnen diese Entscheidung aufgezwungen wurde. Grenzposten B-1.04 befand sich in einem Gang von etwa 20 Metern Breite. Eine meterdicke weiße Markierung zeigte den Ort, an dem Sektion B auf Sektion C traf. Vor langer Zeit sicherten gewaltige Stahltore diesen Übergang. Während des Zwischenfalls schützten sie, wie all die anderen, das restliche Schiff vor dem was in Sektion C geschah. Jahrzehntelang waren sie geschlossen gewesen und die Menschen vergasen was dahinter lag. Doch vor etwa 150 Jahren waren immer mehr dieser Stahlkolosse zusammengebrochen, zerbröckelten innerhalb weniger Monate. Beim Versuch neue Barrikaden auf den neuen zu platzieren stellte man fest, dass die Technik rebellierte. Unzählige Wissenschaftler untersuchten diese Anomalie und versuchten zu verstehen, warum innerhalb der Grenzen von Sektion C alle technischen Geräte scheinbar zufällig funktionierten, ausfielen und ihre Funktionsweise änderten. Es kam zu keinem eindeutigen Ergebnis und da die technischen Probleme nicht gelöst werden konnten wurde einige Meter weiter in Sektion B ein neues Tor errichtet. Um die alte Grenze zu bewachen wurde eine neue Abteilung des Sicherheitsdienstes geschaffen, die Sektion-C-Sicherheit, kurz SCS. Als stille Wächter bewachten sie seit diesem Tag die Grenze.

      Jack Chanssen war einer von ihnen. Vor 8 Jahren hatte er die Sicherheitsakademie mit Bestnoten verlassen und war zur SCS gegangen. Jack hatte gedacht, dass die letzten zwei Jahren der Ausbildung, in denen die Rekruten auf ihre späteren Abteilungen vorbereitet wurden, ihn auf alles kommende vorbereitet hatten. Aber die Theorie unterschied sich von der Praxis. Kein Unterricht konnte das Gefühl vermitteln, dass Jack während jeder seiner Schichten beschlich. Das Gefühl der Ungewissheit, während er ins Dunkle späte. In eine Dunkelheit, die nur wenige Meter vor ihm begann, trotz der starken Scheinwerfer, die in seinem Rücken gegen diese Finsternis ankämpften. Diese unnatürliche Dunkelheit schuf eine Atmosphäre der Anspannung in den Wächtern.

      Jack Chanssen hörte nichts außer seinem Atem und dem Atem seiner Gefährten um ihn herum. Diese Stille, erdrückend in ihrer Last und doch notwendig, schuf eine beständige Atmosphäre der Gefahr. Aber die Stille war besser als die Laute, die beizeiten aus den Tiefen der Sektion drangen. Jack schauerte bei dem Gedanken daran.

      Er wandte seine Gedanken wieder der Aufklärungseinheit, die in einigen Minuten hier eintreffen würde. Soweit er informiert war würde es die 676te Expedition in die verlorene Sektion sein. Abermals würden gute Männer und Frauen ihr Leben riskieren, um mehr über diesen Teil des Schiffes herauszufinden. Ob es diesmal Fortschritte geben würde? Wie viele würden zurückkommen? Wie viele der Zurückgekommenen würden noch bei klarem Verstand sein. Jack wusste es nicht. Er wusste nur, dass er nicht unter ihnen sein würde. Dieses Mal zumindest.

