Matthias Hahn

Wächter des Paradieses - Teil 2


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immer so schrecklisch direkt.“

      Kapitel 8: Wieder in Würzburg

      Am nächsten Morgen fuhr Richard nach Deutschland zurück, mit einer Buslinie, die wegen ihres günstigen Preises vor allem von griechischen Gastarbeitern genutzt wurde. Der Bus war dementsprechend überfüllt. Richard gelang es nur mühsam, für sich und seine Reisetaschen noch ein kleines Stehplätzchen im Mittelgang zu ergattern. Der Lärmpegel war erschreckend hoch, wesentlich schrecklicher empfand Richard allerdings die unterschiedlichsten unangenehmen Gerüche, die seine Leidensfähigkeit auf eine nur schwer zu bestehende Probe stellten. Sein einziger Trost war der Gedanke, dass er sich nicht schämen musste, wenn er ebenfalls schon ein bisschen müffelte, denn infolge seines Fiebers und der fehlenden Waschgelegenheiten waren beide Hosen, die er mitgenommen hatte, nicht mehr die frischesten, um es vorsichtig auszudrücken.

      Auch die Federung des Busses erwies sich als recht mangelhaft, und so verbrachte Richard anderthalb weitere nicht gerade angenehme Tage. Zum Glück boten ihm zwei seiner Mitreisenden freundlicherweise für jeweils einige Stunden ihre Sitzplätze an, und so konnte sich Richard wenigstens für kurze Zeit in einer etwas bequemeren Position entspannen.

      Victor hatte ihm zum Abschied die Dechiffrierung des Originaldokuments aus Martin Finks Akte in die Hand gedrückt. Dieses zog er nun aus der Tasche und studierte es eingehend. Tatsächlich schien so ungefähr jedes vierte Wort einen Sinn zu ergeben, falls der Text in Latein verfasst worden war. Aber einen Zusammenhang dieser Worte konnte Richard nicht erkennen, schon allein, weil er viel zu übermüdet war. Also legte er das Dokument bald wieder beiseite und schloss erschöpft die Augen.

      An Schlaf war allerdings nicht zu denken, und als er schließlich irgendwo zwischen Trient und Bozen dennoch ein paar Mal einnickte, erschienen ihm wirre Bilder aus seinem Fiebertraum, nur dass es ihm diesmal ein wenig übel wurde, als ihm die Schöne die Medizin mit ihrem Mund einflößte, was Richard auf das Wackeln und Schaukeln des Busses zurückführte.

      In München stieg er in einen ähnlich überfüllten Regionalzug um und erreichte zur besten nachmittäglichen Berufsverkehrszeit den Würzburger Hauptbahnhof, und so wurde auch der Weg durch die wuselnden Menschenmassen zur nicht weit entfernten Straßenbahnhaltestelle zu einer Qual. Zum Glück wartete gerade eine Straßenbahn. Mit letzten Kräften schleppte Richard sich und sein Gepäck zur Bahn, doch gerade in dem Moment, als er den leuchtenden Türknopf betätigte, verlosch dieser, und alles Drücken war umsonst, ebenso Richards Versuch, Kontakt mit dem stoisch nach vorn blickenden Fahrer aufzunehmen. Die Tür blieb verschlossen. Verdattert starrte Richard der etwa eine Minute später abfahrenden Straßenbahn hinterher, und er wusste, er war wieder in Würzburg.

      „Jemand zu Hause?“

      Richards Frage verhallte ungehört. Anscheinend waren seine beiden Mitbewohner gerade unterwegs. Er duschte ausgiebig, um Schweiß und Schmutz der Reise zu entfernen, dann betrachtete er im Spiegel sein Gesicht. Tatsächlich, auf seiner Wange war nur noch ein kleiner roter Strich zu sehen. Zu müde, sich sowohl über diese wunderbare Heilung als auch über seine restlichen Reiseerlebnisse länger Gedanken zu machen, schrieb er noch eine Notiz mit der Nachricht „Bin wieder da, Richard“ auf einen Zettel und legte ihn auf den Küchentisch. Dann schleppte er sich in sein Bett und schlief sofort ein.

      *

      Als er aufwachte, befand er sich nicht mehr in seinem Zimmer. Der Untergrund besaß nicht die Nachgiebigheit seiner ausgeleierten Matratze, er war hart wie Stein. Richard konnte nichts erkennen, völlige Dunkelheit umgab ihn, aber mit seinen Händen konnte er fühlen, dass er auf einer granitenen Platte lag. Mühsam richtete er sich auf. Vor ihm gähnte eine düstere Öffnung in der Wand. Und darüber schimmerten geheimnisvolle Schriftzeichen in kaltem Glanz. Er befand sich in der Altarhalle, erkannte er, er saß auf dem Blutaltar der „Schwarzen Bogomilen“.

