Matthias Hahn

Wächter des Paradieses - Teil 2


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nicht vor ihr, sondern vor der großen Liebe, die er empfand, Angst vor dem Abgrund, in den seine Gefühle ihn zu stürzen drohten, Angst davor, die Kontrolle über sich zu verlieren.

      Und nur zu berechtigt erschien ihm diese Furcht. Die Frau, die er in seinem Traum gesehen hatte, das war nicht seine Angebetete, das war noch nicht einmal ein Mensch, das war eine Fee oder ein Engel. Wollte er sich in eine Sagengestalt verlieben, in eine Ausgeburt seiner Fantasie? Das konnte nur in den Wahnsinn führen.

      In der wirklichen Welt war er ihr gerade dreimal über den Weg gelaufen, soweit er sich erinnerte, und zwar immer nur für einige kurze Momente. Eine dieser Begegnungen war sehr beeindruckend gewesen, zugegeben, aber noch lange kein Grund, verrückt zu spielen.

      Richard blieb stehen und setzte sich auf das Gras am Wegrand. Langsam begann der Eindruck der Erinnerung zu verblassen, er spürte, wie er zurück in die wirkliche Welt fand. Er schaute sich um. Im Westen versank die Sonne hinter dem Horizont und erhellte mit ihren warmen rötlichen Strahlen die Seite des Hügels, auf der er im Traum den Zugang zur Altarhalle entdeckt hatte. Im Norden erkannte er die Hütten des Dorfs, in dem er übernachtet hatte.

      Sein Vorhaben war unsinnig, das wusste er, aber er stieg dennoch den Hügel hinauf, um nach dem Eingang zu suchen. Doch kam ihm die Steigung geringer vor als in seinem Fiebertraum, auch die Büsche und Bäume, die auf dem Hügel wuchsen, wirkten anders. Vielleicht entstand dieser Eindruck, weil er nicht exakt aus der gleichen Richtung auf den Hügel stieg, das Ganze aus einer veränderten Perspektive sah. Viel wahrscheinlicher war allerdings, dass Richard eben doch nur geträumt hatte und der Hügel aus seinem Traum ein anderer war als der Hügel der Realität.

      Richard registrierte, dass es langsam zu dämmern begann. Wenn er wirklich den Eingang zu dieser Höhle entdecken wollte, sollte er ihn besser im hellen Tageslicht suchen. Aber auch dann würde er nichts finden, einfach deshalb, weil es keinen Eingang gab. Doch warum hatten sich dann die Professoren so interessiert an seinem Bericht gezeigt? Hofften Sie vielleicht … ja … die Alte, seine Retterin aus dem Dorf, vielleicht hatte sie tatsächlich Geschichten über einen Engel und über einen Stollen in den Berg erzählt, als sie an seinem Lager gewacht hatte. Und deshalb hatte er diesen Gang auch in seinem Traum gefunden, genauso, wie er den Engel gesehen hatte, wenn auch in Gestalt der Frau, die er heimlich liebte. Aber hieß das im Umkehrschluss, dass auf diesem Hügel tatsächlich ein Tor in die Unterwelt auf seine Entdeckung wartete? Selbst wenn es früher einmal existiert hatte, müsste es inzwischen nicht längst verschüttet worden sein, unter tausenden Tonnen Erdreich begraben? Was genau erhofften sich die Professoren?

      Aber diese Frage konnten nur Papadopoulos und Kilic selbst beantworten. Inzwischen müssten sie sich wieder im Lager eingefunden haben, vermutete Richard. Außerdem erinnerte ihn ein leichtes Schwindelgefühl daran, dass er seine Kräfte noch schonen musste. Und so machte er sich auf den Weg zurück ins Lager.

      Doch die Professoren befanden sich nicht an der Grabungsstätte. Niemand hatte sie gesehen, und sie hatten sich auch nicht abgemeldet.

      „Kein Grund zur Beunruhigung“, meinte Sophia. „Das kommt ab und zu schon einmal vor. Manchmal fahren sie für einen oder auch zwei Tage nach Saloniki oder nach Istanbul, ohne sich abzumelden, um die dortigen Bibliotheken nach Veröffentlichungen zu durchsuchen.“

      „Die vertiefen sisch so in ihre Forschungen, dass sie alles um sisch ’erum glatt vergessen“ bemerkte Victor und blickte Sophia tief in die Augen. „Das ist ja im Prinzip auch sehr verständlisch, allerdings nur, wenn es sisch um das rischtige Forschungsobjekt ’andelt.“

      Richard wartete geduldig ab, bis sich die beiden lang und innig geküsst hatten. Schließlich löste sich Sophia aus der Umarmung und wandte sich Richard zu.