      Dann hörte Jack das Zischen der sich öffnenden Stahltore. Er widerstand dem Drang seinen Kopf zu drehen, sondern starrte weiter ins Dunkle, suchte nach Gefahr. Er hörte Schritte. Es waren 10. Es waren immer 10. Ein Trupp, klein genug, um agil agieren zu können, aber auch groß genug, um eine Bedrohung dar zu stellen. Die Schritte kamen immer näher und als sie nahe genug waren trat Jack einen Schritt nach vorne. Einen Schritt in Sektion C hinein. Seine rechte Kameradin, Noroi Kammens trat zeitgleich mit ihm vor. Nun tat Jack einen Schritt nach links, Noroi einen nach rechts. Sie drehten sich, sodass sie einander ansehen konnten. Jack sah Noroi müde lächeln und erwiderte ihren Blick. Auch ihre beiden Rückenkameraden hatten dasselbe getan, sodass nun ein Korridor zwischen den Wächtern durchführte. Ein Korridor von Sektion B zu Sektion C. Die 4 Soldaten drückten zum Salut ihre Waffen an die Brust, während die 676te Aufklärungseinheit zwischen ihnen passierte. Sie trugen Rucksäcke mit Vorräten und Lampen. Es waren Gaslampen, eine Antiquität, die auf der alten Erde benutzt wurden, bevor es Elektrizität gab. Jetzt hatten sie eine neue Verwendung, in einer Sektion, in der moderne Technik nur unzuverlässig funktionierte.

      Nachdem der Trupp vorbeigezogen war nahmen die Soldaten ihre angestammten Positionen wieder ein. Jack und Noroi schauten den anderen Soldaten hinterher, bis die Dunkelheit sie verschlang.

      Training

      Mit der linken Hand massierte Naomi ihre Stirn und überlegte, wie es jetzt weiter gehen sollte. Ihre Hoffnungen in der neuen Klasse akzeptiert zu werden waren ebenso gründlich zunichte gemacht worden wie in allen Klassenstufen zuvor. Misa und ihr Freund Goron waren zu beliebt und der Rest der Klasse schloss sich entweder ihrer Meinung an, oder hatte schon eine vorgefertigte Meinung über sie gehabt, die sie in ihrer Dummheit auch noch bestärkt hatte.

      Also was tun? Naomi musste härter arbeiten, härter als alle anderen, um bei den Leistungen nicht zurückzufallen. Gruppenprojekte konnte sie wohl vergessen, aber das war schon sehr lange so. Und das wichtigste.

      Sie durfte keine Schwäche zeigen. Egal wie sehr man ihr zusetzte, egal wie viele Beleidigungen sie ertragen musste, sie durfte sich davon nicht beindrucken lassen. Nach außen hin zumindest.

      Wenn Naomi genug leistete würde, nein musste allen klar werden, dass sie nichts mit ihrer Mutter verband. Sie musste sich von ihrer radikalen Ader trennen, musste sich noch weiter abgrenzen. Denn nichts verband sie mit dieser Frau. Gar nichts.

      Sie blickte auf die Uhr. Es war jetzt 11:34 Uhr, also hatte sie noch etwas weniger als eine Stunde bevor die Einheit angewandte Sicherheit bei F-Lieutanant Sargei beginnen sollte. Naomi verließ das Gebäude der vierten Sekundarstufe und schritt zielstrebig auf einen Waldabschnitt auf dem Campus Gelände zu. Dieser Wald stellte ein Teil der Erholungsmöglichkeiten für Studenten dar und Naomi hatte vor zwei Jahren darin eine Lichtung gefunden, die schön abgelegen war. Dort konnte sie alleine ihre Mittagspause verbringen, ohne von irgendwem gestört zu werden. Mehrere Minuten strich sie durch den Wald, bevor sie ihre Lichtung erreichte. Sie war klein, kaum ein paar Quadratmeter groß, aber in ihrem Zentrum lag ein großer, runder Fels, gerade groß genug, um sich darauf zu legen. Naomi vermutete, dass dieser Stein noch von der alten Erde stammte und von den Konstrukteuren des Schiffs hier platziert worden war, auch wenn sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Naomi streckte sich, so gut es ging, auf dem Stein aus und starrte in Richtung Decke. Von der leuchteten die gigantischen Tageslichtstrahler herab und verhinderten beinah die Sicht auf die stählerne Oberfläche, auf der sie montiert waren. Naomi zupfte eine Handvoll Gras aus und zerrieb es langsam