      Um ihn herum herrschte tiefe Stille. Wie war er hierher gelangt? Vorsichtig glitt er von der Platte und tastete sich zur Öffnung. Diesmal nahm er sich Zeit, die Schriftzeichen näher zu betrachten. Es war verwirrend, denn als er genauer hinsah, um den Sinn der Zeichen zu enträtseln, da bemerkte er, wie sie sich veränderten, wie sie von unbekannten Glyphen zu griechischen Buchstaben mutierten, allerdings seltsam verschnörkelt und deshalb nur mit Mühe als solche zu identifizieren. „Gnothi seauton“ las er, „Erkenne dich selbst“. Was hatte das zu bedeuten? Richard tastete sich in den Gang. Zuerst umgab ihn völlige Dunkelheit, dann sah er den vertrauten orangefarbenen Schimmer, und als er um eine Biegung trat, da erblickte er sie, seine Schöne, wie sie mit dem Rücken zu ihm ihren leuchtenden Stab in die Höhe hielt und geheimnisvolle Beschwörungsformeln murmelte.

      Langsam ging er auf sie zu. Sie spürte seine Anwesenheit und drehte sich um. Ihre zarte Hand berührte seine Schulter. „Sotir“, hauchte sie mit ihrer engelhaften Stimme, dann führte sie ihn zurück in die Halle und bedeutete ihm, sich wieder auf den Altar zu legen. Richard zögerte, er spürte, dass das nicht richtig war, dass er ihr nicht gehorchen durfte, dass er besser versuchen sollte, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Sie bemerkte sein Zögern und lächelte ihr unvergleichliches Lächeln, dann wies sie erneut auf den Altar. Diesmal folgte Richard ihrer Aufforderung. Sie setzte sich neben ihn, nahm eine kleine rote Frucht aus einer Tasche ihres Gewandes, hielt sie in die Höhe und begann zu singen, dieselbe wunderschöne Melodie, die er während seines Fiebertraums vernommen hatte. Er spürte, wie ihn diese Melodie verzauberte, wie der harte Stein des Altars sich in unendliche Weichheit verwandelte, er glaubte zu schweben auf einer Wolke des Glücks. Dann nahm sie die Frucht in den Mund und zerkaute sie. Richard erschauderte vor Wonne, als ihre Lippen die seinen berührten, als ihre Zunge den Brei in seinen Mund schob.

      Doch diesmal fühlte er keine heilende Wirkung. Er verspürte ein Aufwallen von Hitze, erst schwach, dann immer heißer und heißer, bis sein Mund brannte, als hielte er glühende Kohlen zwischen den Zähnen. Erschrocken riss er die Augen auf, die er zuvor in Erwartung des Kusses geschlossen hatte. Ihr Antlitz schwebte über ihm, aber nicht länger lieblich und von unendlicher Schönheit, sie zeigte ihr anderes, furchterregendes Gesicht. Ihre Augen glühten böse in rotem Schimmer. Er versuchte sich loszureißen, zu schreien, doch sie hielt ihn unerbittlich fest und hörte nicht auf, ihn zu küssen, erstickte jede Gegenwehr und jeden Schrei. Immer unerträglicher wurden Schmerz, Grauen und Entsetzen, bis Richard seine schwindenden Kräfte zusammenraffte, zu einem letzten Versuch, sich zu befreien, sich aufzubäumen gegen sein Schicksal … und es gelang. Sie war verschwunden, von einem Moment auf den anderen, seine Lippen waren frei, sein Mund leer, und das Brennen verebbte. Er war allein, gedämpftes Tageslicht drang durch die Jalousie vor dem Fenster seines Zimmers. Er lag in seinem Bett. Alles nur ein Traum. Schwer atmend richtete er sich auf und blickte auf die Uhr. Kurz vor elf. Höchste Zeit aufzustehen.

      Diesmal wusste er, dass es ein Traum gewesen war und nicht Realität. Obwohl ihm wiederum alles so schrecklich wirklichkeitsgetreu vorgekommen war, war er sich dennoch sicher, dass er nur geträumt hatte. Gott sei Dank. Denn dieses Mal verspürte er keinen Wunsch, dass die Erlebnisse von eben Wirklichkeit sein sollten. Es war schlimm genug, davon auch nur zu träumen.

      Aber hieß das im Gegenschluss, dass sein Fiebertraum in der Hütte der Alten vielleicht doch keine Einbildung gewesen war? Richard schüttelte unschlüssig den Kopf. Wenn schon ein normaler Albtraum so erschreckend real wirken konnte, musste ihm dann ein Fiebertraum, der seine Sinne sicherlich weit stärker in Mitleidenschaft gezogen hatte, nicht noch wesentlich realer erscheinen?

      Richard beschloss, von weiteren unfruchtbaren Gedanken Abstand zu nehmen, kleidete sich an und betrat die Küche.

      Ein Duft nach frischem Kaffee empfing ihn. Der Tisch war gedeckt, mehrere Wurst- und Käsesorten standen neben frischer Butter und Marmelade. Doch niemand war anwesend. Aber noch während Richard die Bedeutung dieses neuen und unerwarteten Anblicks zu deuten suchte, hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte. Tabea trat ein, eine Tüte mit frischen Brötchen in der Hand.

      Sie schauten sich schweigend einige Sekunden an, bevor sie sich umarmten.