      „Du siehst wieder viel besser aus“, stellte sie fest und berührte seine Wange. „Man kann fast nichts mehr erkennen. Nur noch einen kleinen roten Strich.“

      „Aber ich fühle mich noch ziemlich schwach.“

      „Du warst in dem Dorf, ’abe isch ge’ört?“

      Richard nickte. „Ich hatte dort einen Fieberanfall. Ich glaub’, es war ziemlich knapp. – Haben euch Kilic und Papadopoulos von einem Gang erzählt, bevor sie verschwunden sind?“

      „Was für einen Gang?“, hakte Sophia nach. Offenbar waren die beiden von den Professoren nicht informiert worden.

      „Einen Gang, der in die Halle der ‚Schwarzen Bogomilen’ führt“, erklärte Richard. „Ich bin in ihn hineingestiegen.“

      „Was?“ Den beiden standen die Münder offen wie die von Säuglingen in Erwartung der Mutterbrust.

      „Es war nur ein Traum“, dämpfte Richard die Überraschung der beiden. „Das glaube ich zumindest. Ich hatte hohes Fieber gestern Nacht, ich kann nicht mehr sagen, was wirklich geschehen ist und was nicht, und gerade eben, als ich wieder nach dem Eingang gesucht habe, konnte ich ihn nicht finden. Aber ich habe Papadopoulos und Kilic davon erzählt, und sie fanden die Geschichte äußerst interessant.“

      „Dann sind sie bestimmt nach Saloniki gefahren und durchwühlen dort die Bibliothek.“

      „Aber warum ’aben sie dann nischt gewartet, chérie, bis Rischard wieder gesund ist, damit er ihnen den Gang zeigt?“

      „Weil sie die Zeit nutzen wollten. Wenn sie einer so heißen Sache auf der Spur sind, dann verlieren sie keine Sekunde.“

      „Na, dann werden sie wohl morgen früh wieder zurück sein“, folgerte Victor. „Wenn nischt, dann machen wir uns selbst auf die Suche nach diesem Gang, mein lieber Rischard.“

      *

      „Ich werde auf keinen Fall noch eine Nacht hier bleiben.“ Günther Mehl bedachte Richard und seine beiden Freunde mit einem strafenden Blick aus müden Augen.

      „Wo hast du denn übernachtet, mein armer chéri?“, fragte Sophia etwas übertrieben teilnahmsvoll. „Vielleicht gibt es ja einen ruhigeren Platz für dein Zelt.“

      Günther ignorierte ihren spöttischen Ton. „Ich habe kein Zelt“, erläuterte er vorwurfsvoll. „Ich dachte, dass wir gestern Abend schon nach Saloniki zurückfahren würden. Ich habe die ganze Nacht im Freien verbracht.“

      „Es ist sischer noch eine Ecke in unserem Zelt frei“, schlug Victor vor. „Es ist zwar etwas eng …“

      „Nein, danke!“, unterbrach ihn Günther. „Ich kann in einem Zelt nicht einschlafen. Tut mir Leid, ich bin nun mal nicht für ein Leben hier draußen geschaffen. Also, pack deine Sachen, Richard, aber hurtig, wir fahren in dreißig Minuten.“

      Richard wollte protestieren, überlegte verzweifelt, wie er noch ein paar Stunden herausschlagen konnte. Zum Glück kam ihm Victor zu Hilfe.

      „Rischard kann doch auch mit mir fahren. Ich muss morgen sowieso für ein paar Tage nach Saloniki, da kann isch ihn doch mitnehmen.“

      Günther zögerte einen Moment, bevor er nickte. „Aber auf deine Verantwortung, Richard, auf deine Verantwortung.“

      *

      „Hier war es. Hier irgendwo.“

      Richard sah sich um. Sie standen auf halber Höhe des Hügels, auf der nordwestlichen Seite, dort, wo Richard in seinem Traum die Höhle gefunden hatte. Wieder hatte er den Eindruck, dass die Landschaft nicht genau dem Bild glich, das er in seinem Fieberanfall wahrgenommen hatte. Der Hang erschien ihm weniger steil, er sah deutlich weniger Büsche und Bäume, auch der Grasbewuchs wirkte im hellen Sonnenlicht des späten Vormittags deutlich spärlicher. Und schließlich, und das war natürlich das Entscheidende, von einem Eingang in die Unterwelt war nichts zu entdecken.

      Sophia prüfte die Festigkeit des Erdbodens mit ihren rustikalen Schuhen. „Nichts“, meinte sie schließlich.

      „Vielleischt sollten wir woanders suchen“, schlug Victor vor.

      Sie stiegen langsam den Hügel hinunter, Richtung Dorf, untersuchten das Terrain auf das Gründlichste und ließen keine